ZEITSCHRIFT
KUH
DEUTSCHES ALTERTUM
UND
DEUTSCHE UTTERATUR
hekausgegew-.n
VON
EDWARD SCHROEDER UND GUSTAV ROETHE
NEUNUNDVIERZIGSTER BAND
DER NEUEN FOLGE SIEBENUNDDRE1SS1GSTER BAND
BERLIN
W KIDÄ1ANNSCHE BUCHHANDLUNG
1908.
->' La>-
3003
2
INHALT.
Seite
Ulrich von Lichtenstein als lyriker, von Brecht 1
Tübinger Parzivalbraehstöck von Bohnenberger und Benz .... 123
Kin Winsheke-frnijmeiit der Universitätsbibliothek Münster, von Bömer 135
Ein Ulfilas-stempel, von Henning 146
\Valtheriaii3, von Fischer 154
Arolser bruchstück vom i buche des Passionais, von Schröder . . . I.V.)
Eine Vagantenliedersammlung des 14 jh.s in Herdringen, von Bömer . 161
Ragnarök in der Völuspa, von Niedner 239
Ein Göttinger Wigaloisfragment, von Schaall's 298
Winileodes, von Jostes 306
Aisl. edda 'urgrofsmulter', von Neckel 314
Handgenial und Schwurbruderschaft, von Schönhoff 321
Zu s. 353 IF (hantgemal in der Kaiserchronik) von Schröder . 3G2
Mittelhochdeutsche frauengebete in Upsala, von Psilander .... 363
Mitteldeutsche wechselstrophen und Scherzlieder, von dems. . . . :'>"ti
Posener bruchstück der Ghristherre-chronik, von Wundrack . . . . 381
Walthers zweites tagelied, von RMMeyer 386
Zwei ungedruckte mystiker-reden, von Pahncke 395
Über Wolframs ethik, von Ehrismann 405
Arolser bruchstück des Willehalm, von Schröder 466
Parzival 399, 1, von Wilmanns 467
Zum Alexanderlied, von dems 468
Nnnnenstöl und Brunhildenstuhl, von Henning 46!)
Lückenbüfser : balkon, von Schröder 484
Über die herkunft und bedeutung der german. bildungssilben ag, ig
und Hk, von PSchmid 485
ULRICH VON LICHTENSTEIN ALS LYRIKER.
Das material der vorliegenden Untersuchung bilden die
5S lieder Ulrichs von Licntenslein , die in seinen Frauendienst
eingelegt sind, überliefert sind sie in der einzigen FD-hand-
BCbrift L (in München, daher auch als M bezeichnet) und in der
grofsen liederhandschrift C. C gibt die Strophen in derselben
reihenfolge wie L, hat also höchst wahrscheinlich aus einer
FD-hs. geschöpft l. für wenige liederstrophen (lied xu) kommen
controllierend die Heidelberger hs. A (357) und die Naglerschen
fragmenle C" in belracht. aufser den liedern bah ich ge-
legentlich Ulrichs lyrisch- didaktische 3 hilchlein herangezogen,
die ebenfalls in den KD eingefügt, aber nur in L überliefert sind.
Ich habe den teil zu gruncle gelegt, den Lachmann in
seiner gesamtausgabe Ulrichs (Berlin 1841) gegeben hat. die von
Bechstein in seiner commentierten ausgäbe des FD (Leipzig 188S)
vorgeschlagenen änderungen sind so gut wie durchweg zu ver-
werfen.
Die aufgäbe der Untersuchung ist die erkenntnis der lyrik
Ulrichs in ihrem individuellen kunstcharakter. was hat er für
eine Vorstellung von einem gedichte gehabt? das ist die general-
frage, welcher Stoff erscheint ihm poetisch? wie sieht er, durch
seine natur und begabung determiniert, diesen — meist unbe-
wußt ausgewählten — sloff an? welche formen der anordnung
des Stoffes, welche gedankenketten und empfindungsreihen liegen
ihm am nächsten und werden allmählich für die disponierung
seiner gedichte mafsgebend? welche stilmitlcl stelin ihm zu ge-
böte, um durch nilancierung der rede und durch enlfallung einer
von innen heherschten , streng stilisierten dichtersprache seine
lieder im einzelnen zu dem zu machen, was sie geworden sind?
nach allem : wie ist die menschlich-dichterische persönlichkeit
1 C enthält einige lieder, die in L fehlen : xxxvn, von dem in L nur
Überschrift und erste zeile erhalten sind, stand mit auf zwei verloren
gegangenen blättern der hs. , die aufserdem den anfang der Artusfahrt von
1 24t) enthielten, vgl. Lachmanns anm. zu FD 449, 12; Bechstein n 172 aom.
lvii und lviii dagegen sind in L ohne äufsere erkennbare lücke ausgefallen,
während die vorläge von C an dieser stelle sie bewahrt haben muss. vgl.
Lachmann zu 582, 3 und Bechstein n 311 anm. — über zwei in C fehlende
Strophen, die unrechtmäfsig in das xxiv-lied geraten sind (FD 421,17 f), siehe
unten in cap. n s. 38.
Z. F. D. A. XLIX. N. F. XXXVII. 1
2 BRECHT
beschaffen, die sich in diesen 58 gedienten aus den jähren 1222
bis 1255 vor uns entwickelt?
Die Untersuchung richtet sich demgemäfs auf die motive, die
compositiou, den stil des poetischen ausdrucks, die literarhisto-
rische Stellung Ulrichs und seinen Charakter.
Wenn man vom ersten und letzten teil absieht, die vom in-
halt ausgehn und zum gehalt zurückkehren, ist es wesentlich die
innere form der lyrik Ulrichs, mit der sich die gegenwärtige
arbeit beschäftigt, daher fehlen hier die behandlung der metrik l
und die Untersuchung der spräche als solcher, auch die schwie-
rige frage nach den gattungen seiner lyrik, die nur im zusammen-
hange mit metrischen und musikalischen erwägungen zu lösen
ist, ist nicht beantwortet worden, nur um den lyriker Ulrich
handelt es sich, nicht um den autobiographischen erzähler; daher
sind die vielen probleme, die sein äufseres leben und dessen einr
seitige darstellung im FD bietet2, nur insoweit angerührt worden,
als sie für die entwicklung seiner lyrik in betracht kommen.
Fragen der einzelinterpretation werden bei gelegenheit im
zusammenhange der Untersuchung behandelt, auch hier hat Bech-
steins ausgäbe nicht geleistet was man von einer commentierenden
edition erwarten darf3, eine gesonderte ausgäbe der lieder würde
dem nicht immer gleichmäfsig verständlichen lyriker erst sein volles
recht gewähren.
ERSTES CAPITEL.
MOTIVE.
i Lieder der ersten m i n n e.
1222/23 — 1231/32.
Die ersten lieder zeigen Ulrich in pagenhafter Verehrung
seiner dame, wie es bei seiner Jugend, 22 jähren, nicht anders
zu erwarten ist : er gelobt sich für immer ihrem dienste. am
1 beträchtliche vorarbeiten sind namentlich von Knorr (Zu Ulrich
vLichtenstein QF ix, Abschn. n 2) und Weifsenfeis (Der daktylische rhythmus
bei den minnesängern §§ 103. 120. 415 uö.) geliefert worden.
2 vgl. v Falke Geschichte des fürstl. hauses Liechtenstein i, abschn. n.
RBecker Wahrheit u. dichtung in UvL.s Frauendienst. Schönbach in der ADB,
der Zs. 26, 307 (T und in den Biographischen blättern n 15 ff.
3 allerlei vorschlage, die gröstenteils widerherstellung Lachmannscher
laa. gegenüber Bechstein bezwecken, macht (neben vielen sacheiklärungen)
Schönbach Zs. f. d. ph. 28, 198 ff.
ULIUCII VON LICHTENSTEIN 3
schluss des ersten lietles fällt schon das Blichwort, das bis zum
letzten für seine lyrik bezeichnend bleibt:
Höhen muot ich von ilir hän — (18, 26).
hochgefühl, beschwingte Beelenstimmung ist »bis erste und das
letzte, das er von der miune verlangt, dessen wert zu preisen er
niemals müde wird (schon im in liede 58, 30 widerum). gleich-
falls einen bis zuletzt bedeutsamen zug bringt das n lied hinzu:
lebhafte Sinnlichkeit, die anmutig verhüllend den letzten wünsch
ausspricht, er muss den tag loben, an dem er einzig die ge-
lieble sieht : wie gern priese er die nacht! ' sucht er hier wie
ein erfahrener zu sprechen, so offenbart das m lied die ganze
kindlichkeit seiner höfischen Verehrung:
Dö ich erste sin gewan,
dö riet mir daz herze »tin,
Ob ich immer umrd ein man,
so solle ich ir ze dienste sin — (58, 12),
gerade wie das in seiner jünglinghallen Unsicherheit liebenswür-
dige i büchlein (47, 1 mine tumben jungen tage; 47,6; 55,22). jetzt
ist er endlich so weit, seinen vorsalz ausführen zu können, und
von vornherein zeigt sich seine streng aristokratische auffassung:
mit aufserster Verachtung spricht er sich gegen die niedere minne
aus, und in deutlicher anlehnuug an den classiker der hohen
minne, Reinmar den alten, preist er die freudenreiche sorge, die
sie gebe (59, 5).
Diese vier productionen sinil die ausbeute seines ersten
dichterjahres (1222/23). drei wichtige elemente seiner lyrik sind
darin schon deutlich ausgeprägt vorhanden, es fehlt noch ein
sehr bedeutsames, das Verhältnis zur natur.
Dies bringt das nächste jähr 1224, in dem Ulrich ein früh-
lingslied und ein winterlied gedichtet hat. beide gehören inhalt-
lich und formal als pendants zusammen, das vierte lied — es
ist das berühmte In dem wähle süeze dorne — geht nach alter
weise sogleich von der ganz kurzen nalurschilderung zu dem ihr
parallelen seelenzusland des dichters über, der sich glück dazu
wünscht, wenigstens die hoffnung auf erhörung sein eigen nennen
zu dürfen, und sich davor fürchtet, vielleicht aus der illusion
1 vgl. in ßotenlaubens iv tageliede slr. 2 vers 7:
JSahl git senfte, we tuot tac.
(Bartsch Liederdichter s. 125 v. 61. .MSH i 32).
4 BRECHT
gerissen zu werden; der mai gilt ihm nichts ohne die liebe guole.
in der tat verbittet sich schon zu anfaug des winters seine dame
die hotensendungen, durch die er ihr bisher seine lieder hat zu-
kommen lasseu (FD 102, 22 f). traurig reitet er weg und dichtet
das fünfte lied, in dem er den nahenden winter verflucht, aber
die hoffnung noch nicht aufgibt, bekümmert fragt er:
Vrowe, liebiu vrowe min,
warwnbe bistu mir gehaz?
und erinnert sie an seine stete Verehrung von kindesbeinen an.
Im sommer des nächsten Jahres (1225) reitet er von einem
Brixener turnier mit zerstofsenem finger zu einem arzte nach
Bozen, im saltel tröstet er sich durch ein lied (vi), in dem er
sein misgeschick beklagt und um Gottes willen — ein ihm stets
naheliegender zug — um erhörung fleht, sein leid hindert ihn
jedoch nicht, auf dem krankenlager in Bozen einer unbekannten
dame zuliebe, die ihm leclüre (vier büechelhi) zusendet, einen
deutschen text zu einer von ihr ebenfalls überschickten auslän-
dischen (wol italienischen) melodie zu dichten, der im lebhaftesten
allegro, fast ausgelassen, sein liebliugsthema, lebensfreude durch
frauenliebe, behandelt (vn). endlich treibt er auch wider einen
boten auf, den er an seine herrin sendet, mit der mitteilung, er
habe ihretwegen einen finger verloren, und mit einem ihrer
standhaften Weigerung gegenüber recht unverschämten, aber in
seiner leidenschaftlichkeit starken liede (vin). er habe sie ja schon
längst gefangen und in den kerker seines herzens gelegt, dort
behandle er sie, wie ein ritler seinen vornehmen gefangenen be-
handelt, zwei andere gefangene liegen da mit ihr zusammen, sein
smerze und sein klagende leit. nur wenn sie lösegeld bezahlt, hat sie
aussieht, mit diesen beiden zusammen freizukommen; aber nicht
silber unde golt kann sie erlösen: ich wil nihl wan ir minnen
soll (vm). diese deutliche spräche hat die entgegengesetzte wür
kung : mit zorn weist die dame den boten von sich.
Er ist weit entfernt, sich dadurch beirren zu lassen, auf
dem rückwege von Born, wo er (im winter 1225/26) mit dem
knappen der ihm als böte dient zwei monate geweilt hat, singt
er ihr widerum ein lied, dem man anmerkt, wie recht ihm ihre
sprödigkeit kommt, um mit seiner unerschütterlichen treue zu
glänzen, an den bei den minnesingern obligaten gedankeu, der
mai tröste alle, nur nicht den liebeskranken dichter, knüpft er
ULRICH VON LICHTENSTEIN 5
die nochmalige dringende bitle, die litrrin möge sieh besser be-
denken, der fromme schluss verrät, auf welcher fahrt er sich
befindet : auf 'Gottes wege' solle man frauenlob nicht siegen,
heifst es; so wendet er sich denn zum gebet und empfiehlt sie
der mutter Gottes (ix, gedichtet nach 19. 4. 26). aber auch dies
lied hat ebenso wenig erfolg wie ein im herbst desselben Jahres
gedichtetes, ein dialog zwischen Ulrich und der frau Minne, die
den klagenden beschwichtigt, ermahnt und vertrustet (x; frau
Minne schon 114, 15f, in vn, erwähnt).
Diese poetische Vorstellung muss in Ulrich volle dreiviertel
jähre lang sehr lebendig gewesen sein, noch im herbst 1226
sendet er seiner dame ein biichlein (das zweite, FD s. 142), das
wider um einen dialog zwischen ihm und frau Minne darstellt und
im wesentlichen gedankengang und gesprächsverlauf des vorher-
gehnden liedes widerholt (vgl. bes. 146, 31 — 148, 2 mit lied x,
str. 4 u. 6). am 1 juni dichtet er eine singweise (xi), deren an-
fang sich unmittelbar auf das x lied zurückbezieht.:
Vil salic Minne, hab ich nu getdn
Den dienest den din gewalt mir gebot — .
zwischen dem zweiten biichlein und dem xi liede ligt Ulrichs
ritterfabrt von Mestre bis ins Mährische (25 märz bis 26 mai 1227),
bei der er als frau Venus verkleidet speerebrechend zur ehre
seiner herrin durchs land zog. der einfall muss wol mit den
gediebten die seine ausfiihrung umgeben, zusammengebracht
werden, jedoch ist kaum anzunehmen, dass der gedanke der
Venusfahrt schon lange in ihm vorgespukt habe; wol aber ist
einem so phantastischen köpfe zuzutrauen, dass er eine solche
idee fasste, wenn er einmal sein innenleben einige zeit intensiv
auf die personification der frau Minne (vgl. lied x u. biichlein n)
gerichtet hatte1, hatte ihm im x liede frau Minne das klagen
verwiesen, da sein bisheriges ausharren noch nicht der rede wert
sei, und ihn zu weiterer geduldiger Pflichterfüllung ermahnt, die
ihm noch den erhofften lohn einbringen werde, so fordert Ulricb
jetzt, nach der Venusfahrf, im xi liede nachdrücklich diesen lohn
von ihr, da er alles getan habe, was sie verlangte, gleichzeitig
wendet er sich an alle frauen, deren sache er soeben — nämlich
auf der Venusfahrt — vertreten habe, sie möchten ihm das gemüt
(Reinm
1 lvro Minne und vro Venus wurden als identisch gefühlt' Roethe I
nar vZweter s. 215, mit beispielen).
6 BRECHT
seiner herrin geneigt machen, von der er niemals zu lassen sich
fest vorgenommen habe, er fasst hier zum ersten male echt höfisch
seine liebesangelegenheit als sache des ganzen weihlichen ge-
schlechtes auf, dessen corpsgeist schon seine erhörung erheische:
auch dies offenbar eine nachwürkung der Venusfahrt, die allen
miunegewährenden frauen zur ehre ergangen war (vgl. FD 163
zeile 4 — 10); der hegriff aller guoten wibe (FD 164 zeile 13) war
ihm von daher geläufig.
Dies lied macht nach Ulrichs Schilderung (FD 323, 8(T) nun
doch eiudruck auf die herrin, sodass sie ihn zu sehen hegehrt,
und ihn, als armen aussätzigen verkleidet, auf ihre hurg lädt,
was ihm dort alles zuslöfst (14. 6. 27.) , wird hier als hekannt
vorausgesetzt, wie weit auch die romanhafte einkleidung gehn
möge, der kern der erzählung, eine raffinierte ahvveisung, bleibt
beslehn. als bald darauf trotzdem wider eine anknüpfung ge-
lungen ist, und die dame als weiteren treuebeweis — in Wahrheit
vvol, um ihn loszuwerden — eine kreuzfahrt von ihm verlangt,
setzt er sich hin (381, 5 ff) und verfasst wider ein (drittes) büch-
lein, und ein lied, die er zusammen an sie gelangen lässt. beide
gehören in der tat eng zusammen, mit den drei letzten fröhlichen
versen des liedes schliefst auch das büchlein, gedanken des liedes
sind mehrfach im büchlein näher ausgeführt, spielende Wendungen
werden widerholt 1. freudigen herzens wünscht er sich selbst
glück zu seinem ausharren trotz aller abweisungen, versichert
von neuem seine treue und lässt die hoffnung nicht fahren.
Trotz allen tiraden bemerkt mau aber von jetzt an sehr
deutlich, ohne dass Ulrich es im märe irgendwie ausspräche, dass
1 394, 26 Min hende ich valde , vgl. im Büchlein 389, 5 Min hende
valde iu, vrowe min, ich — ; 395, 1 Und also griieze vgl. 393, 2 — 23 : ez
ist ein tugentlicher gruoz — den er mit dem küsse als ihren segen für
die kreuzfahrt ersehnt, die ehrenden attribute, mit denen er höchst reizvoll
die fünf Strophenschlüsse seines liedes ziert, kehren viermal, doch in per-
mutationen, im büchlein als abschlüsse von Sinnesabschnitten wider, die
attribute der fünften Strophe bringt er, indem er am schluss des büchleins
die drei schlussverse des liedes ganz widerholt. also : 384, 18 si liebe, si
reine, si here : 394, 20 si reine, si scelic, si here. — 386, 21 si liebe, si
reine, si guote : 394, 25 si liebe, si aotc. — 389, 4 si liebe, si reine, si
siieze : 395, 3 si liebe, si siieze. — 391, 19 st liebe, si guote, si reine
: 395, 8 si guote, si liebe, si reine. — 394, 7 si schäme, si cläre : 395, 13
si schcene, si cläre. (394, 5 — 7 = 395, 11 — 13).
ULIWCIl VON L1CHTEINSTE1N 7
sein heroischer eifer der herrio zu dienen und Beine böflft hi
Deigung allmählich nachlassen.
Im winler 1227 auf 1228 findet ihn sein böte, der von der
geliebten zurückkommt, unerwarteterweise in Wim, wo er sich
in vornehmer damengesellschafl bewegt dl» 3!)t>, 7(T); und die ihm
sehr erfreuliche botschafl, die dame wolle ihn Behen, hält ihn
nicht ab, von Wien ;his frowcu sehen in diu laut zu reiten, nur
aus diesen erlebnissen erklärt sich die eigentümliche vierte Strophe
des bald darauf im früliling 122s lilr die herrin gedichteten
mailiedes:
Ob ich nilit geniezen kan
dflner gilete und der langen statte min,
So lä mich vil sehenden man
der geniezen den ich durch den willen dtn
Sol und muoz yedienen vil.
daz sint eil in guotiu tcip, der Hp ich immer
e'ren wil,
und die folgende schlussslrophe, in der der dame die güle aller
guolen wibe als vorbild liiu gestellt wird; ihnen zuliebe möge sie
ihn erhören, hiermit wird das motiv des xr liedes, dessen ent-
Btehung ich vorhin erklärt zu haben glaube, mit stärkerer be-
lonung wider aufgenommen; es entwickelt sich von nun an in
fast allen folgenden liedern seines ersten minneverhältnisses, wie
denn die lieder bis zum herbste 1231 untereinander und mit
seinem leben in enger beziehung slebn.
Auf sein gleichzeitiges höfisches leben, dessen alleiniger in-
balt in fröhlichen lurnieren und in der höfischen Unterhaltung
mit frauen bestellt, spielt unverkennbar sogleich der anfang des
nächsten liedes, einer lanzweise (xiv), wieder an:
Oae daz ich bi den wolgemuoten (nämlich d. gesellscbafl)
also lange muoz beliben ungemuot,
sowie der scbluss sieb widerum an seine jetzige Umgebung, guotiu
wip, wendet, vor der Ungnade seiner herrin llüchlet er sieb
trotzig-resigniert in das ihr unzugängliche reich des Wunsches.
was er sieb im gründe von ihr wünscht, verschweigt er : nur
ihren kuss und ihren grufs wünscht er sieb (die balle er schon
im in büchlein s. 392, 221' ersehnt), und dass sie ihm endlich ins
beiz seben möge, zwar gibt er sieb (letzte Strophe) den anschein,
als ob er immer noch an ihre gute glaube, aber schon kommt
8 BRECHT
ihm der wünsch, anderswo Iröst für truren zu suchen; hastig
unterdrückt er ihn (401, 9 f). doch schon im nächsten liede (xv,
frühling 1229) ist er wider da (403, l)1. es hat seine cavaliers-
eitelkeit verletzt, dass man ihn nicht mehr so munter (fruot 402,28)
findet wie vordem, sein ewiges klagen beginnt zu langweilen, da
ihm bezeichnenderweise alles daran ligt, froh zu erscheinen, so
kann er den gedanken, sich ein ander Uz zu suchen, nicht mehr
so ganz verwerfen, natürlich sind es wider die damen der ge-
sellschaft (ir guolen reiniu wip), denen er diesen entschluss zu
billiger begutachtung vorlegt, ihnen ist auch das feurig-kräftige
marschlied (uzreise, xvi) gewidmet, das in denselben sommer fällt
(str. 5). erst in den beiden letzten Strophen gedenkt er resigniert
seiner unbarmherzigen herrin, gegen die er sich mit der gedul-
digen treue eines guten gewissens wappnet, noch einmal flammt
seine empfindung für sie auf (xvn, frühling 1230), der treu-
geblieben zu sein er sich selbst beglückwünscht (s. o. xn). aber
schon die beiden nächsten, eng zusammengehörigen lieder (xvm
u. xix, herbst 1230, frühjahr 1231) zeigen ihn wider in der
atmosphäre ganz allgemein gesellschaftlicher frauenverehrung.
beide preisen in paradoxer weise die sonst verhasste huote und
die merkcere, indem sie diese so geläufigen höfischen begriffe, die
Ulrich bei seiner starken geselligen betätigung gerade in jenen jähren
besonders nahe liegen mochten 2, spielend verändern : das merken
wird zum interessiertsein, wie es den frauenkenner, die männer-
kennerin auszeichnet, huote zur vorsichtigen gesellschaftlichen
haltung der frau (huote vereinzelt schon 126, 28 — 30, vin). seiner
dame gelten im xvm liede nur die beiden letzten, die nutzanwen-
1 hier ligt eine art disharmonie zwischen Med und später gedichtetem
märe vor. 402, 12 — 15 gibt Ulrich an, in jenem sommer immer hohes
mutes gewesen zu sein : aber gleich die erste Strophe des folgenden liedes
(xv) zeigt ihn klagend, der weitere verlauf und das xvi lied nicht über-
mäfsig fröhlich, der grund ist klar : er will damit renommieren, wie er
durch den blofsen vorsalz, wider uro zu werden (xv, str. 2), es in der tat
geworden sei. dem entspricht die gewollte fröhlichkeit der lieder xvu,
xviii, xix (1230 u. 31). es gibt eben nichts weniger cavaliermäfsiges als
duckmäuserei. dies wollte er, als er später den FD dictierte, noch schärfer
hervortreten lassen, als es lied xv str. 2 tut. grund zu ernsthaftem ver-
dacht gegen die sachliche und chronologische richtigkeit seiner erzählung
seh ich nicht. — anstofs hat auch Bechstein n 119 anm. genommen.
3 möglicherweise hat ihn auch die ausgesprochene furcht der dame
vor dem merken 396, 1 angeregt.
ULIUCII VON LICHTENSTEIN 9
dllDg auf sie bringenden Strophen, das xix. das die gesellschaft-
lichen Spitzfindigkeiten des vorhergehnden ziemlich trivial wider-
holt, ist directer an sie gerichtet, er wirbt noch einmal — aber
in der letzten Strophe verspricht er aller weit kundzutun, wie
alle freude für ihn zu ende sei, wenn sie ihn zwänge, sich ihrer
ininne zu entschlagen.
Bald danach tritt die lange drohende Wendung ein, im
herbst 1231 verlä'sst der bis zur Unvernunft treue rilter nach
dreizehnjähriger vergeblicher Werbung den dienst der herrin. was
ihn dazu bewogen hat, deutet er nur dunkel an (411, Uff); er
hatte wol seine gründe dazu, es kann nicht ein einzelnes ver-
gehen, sondern muss ein widerholtes oder fortgesetztes unrecht
gewesen sein, was sie ihm antat (aao. und 413, lOff. 25) ', eine
wider besseres wissen böslich aufrecht erhaltene Verleumdung
oder dergleichen.
Der dichterische ertrag dieses Umschwunges sind sieben
scheltlieder, die Ulrich aus dem lebhaften gefühl der erlittenen
krankung heraus vom herbst 1231 bis zum frühjahr 1232 ge-
dichtet hat-, sehr natürlicherweise sind die ersten die schärferen,
1 hiernach sind die ansichten von Becker und von Bechstein zu
berichtigen, die verse, die Bechstein (s. xxix) auf einen zornigen wortstreit
zwischen beiden deutet, 413, 17 — 27, beziehen sich vielmehr auf die schelt-
lieder, die U. soeben mitzuteilen sich anschickt und die er jetzt bereut:
413, 21 an disem buoch. zum beweise diene ferner der reuige ausruf
415,30—41(3, 11. Beckers auffassung (Wahrheit u. dichtung in UvL.s FD
s. 89 IT) wird der Wahrheit näher kommen, wenn auch 127, 18 — voraus-
gesetzt, dass man diese stelle überhaupt noch hier heranziehen darf — und
411, 17 nicht gerade so handgreiflich interpretiert zu werden brauchen, das
swache leit kann auch ein erniedrigender klatsch gewesen sein. Schön-
bachs ansieht (Biogr. bll. n s. 31) : 'U. kam dahinter, dass die herrin einen
andern bevorzugte' passt gar nicht zu den textstelleu. seinen folgenden
satz versteh ich nicht; wo handelt es sich denn beim ersten minneverhältnis
um einen 'glücklichen ausgang?' — viell. ist statt swachez /. 411, 17 sivwrez
leit zu lesen, die Verbindung swachez leit mit der hier geforderten
proleptischen bedeutung des adj. (noch dazu stark betont : ein so siv. /.)
scheint sonst nicht belegt. W'igalois 795 : swenne dehein swachez leit
truoble ir feindete hat eine andere bedeutung. der folgende vers 411, 18
passt besser zu swwrez; in der Schrift sind beide Wörter leicht zu ver-
wechseln.
a Ulrich selbst rechnet xx — xxvi als scheltlieder, vgl. 427, 17 f; xxiv
—xxvi sind aber eigentlich keine scheltlieder mehr, da in ihnen das positive
des frauendienstes weit überwiegt.
10 BRECHT
in den späteren überwigt die Stilisierung in die verallgemeinernde
reflexion', wodurch die persönliche gehässigkeit gemildert wird.
Im ersten 'klageliede' (xx) mäfsigt er sich zwar noch, mit
merklicher anstrengung. es ist gewissermafsen erst die ofücielle
aukündigung der drohenden feindschaft, in form einer rechts-
klage vor dem gerichtshofe aller trauen — das alte motiv, sich
an die gesamtheit zu wenden K in nachdrücklicher widerholung
klagt er seine hisherige herrin schäches tinde roubes an. was sie
ihm geraubt hat, ist seine lebensfreude in der ganzen schier end-
losen zeit, die er ihrem diensle gewidmet hat2, mehr von seinem
leide zu sagen geniert er sich; auch will er sich als cavalier
nicht vom zorn übernehmen lassen, so hält er denn noch den
vermiltlungsweg offen, falls sich jemand findet, der ihn beschreiten
will ; sonst droht er mit dem schlimmsten 3. da die dame ihr
verhalten nicht ändert (413, 10), sieht er sich genötigt, seine
drohungen wahr zu machen, viel energischer beklagt ein zweites
klagelied (xxi) den Verlust seines lebensglückes und weist der
vrowe alle schuld daran zu. hätte er doch noch die illusion der
hoffnungl aber auch die ist hin. wie gut war die herrin, als
er sie kennen lernte 1 inzwischen hat sie sich ganz verändert4,
in der äufseren haltung ungleich ruhiger, im inhalt das schärfste
von allen ist das folgende (xxn). mit einer sachlichen minne-
1 Vgl. XI. XIII. XIV. XV.
2 vgl. schon xiv 399, 13 : St nimt mir wende, diu mich sorgen solle
machen vri. nu läls also rouben — . ähnlich wie Ulrich klagt Walther
53, 1 ff wesentlich über die verlorene zeit, in der form wol beeinflusst durch
Morungen MFr. 128, 15 ff (citat von Wilmanns).
3 vgl. das vierte lied des von Buwenburg, str. 3 :
iuonl ir niht den willen min,
ich sprich iu ein wörtelin,
dar an hanget siuften unde weinen.
(Bartsch Die Schweizer minnesänger s. 260).
4 gerade so macht es Buwenburg aao. st. 2 :
Ich wände ein wip von Iper haben funden,
dö ich erst ersach die minneclichen :
nü swachet si an eren zallen stunden usw.
auch Neidhart findet, dass sich die geliebte in der Zwischenzeit verkeret
habe (82, 25 ff), er schimpft unflätig auf sie, viel stärker als Ulrich — es
ist nämlich nur eine allegorische figur, die frau Werltsüeze (82, 15 ff, erster
Werllsuezenton; vgl. RMMeyer Die reihenfolge der lieder Neidbarts s. 147).
— gedankengang und diction dieses liedes erinnern lebhaft an Walther.
ULRICH VON LICHTENSTEIN n
theoretischen auseinandersetzt! Dg, dem lobe widerum aller guoten
wibe, beginnt es, scheidet aber unerwartet die falschen von den
guten und macht sofort die rückhaltloseste nutzanwenduog aul
die verlassene dame. kein ausdruck ist ihm der schamlosen gegen
über, deren wille daber fuhr wie aprilwetler, stark genug, aber
der schluss halt sich wider objecliv, indem er zu dem im anlang
gemachten unterschiede zurückkehrt; unrecht tut, wer zwischen
trauen nicht unterscheidet '. die beruhigung schreitet im vierten
schellliede (xxiii) fort, hier sind von fünf Strophen nur die zwei
letzten seinem Unglück gewidmet, auch in ihnen trauert er mehr
als er schilt, die drei ersten tun in der sentenziösen weise von
minnereden dar, dass triuwe und stiele unbedingt zur minne ge-
hören : woraus sich das folgende widerum als ausgesprochen
(419, 22) persönliche nutzanwendung ergibt.
Nach kurzer zeit kann der von natur mit unvertilgbarem
luslbedürfnis ausgestaltete Sanguiniker die catonische miene und
das leben ohne minne nicht mehr aushalten, aus wintersnot und
altmachender sorge sieht er keinen andern ausweg als durch
wibes güete (xxiv, str. 4) : irgendwo muss es doch noch guotiu
xcip geben ! der wünsch eines zweiten minneverhällnisses spricht
sich offen aus. das ganze lied ist nur ein vorklaug jener wdn-
wisen, denen — wo ein wille ist auch ein weg — die reale
zweite minne bald folgen sollte, womöglich noch deutlicher er-
scheint das bedürfnis Ulrichs in seinem leiche (xxv), den er in
derselben zeit gesungen hat (winter 1231/32), und der mit dem
letzten liede in engster beziehung steht, hat er nämlich in xxiv
seinen festen vorsatz ausgesprochen, sich wider der freude (zb.
str. 2) zuzuwenden, so rät er dies im leiche, gleich zu aufang,
nun allen mäunern (werende freude 423, 3). und er hat sich schon
so weit über sein misgeschick und seine rachegefühle erhoben,
dass er als einzige quelle jener freude nur wider anraten kann —
guotiu wip zu miunen. der gesamte erste teil des leichs enthalt
1 Knorr (s. 44 ß) conslatiert entlehnung dieses niotivs von Walther
58, 35. 48, 35. — vielleicht hat es daher auch Buwenburg, der das schon
zweimal angeführte heftige scheltlied so beginnt:
Sang ich. hiure ?iihl von guolen wioen,
so sing aber ich nu von den swache?i usw.
diese Scheidung ligt aber bei solchem anlass wol so nahe, dass jeder selb-
ständig darauf kommen konnte.
12 BRECHT
demgemäfs nur rein sachliche minnelehre, die sich in inhalt und
tendenz sowol im ganzen wie an einzelnen stellen eng an das
vorige lied anschliefst (423, 21 stcer e'ren scelic welle sin, vgl. xxiv:
420, 24 dd fand ich ouch ere bi, 27 und erwirbe ich freude und
ere; 422, 10 vinde ich die, so vinde ich ere; ferner 424, 6, vgl.
422, 9). auf sein persönliches misgeschick kommt er erst im
zweiten teile zu sprechen, er trüstet sich (424, 7 ff):
Min muot von wiben hohe sldt.
waz danne ob mir ir einiu hdt
Erzeiget hohe missetdt?
hat es also innerlich überwunden, wante er sich im ersten
teile an die männer, so gilt der zweite ausschliefslich den frauen.
auch wenn er von ihnen in der dritten person redet, ist doch
alles an ihre adresse gerichtet, der inhalt dieses teiles ist nicht
neu. er ist ein verschmelzender cento von motiven früherer
lieder, deren entstehung und entwicklung wir beobachtet haben.
424, 1 1 :
Swaz si gegen mir hdt getdn fconstr. anö v.olvov)
daz wil ich gerne wizzen Idn
uf gendde guotiu w/p —
worauf die erzählung ihrer schuld folgt, was ist dies im grund-
motiv und in der form anders als die grofse anklagerede des
xx liedes, vor demselben tribunal, an das zu allererst zu denken
er seit der Venusfahrt und seit dem geselligen winler 1227/28
gewöhnt war (lied xm str. 4, insbes. 397, 24)? — 424, 7 — 31 des
leichs widerholt geradezu lied xx str. 1 — 4 , man vgl. speciell
die anfangsapostrophe, und ist nur eine neue Variation des haupt-
inhaltes aller bisherigen scheltlieder. — im einzelnen entspricht
424, 15 — 21 der zweiten Strophe von xx. die beiden bilder mit
denen er die launenhaftigkeit der herrin verklagt, 424, 25 — 31,
verfolgen in anderer sphä're denselben zweck wie das bild vom
aprilwetter xxn str. 5:
Nu vert enwer ir habedanc, Als aberillen weter vert ir wille,
Reht als ein rat daz umbe gdt daz nie wind es prüt als swinde
etc. enwart etc.
Die gegenüberstellung der guoten und falschen wibe 425, 1 — 2
schlägt noch einmal das thema von xxu für einen augenblick an,
die beiden folgenden verse bringen mit dem widerholten State
ULRICH VON LICUTENSTE1N 13
das hauptstichwort von xxm wider in crinncrung. die zweite
hallte des zweilen teiles, in die diese motive bereits gehören,
drückt dasselbe aus wie die letzten Strophen des vorhergehndeu
liedes xxiv, den wünsch eines neuen Verhältnisses, aber un-
wandelbar muss die neue herrin sein, das betont der durch
erfahrung gewitzigte zum Schlüsse nochmals nachdrücklich
(425, 26—426, 3).
Gleichzeitig mit dem leich hat Ulrich nach seiner eigenen
angäbe (426, 8f) das xxvi lied gedichtet, es erweist sich als eiu
kurzer auszug des leichs in inhalt und einkleidung (rat an die
männer, guoliu wip zu minnen); der erste teil, str. 1 — 3, ent-
spricht genau dem ersten, der zweite, str. 4 — 7, dem zweiten
teile des leichs. auch der Übergang zwischen beiden teilen
(426,24 — 25) ist ganz der gleiche wie dort (424, 711). die letzten
Strophen (5 u. 6) von xxiv, die den zweiten teil des leichs mit
bilden halfen , haben mithin auch die drei letzten von xxvi be-
fruchtet, die Ähnlichkeit erstreckt sich bis auf die worte (zb.
vinden 427, 1.10 vgl. 425, 24. 422, 6. 10). — der wünsch eines
zweiten aussichtsreicheren Verhältnisses ist zu voller klarheit ge-
diehen, nur der würdige gegenständ fehlt noch, die schlussstrophe:
Ich wil gerne sin ein vrowen vrier man,
al die wile ich niht ein guote vinden kan usw.
bildet bereits den directen Übergang zu den wdnwisen.
ii Die wänwisen. 1232/33.
Ulrich begründet seine hinwendung zu wdnwisenx mit der
ausdrücklichen bitte einer hervorragenden dame an ihn, er möge
um aller frauen und um seiner selbst willen die rachedichtuug
der scheltlieder aufgeben (427, 13 — 28; lyrischer niederschlag im
nächsten liede 428, 26. 27). auch ohne solche auffordern ug würde
Ulrich das getan haben , da die bisherige entwicklung an sich
schon dazu führen muste.
Zusammenhang der wdnwisen mit geist und inhalt der letzten
lieder ist unverkennbar, die erste wdnwise (xxvn) bleibt im ge-
dankengange des vorhergehenden liedes xxvi, dessen inhalt sie
gewissermafsen umdreht, hatte Ulrich dort behauptet, wenn man
höhen muot erwerben wolle, brauche man nur guotiu wip zu
1 wdnwisen ist nach wie vor als 'freie phantasieproduete ohne realen
gegenständ' aufzufassen und ßechsteins seltsame Übersetzung 'freudenklänge'
(anm. zu str. 1376, 8. L. 427, 28) zu verwerfen.
14 BRECHT
minnen, und dies allen mänueru geraten, so sagt er jetzt: wer
erfolg in der minne werter flauen haben wolle, müsse hochgemut
sein (428, 7. 8), und erteilt sich selbst diesen rat (428, 25 ff) — es
ist ein zirkel. nach der verirrung der ihm garnicht anstehnden
scheltlieder hat er sich damit zu seiner wahren natur und zu
seinem lyrischen grundgedanken zurückgefunden : freude, nichts
als freude soll die ritterliche minne geben.
Dieser gedanke wird in der zweiten, sangbar-anmutigen
wdnwise (xxvui) nur weiter ausgeführt, zum teil spielend, vor
der staien liebe, die minne heifst (430, 1), schwindet alles trauern;
sein geheimes verlangen nach ihr kann er in einem seufzer zum
Schlüsse nicht verbergen.
Bei stiller Sehnsucht bleibt es nicht; schon das nächste lied
(xxix), ein sommerreie, der das glück erhörter liebe fast neidisch
preist, wird sehr kühu : die höchste seligkeil ist die Umarmung,
das bigeligen, das als schlusspointe bis an die grenzen der mittel-
alterlichen discretion ausgemalt wird, natürlich: gerade der 'frauen-
freie' mann (427, 24) muss in der phantasie geniefsen, was ihm
das leben zur zeit versagt.
Eine Illustration zu den bisher gegebenen minnelehren, die
dabei noch einmal in lebendiger Unterweisung kurz zum Vortrag
kommen, zugleich eine praktische anwendung bildet die sechste
wdnwise, ein dialog Ulrichs mit einer vrouwe über das berühmte
thema : waz ist minnel in dessen verlauf der belehrende ritter
keck wird und ganz unerwartet einen allerliebsten korb bekommt
(winter 1232).
Es fällt auf, dass Ulrich in den zwei Strophen des märe,
die den Übergang vom vorhergehnden liede zu diesem dialog
bilden, gerade von einem besuche spricht, den er damals jener
befreundeten dame, die ihm von den schellliedern abgeraten, ge-
macht habe, und von der Unterredung mit ihr. die Schilderung
sieht ganz nach minueconversation aus. 434, 14:
ich reit mit ir sus unde so:
des antwurt mir diu lugend rieh
mit süezen Worten minneclich.
mit speeher rede ich von ir schiet.
davon so sang ich disiu liet (= xxx).
Er versichert also ausdrücklich, aus einer derartigen Unter-
haltung sei sein dialog über die minne hervorgegangen, sollen
ULRICH VON LICHTENSTEIN
15
wir ihm hier mistrauen, etwa weil die lieder das ursprüngliche
sind, aus denen das märe nachher in freier phantasie geschöpft
sein konnte? da sich die beziehungen zwischen er Zählung und
liedein1 bisher als ganz unverdächtig erwiesen halten, da der
dichter ganz naiv, unironisch, unhumoristisch, sachlich-trocken
berichtet, sogar beschämendes nicht verschweigt2, so halt ich uns
für durchaus berechtigt, hier den Zusammenhang /wischen leben
und lyrik festzustellen, dann wären wir auch berechtigt, anzu-
nehmen, dass Ulrich, der Mine freiwillige Verlassenheit so schwer
ertrug, jener d.uiie uiirklich seine minne angetragen und einen
korh bekommen hat. sie verschwinde! Dämlich jetzt stillschwei-
gend .ms dem FD. die an, mit der Ulrich sehr bald danach
(439,14) seine neue herrin, die des zweiten Verhältnisses, frisch
in die erzählung einführt, verbietet anzunehmen, dass jene dame
mit dieser identisch sei.
Die tendenzen der wdnwisen finden sich in der tünlten
(xxxi), welche die letzte hleihen sollte, unabsichtlich noch einmal
zusammengestellt : preis des frühlings und der frauen, deren liebe
den mann glücklich macht.
Diese wenigen gedanken in den wenigen liedern sind im
gründe Ulrichs ganze liebeslehre. die wänwlsen liehen sich nicht
so sehr von den bisherigen minneliedern ab, als man bei dem
Wegfall einer bestimmten Persönlichkeit, an die sie sich richteten,
erwarten sollte, gerade hier wird recht klar, dass Ulrichs lieder
bisher eigentlich alle schon wänwtsen waren, db. dass im »runde
auf die vereinte herrin wenig dabei ankam, sie ist nur eine
stell Vertreterin des ganzen geschlechtes, dem Ulrichs Verehrung
gilt, mag auch — woran ich nicht zweifle — sein herz hei der
ersten minne nicht unbeteiligt gewesen sein, ihre wahre Ursache
war das artistische phantasiebedürfnis, das für die dem menschen
Ulrich einmal innewohnende hinneigung zur frau einen bestimmten
äufseren anhält suchte, in den wänwlsen liel auch dieser vor-
1 der aasdrack 'eingestreute lieder', an den man sieli gewöhnt hat,
nimmt in dem falle Dlrichs zum mindesten unsicheres als sicher an. denn
mag auch Ulrich für das märe gleichzeitige aufzeichnungen benutzt haben
(s. Schönbath Biot;iaph. Matter u 32, 33), so bleibt doch bestelm, dass die
lieder das in der vorliegenden festen form ältestesind, um das
die erzählung heru mgegosse n ist. sie sind das prius, nicht die erzählung.
a vgl. Schönbach aao. s. 23 ff.
16 BRECHT
wand fort : insofern kommt in ihnen seine natur am reinsten zum
ausdruck.
in Lieder der zweiten minne. 1233 <C > 1255.
Da Ulrich im sommer 1233 nachgerade seihst darilher klar
geworden ist, dass er für ein neues minneverhältnis reif sei,
zögert er nicht, sich nach einer würdigen, dem einzigen, das ihm
dazu noch fehlt, umzusehen (439, llf). seine erste minne ist für
ihn innerlich schon so lange her, dass die erinnerung sie ihm
hereits golden zu färben beginnt (438, 14 — 24). bald hat er eine
herrin gefunden; und dass er kein blöder page mehr ist, sieht
man an der sachlichen art, in der er das Verhältnis in die wege
leitet : er reitet einfach zu der dame (deren namen er natürlich
nicht nennen darf) hin und 'tut ihr seinen willen kund' (440, 9).
ihre antwort fällt so aus, dass er davon in freudenüberschwang
gerät und seiner ältesten, im gründe einzigen liebe, dem hohen
muoty das erste lied seiner neuen minne (xxxn) widmet, für
deren abstractere art ist die adresse an einen personifizierten
begriff von vornherein charakteristisch, der minnephilosophische
ton der wänwisen bleibt, nur mit schwindender frische, in geltung.
xxxii ist ein rechtes beispiel für ein absichtlich gemachtes ge-
legeuheitsgedicht. mit vollem bewustsein, ganz unnaiv, wird die
neue Verbindung begrüfst und unter etwas künstlichem jubel ein-
geläutet, das gefühl der erleichterung freilich , nun nicht mehr
einsam trüren zu müssen, mag wol wahr daran sein, hier wie in
den folgenden liedern. das einzige thema ist zunächst natürlich
der preis der neuen herrin. die einzelmolive sind grofsenteils
nicht neu. so greift Ulrich auf das hauplmotiv des vm liedes,
beschreibung der Insassen seines herzens (s. o.), zurück, wenn er
in der vorletzten Strophe den höhen muot als vogt im hause seines
herzens auffasst, dem die f'rau und die minne dort gesellschaft
leisten; angedeutet ist die metapher schon in den ersten beiden
versen des liedes. durch seine freude klingen reminiscenzen an
die von der früheren herrin ihm angetane untdt (s. o.), denn
es ist als reaction darauf zu erklären, wenn er jetzt so viel von
der ere seiner herrin spricht, halle er in den scheltliedern die
erste dame eines vergebens bezichtigt, dessen nennung sie scham-
rot machen müste (412, 25 ff), von ihr gesagt:
diu ist wibes eren gram (417, 17)
und von einer zukünftigen herzensherrin verlangt, sie müsse
LI.IUCII VON LICHTENSTEIN 17
— wiplich sin gemuot,
eren rieh, vor allem wandel <jar behuut 127, 711),
so frohlockt er jetzt :
Höher muot, dich hat gesendet
nur ein wip diu ere hat (4-11,5);
das ist das allererste, was er überhaupt im liede von ihr s;i.
(dritte stroplie). begreiflicherweise kommt er noch ol't darauf
zurück, der uumittelbare Zusammenhang seiner neuen poesie mil
den eben verklungenen wdnwlsen wird in dein folgenden, eben-
falls noch einleitenden liede (xxxm) bemerklich, einem dialoge
Ulrichs mit der neuen geliebten über bedingungea und lohn seines
dienstes. die elegante minneconversalion endet unerwartet damit,
dass sie seine immer schmeichelhafteren complimente scheinbar
entrüstet als ironie zurückweist, unverkennbar ist die grofse
ahnlichkeit mit dem kurz vorhergehndeo dialoge xxx : auch dort
gesprach Ulrichs mit einer dame; er beginnt, wird von Strophe
zu Strophe kecker und erlebt zum schluss eine — dort offenbar
ernsthaftere — kokette abweisuug, die ebenfalls ganz kurz (dort
zwei, hier drei verse) in die letzte, eigentlich ihm gehörende
dialogstrophe als letzte pointe einbricht (ebenso schon im ersten
dialog mit frau Minne, x 136, 51.). dazu kommt, dass die enl-
stehung beidemale die gleiche ist. wie xxx nach des dichters
1 die widerholung in der zwtitfolgenden Strophe (441,21) besagt
vielleicht nicht viel, da reimschlendrian vorliegen kann (lere : ere : here ;
vgl. 437, 9 — 11 im vorhergehnden liede). aber weiterhin sprechen noch
mehrere stellen von der ere der dame, in den nächsten fünf liedern vier :
145, 24 (xxxiv), 449, 9 (xxxvi), 449, 22 : wol mich — des daz si htil tugent
und ere, und besonders 450, 1 1 fT : ich bin vrö des daz ir ere hat behuot
sich als si sol (xxxvii; vgl. 508, 14). vor dem Umschwung nach lied xix
i»t von ere der herrin in allen liedern nur an folgenden stellen die rede :
111, 3 (vi). 131, 25 (ix). 394, 18 (xn). 406, 14 (xvn). 408, 20 (xvm), und
höchstens an der ersten mit einiger betonung. jetzt hat U. diese eigen-
schaft ganz anders einzuschätzen gelernt. — auch von ere der männer wird
jetzt häufiger gesprochen, und es ist vielleicht kein ganz äufserlicher zufall,
dass nicht allzulange danach, bei der Artusfahrt 1240, herr Kadolt Weis
dem Lichtensteiner eine Jungfrau als botin der fruuw Ere entgegenreiten
lässt, um ihn zum turnier einzuladen (477, 5 (T), ein scherz, den Roethe mil
dem jenen rittern im Südosten sicherlich wolbekannten Reinmar von Zweter
zusammenbringt (Die gedichte Reinmars von Zweter s. 168. 217); nach ili#i
stammt auch das adj. eregernde bei Lichtenstein (zb. 423, 1. 424, 1. 45ii, 25)
von demselben Reinmar.
Z. F. D. A. XL1X. N. F. XXXVII. 2
18 BRECHT
eigener aussage (s. o.), ist auch xxxru als unmittelbare wilrkung
einer minuiglichen Unterredung entstanden. Ulrich versichert es
widerholt vor und nach mitteilung des dialoges:
swaz ich des tages gegen ir sprach,
zehant dö ich da von ir schiel,
ich sanc von ir sd disiu liet (442, 29 IT)
ich redet drinn mit der frowen min (444, 15),
und ich sehe keinen grund, ihm nicht zu glauben.
xxxiv ist eine gesteigerte widerholung von xxxn; das gleiche
gilt von xxxvn. leider ist über die entstehungszeit all dieser
lieder genaueres nicht zu sagen, als dass Ulrich sie (von xxxiu
an) zwischen 1233 und 40 verfasst hat. xxxiv — xxxvn können
in ihrer abfassungszeit nicht allzuweit auseinanderliegen, sonst
würde er sie schwerlich zusammen angekündigt L und ohne jeden
verbindenden text widergegeben haben.
xxxiv ist ein frühlings-, xxxv ein winterlied, doch wol aus
demselben jähre (wie oben iv und v), beider inhalt durchaus der
übliche : das kommen des frühlings wird mit dem der neuen liebe
identificiert, als bestes mittel gegen das leid des winters aber
empfohlen, mit frauen in den warmen Stuben sich zu erfreuen,
auf derselben conlrastieruug von draufsen und drinnen beruht
das nächste winterlied (xxxix, 1240); nur dass hier der grund
seiner bei der harten Jahreszeit verwunderlichen freudenstimmung,
die Schönheit seiner herrin, nicht nur erwähnt, sondern in län-
gerer unanschaulicher Schilderung, bei der leibliche und charakter-
vorzüge durcheinandergehn, vorgeführt wird. Schönheiten der
form erwähnt Ulrich nicht; nur ihre färben, braun, rot (mund),
weifs, sind es, die ihm eindruck gemacht haben.
In dasselbe jähr fällt ein zweites marschlied (üzreise, xxxvm).
es ist auf der Artusfahrt gedichtet worden; Ulrich glaubte wol,
seiner zweiten herrin auch eine üzreise schuldig zu sein, es hat
ihn nun offenbar gereizt, über den gleichen gegenständ ein ganz
gleiches gedieht, das doch keine copie sein sollte, mit gleichsam
benachbarten vvorten zu machen, beide lieder umfassen je sieben
Strophen, von diesen sind nur je die zwei letzten, die sich an
• ' 444, 16 Da nach ze rehler zit ich sanc
vier wise, als mich min wille twanc,
Ab. wol: jedes einzelne bei passender gelegenheit, wie mich mein herz trieb.
ULRICH VON LICHTENSTEIN 19
die jeweilige dame richten, aus aufseien gründen insofern ver-
schieden, als sie das erste mal die misgunst der berrin beklagen,
das zweite mal den ruf nach Bchild und speer zum rühm der
herrin voll wirksamen Ungestüms erklingen lassen, alle andern
Strophen der ersten Azreise linden in denen der zweiten ihre
entsprechung, nur in verschiedener reilieul'olge l. der einzige
sachliche unterschied ist der, dass im zweiten marsehliede die
ritterliche hetatigung ausdrücklicher auf den lohn xoerder toibe
bezogen wird, wahrend im ersten der schilt auch in sich seihst
schon ehre hat. die widerholung ist entschieden matter.
Wichtiger ist eiue andere specielle gatlung, die tagelieder.
von ihnen hat Ulrich ebenfalls nur zwei gedichtet, das erste zwi-
schen 1233 und 1240 (xxxvi), das zweite im winler 1240/41 (xu;
mau darf ihre entstehungszeil wol nicht allzuweit auseinander-
rücken, sie haben noch einige lieder nach sich gezogen : es sind
die unmittelbar auf das zweite tagelied folgenden : xli, XLii und
xi. in, die in derselben phantasierichtung weitergeh n uud unter sich
und mit xl durch anklänge und auknüpfungen verbunden sind, alle
fünf bilden zusammeu eine gruppe, liebeslieder sinnlicher Färbung.
An vorklängen fehlt es nicht, der reie (xxix, 1232) malt
bereits die Situation der liebenden in ganz ähnlicher weise aus
wie xxxvi, die reiheufolge der liebesbezeugungen ist dieselbe, bis
in den einzelausdruek geht die äiinlichkeit. die erste liebkosung
ist der kuss (433,6 : 448,2), dem, schön beobachtet, das liebevolle
sichanblicken folgt:
1 str. 1 in xvi entspricht str. 1 in xxxvni : frauendienst ehrt ritter.
- 2 - xvi - - 4 - xxxvni :
S wer volget dem schilde, der Swer mit sckilt zieh decken wil
sol ez enblanden vor schänden,
Dem libe — Der sol ez dem libe wol en-
/> landen.
reimwörter ere : lere : sere. reimwörter ere : si'-re.
str. 3 in xvi entspricht str. 2 in xxxvni : diese zählt die tugenden auf, die
jene 404, 17 verlangt,
str. 4 in xvi entspricht str. 5 in xxxvni : mut und feigheit constrastiert.
gleiche reimwörter : wilde : schilde, decken : blecken = schilde
: wilde, blecket : decket.
str. 5 in xvi entspricht str. 3 in xxxvni : Ir siilt gedenken — = Denket — :
trauen sollen an helohnung der männer, männer an frauenlohn
denken. — die n üzreise drückt vieles nur anders herum aus.
2*
20 BRECHT
433, 12 f ob dd iht 448, 6 f dö si in den ougen reht ersähen
ougen liht ir lieplkh minnevarwen schln,
liepltch sehen einander an?1
das weitere wird in beiden liedern mit denselben worten bezeichnet:
minne freudenspil, minnespil, spü (432, 16. 433, 8 : 448, 4. 9. 28);
die arme der frau erhalten das gleiche attribut : von linden armen
blanc (433, 2), mit linden wizen armen (449, 1), uam. nur dass
Ulrich im reien in der ausmalung der Situation noch nicht so
weit geht wie im tageliede, sondern das letzte nur mit schalk-
hafter frage andeutet, im stil des tageliedes, wie er sich seit
Wolfram in Deutschland gebildet hatte, war dergleichen ange-
brachter, ja fast uuerlässüch.
Das zweite tagelied (wiuter 1240/41) steht mit dem ersten
in eigentümlicher beziehung. es stellt eine spätere stufe der
Situation dar : denn es beginnt erst mit dem eintreten der zofe,
während das erste, schon auffallend genug, mit der begrüfsung
des rilters durch die frau anfängt; und der ritter .nimmt nicht
abschied nach der Warnung, sondern wird, weil es zu spät ge-
worden, noch einen tag und eine nacht heimlich dabehalten, die
Verhandlungen hierüber und die erzählung dieses herganges sind
die hauptsache in diesem gedieht, das der aparten neuerung wegen
gemacht ist (vgl. 510, 23 — 511, 6). für das minnespil (513, 14)
bleibt nur eine ganz summarische angäbe (513, 15 — 18) übrig : im
ersten liede war seine ausmalung geradezu thema gewesen, in-
sofern sind Ulrichs zwei tagelieder, die gewöhnlich als einheit
behandelt werden, unter sich durchaus charakteristisch ver-
schieden.
Beiden gemeiusam ist die eiuführung der maget au stelle
des Wächters, über die mehrfach gehandelt worden ist2, im
1 mit rücksicht auf diese stelle stimme ich Beckstein bei, wenn er
s. 155 anm. zu v. 63 ohne begründung gegen Lachmanns interpunetion vor-
schlägt, 433, 30. 31 zu lesen : ob da niht mer geschiht?
2 de Gruyter Das deutsche Tagelied s. 18. 20. 25. 112. 122. Schlaeger
Studien über das Tagelied s. 88. — ich glaube nicht, dass, wie de Gruyter
s. 20 möchte, die von ihm verglichene stelle des Grafen Rudolf (s. 112)
Ulrich beeinflusst hat. Beatris spielt eine ganz andere rolle als Ulrichs
dienerin. die einzige Übereinstimmung ist, dass der graf den nächsten tag
noch da bleibt, und dieses motiv ligt bei der gefährlichkeit der Situation
(vgl. Alwin Schultz Höfisches leben i1 1472 ff) nicht so fern, dass Ulrich
nicht allein darauf gekommen sein könnte, weitere ähnlichkeiten vermag
ULMCH VON LICHTENSTEIN 21
augenblicklichen zusammenhange interessiert uns Dicht <lie —
zweifelhafte — geschichte des molivs, Bondera nur das moliv
selbst in seiner persönlich charakterisierenden bedeulung. dass
der Lichlensteioer Beine epigonenhaft-rationalistische neueruog
zu gunsten eines der archaischen stilstrenge (U^ alten lageliedes
gar oicht anstehndea realismus selbständig und ohne Bich eines
eioflusses bewusl zu sein, unternahm, geht aus seiner tiftelndeo
irgumentatioa 509,9 — 511,0 klar hervor, aullallend ist nur, dass
er sie erst vor dein zweiten lageliede bringt, da er doch schon
vor eioiger zeit im ersten die magd eiogeführt hat. dass das
zweite Med vor dem ersten gedichtet wäre, wird, abgesehen von
der bisher immer stimmenden Chronologie der anordnung, da-
durch ausgeschlossen, dass es mit dem secundären einlall, den
rilter den tag auch noch dableiben zu lassen , klar die an der
ursprünglichen gestall der lageweise (wie sie das ersle lied dar-
stellt) weilerdichtende phantasie verrät, man kann nur annehmen:
er hat das erste lied mit einl'ührung der magd naiv gedichtet,
einem einfall folgend, über dessen herkunft und berechligung
er sich keine sorgen machte, später ist, wie es bei Sanguinikern
mit pedantischer ader zu gehn pflegt, die reflexion hinlerher-
gekommen, die ihn veranlasste sich nachträglich gründe klar zu
machen, hiermit würde sich auch erklären, dass er gerade im
zweiten lageliede, wider erwarten, den ignorierten Wächter wider
erwähnt, mit seinem verschwinden von der ziooe das auftreten
der zofe geschickt motiviert : nachdem sich die reflexion ein-
gestellt bat, ist mau eben gewissenhafter.
Oder aber es ist ihm erst später bei der redaction des FD,
als er bereits bis zum zweiten tageliede dictiert hatte, klar geworden,
ich nicht zu entdecken, ist es übrigens irgendwie wahrscheinlich, dass
Ulrich den schwerlich sehr verbreiteten Grafen Rudolf gekannt hat? — —
Schlaeger (aao.) meint, Ulrich hätte sich unwissentlich 'mit der einführung
der zofe der ursprünglichen form [des Tageliedes] wider genähert'; er geht
dabei von seiner von s. 83 an entwickelten ansieht aus, dass pseudo-
ovidische stellen, an deren einer (!) die amme der herrin auftritt, den aus-
gangspunet für das Tagelied gebildet hätten, ja unmittelbar die eben hervor-
gehobene, die liier zugrunde liegende anschauung über das entstehen von
dichtungsgattungen kann ich mir nicht zu eigen machen. — die gründe,
die Schlaeger s. 6011' gegen Roethes erklärung von der entstehung des Tage-
liedes aus dem 'geistlichen wächterliede' (Anz. xvi) anführt, scheinen freilich
beweisend.
22 BRECHT
dass seine neuerung erklärungsbedürftig sei, und er holt nuu die
erklärung an dieser sehr geeigneten stelle nach, wo er so wie
so etwas an einem tageliede zu erklären hatte, hierher ge-
hören nämlich von rechtswegen nur die heiden letzten
Strophen der auseinandersetzuug, 510,23 — 511,6, in denen er
die zweite neuerung : der ritter bleibt den tag über bei der frau,
in ganz derselben tendenz zum realismus begründet wie die
erste. —
Die anregung, die sich Ulrich selbst mit diesen liedern gibt,
würkt in verschiedener arl weiter, den sinnlichen kern der
tageliedsituation nimmt das unerfreuliche lied xli (sommer
1241 0 1245) heraus, es ist aber nicht er selbst, der seine
vrowe Hriutet1, sondern — sein höher muot; und wo? in seinem
herzen, der situationsbeschreibung dienen allein vier Strophen
(4 — 7), die sich in allen bezeichnenden ausdrücken an das vor-
hergehnde zweite tagelied anschliefsen (516,9. 11. 13. 14. 21-23).
da die tageliedsituation leider in würklichkeit Illusion bleibt, muss
er sie sich in der phantasie ausmalen l. es ist dieselbe uner-
quickliche erscheinung wie bei der dritten wdnwise (xxix, reie),
nur dass er jetzt auf eine absurde, unanschauliche allegorische
einkleidung verfallen ist, deren Vorstellung schon widerwärtig
berührt.
Ihre genesis können wir genau feststellen, von jeher war
es seine lieblingsvorstellung, die herrin in sein herz gelegt zu
denken, gelegentlich auch sich in das ihre (vm, s. o., der körper-
lichste ausdruck dafür in dem später geschriebenen märe, 511, 20:
und sich ietweders herze hept , ze springen in des andern lip).
schon das vm lied hatte der ersten dieser Vorstellungen gegolten,
im xxxu hatte er sie wider aufgenommen {in minem herzen
441,27), am Schlüsse auch schon das toben der liebe in seinem
herzen mehr drastisch als geschmackvoll beschrieben (442,5). beide
Vorstellungen fasst er zusammen im ersten tageliede (449,7):
du bist vogt in dem herzen min:
sam bin ich in dem herzen din,
beide Vorstellungen hintereinander verwertet er im xli liede;
str. 1 — 3:
1 er spricht das noch spät im märe ganz offen aus (515, 2):
ich hän mit ir da freuden spil
mit gedanken sivie ich wil.
UL1ÜCI1 VON LICHTENSTEIN 23
— mich jdmert sc're
in daz reine herze diu ;
dii solt du mich hüsen in.
der inhalt von str. 1 — 7, sie in seinen) herzen, wird dadurch
modificiert, dass er an seine eigene stelle seinen genossen, den
höhen muot ' setzt, seinen allen, seit xxxu nicht mehr ans dem
äuge gelasseneu liebling. dazu die gerade jetzt in ihm lebendige
tageliedsituation : und alle demente des allegorisch kalten und doch
sinnlich schwülen gedichles sind beisammen.
Im nächsten liede (xlii, aus derselben zeit) folgt der bild-
lichen ausfuhrung i\er allegoric die dialektische, ihr leih ist in
seinem herzen, ihr herz dahei in ihrem leihe; gleichzeitig trägt
sein leih ihr herz iu sich; sein leih will aher — und darin
gipfelt diesmal das gedieht — in ihr herz : das sind die spilz-
findigen einfalle, mit denen jongliert wird, unter gleichzeitigem
fortwährenden Wortspiel mit lip, liep, liebe.
Lied xliii endlich zeigt die nachwürkung der tageliedsituation,
insofern es in eine körperschilderung ausläuft, die den wünsch
heimlichen küssens erweckt und mit der hindeutung auf das
minnespil (522, 4, letztes wort) pointiert schließt, die Schilderung
widerbolt zt. die des ersten tageliedes, zh. brüstel, kinne,
udngel, munt (521,32) : ir ourjen, kinne, wengel, munt (448,24).
der gröfsere teil des gedichtes verherrlicht seiner vrowe ver-
schiedenartiges lachen ; auch dies kein ganz neues moliv : schon
die zweite üzreise (xxxvihj hatte mit dem preise ihres lachens
wirkungsvoll geschlossen: — daz kan si süeze machen (458, 7).
Was dieser ganzen gruppe von liedern zu gründe ligt, verrät
Ulrich an der zum letzten liede gehörigen stelle des märes (522, 14):
daz wolde got, nnd keemez so daz ich ir gelcege bi\ schon hieraus
konnte man ersehen, dass das zweite Verhältnis nicht glücklicher
war als das erste; er wagte nur nicht mehr so viel zu verlangen.
Erfreulicher, wenn auch poetisch vielleicht niedriger stehend,
sind die drei folgenden lieder, die sich ebenfalls als eine —
unheahsichtigte — gruppe dadurch erweisen, doss sie dasselbe
grundthema in der gleichen lendenz und mit vielfacher Ähnlich-
keit im einzelnen behandeln. Ulrich muss damals (c. 1245 — 47)
eine gute zeit gehabt haben, trotz des Unglücks, das die Steier-
1 er klopft mit Ulrich an die herzenslür 515, 27.
24 BRECHT
mark in jenen jähren betraf (1246 schlachl an der Leitha, tod herzog
Friedrichs, geschildert FD 525 — 530), denn alle drei lieder prei-
sen den höhen muot (524,14. 534,9. 536,17).
Das erste (xliv) beginnt damit programmatisch, wie früher
xxxii : Ich bin hohes muotes — durch ein wort, das die herrin
gelegentlich zu ihm gesprochen hat; ihm gilt das ganze lied. im dazu-
gehörigen stück des mä'res spricht er ebenfalls ausführlich von der
Seligkeit die es ihm gegeben (522, 29 ff), ohne dass wir jedoch von
der veranlassung oder von dem Wortlaute etwas erführen, dies
minneverhältnis bestand ja zur zeit der redaction des FD noch fort.
Das zweite lied (xlv) ist ganz von xliv abhängig, in der
tendeuz erscheint es noch gesteigert : er polemisiert jetzt gerade-
zu, gleich zu anfang, gegen die unfrohen, dh. nach seiner an-
sieht schlechten — im märe bezieht er das, wol sehr nachträg-
lich, auf die damals auch in Steiermark aufkommenden raubritter
(532, 5 ff); im Hede findet sich davon keine spur, ihr worl be-
zaubert ihn immer noch (533, 26 diu kan sprechen süeziu wort,
vgl. 525, 7 dö si sprach daz sileze wort, 9 mit ir Worten süezen),
desgleichen ir urloup und ouch ir grüezen (534, 7, vgl. ir urloup,
ir grüezen 525, 11, in demselben reim : süezen) und ir güete (534, 10,
vgl. ir güete 525, 3). sie kroenet ihn (534, 13), wie er sie denn eben
erst in xliv als gewaltic küneginne (525, 26) über sich erkannt
hatte, auch ihr lachen 533,21 macht ihm noch denselben ein-
druck wie zur zeit des xliii liedes (s. o.).
Das dritte lied (xlvi), von ihm 'Frauentanz' genannt (536, 9),
fasst die bisherigen tendenzen des höhen muotes summarisch zu-
sammen {Truren ist ze wäre niemen guot, wan dem einen der
sin sünde klaget 536, 15), vergisst nicht, den wol redenden munt
wider als freudenquelle zu loben (536, 21, vgl. xlv u. xliv) und
verbindet mit alldem eine Variation seines alten preises, den er
den färben seiner dame, braun, rot und weifs im xxxix liede ge-
sungen hatte; ja, fast möchte man glauben, er habe sich bewust
copiert : denn schon dort (508, 26) hatte er an die farbenschilde-
rung den — damals noch nicht so trivialen — vergleich seiner
dame mit einen engel angeschlossen, gerade wie hier (537,8).
Es wird aufgefallen sein, dass von den liedern des zweiten
Verhältnisses sich so wenige an Ulrichs würkliches leben an-
knüpfen liefsen, im gegensatz zum ersten, seine dichtung wird
ULRICH VON L1CI1TENSTE1N 25
mit zunehmenden jähren immer abstracter. seit 1240 schon
haben die frühlings- und winterlieder aufgehört, das wxix lied,
gleich nach der Arlusfahrt, ist das letzte winterlied; von da an
wird der Wechsel der Jahreszeiten, der bisher ein festes gerippe
für die crzählung abgab, immer seltner und schliefslich gar nicht
mehr erwähnt, ja gerade auch mit dem zum xxxix liede gehörigen
stück des märes beginnt Ulrich dessen text nur noch aus den
paraphrasen der längst vorliegenden lieder zusammenzustöppeln,
die eigentliche erzählung des FD hört auf.
Nur episodisch kommt noch zweimal handelndes leben in
das werk, in den berichten von der schlacht an der Leilha 1246
(525, 27-530, 12) J und von Ulrichs gefangenschaft in seiner eignen
Frauenburg 1248/49 (537,10—547,32). dieses Unglück ist, soweit
die Überlieferung erkennen lässt, das einzige lebensereignis, das
seine dichtung noch unmittelbar angeregt hat; ein so kleines
Vorkommnis wie jene bejubelte äufseruug der dame zu ihm
(xliv) wird man nicht mitrechnen wollen.
Im kerker angeschmiedet dichtet Ulrich ein lied (xlmi;
ende sommer 1248). findet ein mann in solcher hedränguis
poetische Stimmung, so dürfen wir gewis auf Wahrheit des ge-
füblsausdrucks rechnen, und an wen wendet er sich? an alle
frauen (Nu hilf, wibes güele 545,3; 7. 12. 18); dann erst gedenkt
er, allerdings ausführlich, der seinen (545, 24 ff) : durch si ere ich
elliu wip. er fühlt sich als den berühmten frauendiener (545, 10),
dessen Verehrung dem ganzen geschlechte gilt (545, 18); seine
vrowe hat nur als specialfall wert — damit ist eins seiner ältesten
und wahrsten motive wider an der Oberfläche seines Schaffens
(vgl. bes. xi, xiu, xiv , xv, xx, xxn, xxiv, xxv, xxvi, xxvu). —
den verlassen vor sich hinbrütenden tröstet das bild der geliebten
(546, 3f) : hier nun stellen sich mit den reminiscenzen die motive
der letzten lieder ein : ihre färben rot, weifs, braun (xlvi,
xxxix); von gepurt ein vrouwe . . . von lugenden wip 546, 15 (vgl.
508,28, 537,3); ihr lachen (xliii), ihr mund und ihre äugen
(xliii; 536, 27 in xlvi).
1 527, 3 ist Lachmanns lesart vor (L) gegen Wackernagels conjeetur
von (Gesch. d. deutsch, litt, i2 285 anm. 2) zu halten, wäre das lied von
der Leilhaschlacht 'von' Ulrich e getihtet, so läge so wenig wie bei all
seinen andern liedern ein grund vor, es jetzt mangelnder niuwe wegen
dem leser vorzuenthalten, die Leithaschlacht hat ihn nicht lyrisch angeregt.
26 BRECHT
Dieselben elemenle bilden das nächstfolgende lied (xlvin),
das noch unter dem eindruck der einjährigen gefangenschafl und
der erlittenen ]besitzvcrluste (549, 25) entstanden ist (nach dem
September 1249). sein anfang knüpft unmittelbar an den schluss
des vorhergehnden an]:
ir muni unde ir ougen lieht,
so mich diu anlachent — (546, 21 ff):
lind mich iwer ougen lachent an (549,20),
dasselbe ferner 549,27. 550,1.2.4; so mich munt und ougen lachent
an 550,6. ältere motive treten hinzu : die geliebte gefangeniu
seinem herzen 550, 7 (xli, xxxn, viii), mit der stcele also verrigelet
550,9 vgl. 448, 16 im ersten tageliede xxxvi denselben ausdruck;
ihre süeziu wort 550, 17, vgl. xliv, xlv (beide male : hort)und xlvi.
Die lieder xlix — lviii (1249 <C > 1255) zeigen keinerlei
erkennbare heziehung mehr zu Ulrichs leben, sie enthalten
durchweg reflexionen ilher die minne, meist didaktisch als minne-
lehre eingekleidet, und bezeichnen so als gesamlheit wie in vielen
einzelheiten den inneren Übergang zum 'Frauenhuch' (1257), mit
dem die entwicklung des jungen liebeslyrikers zum alten minne-
didaktiker abgeschlossen ist.
Diese zehn letzten lieder zeigen mannigfache zusammenhänge
unter sich und mit früheren liedern. neue motive treten kaum
mehr auf.
'Nur der höfisch gebildete mann hat aussieht auf erfolg hei
einer wahren dame; möchte also meine hoffnung sich erfüllen!'
ist der grundgedanke des xlix liedes. die hehandlungsmotive
entstammen kurz vorhergehnden liedern. so ist die spielende an-
wendung der worte liehen — lip — liep — übe (554,7. 8. 10. 11)
eine reminiscenz aus lied xlii; ir gebeerde und ir güete (554,17)
hatte er schon im xlvii liede (546,20. 545,24), ihr lachen zuletzt
im vorhergehnden xlviii gerühmt, das wünschen in der schluss-
strophe (554, 20) erschien ihm seit dem xiv liede (1228) poelisch
(s. o.). er könne sich, wenn er gefragt würde, kein besseres
weih vorstellen als seine herrin: mit einem ähnlichen gedanken
schloss schon xxxiv, wo behauptet wurde, auch das urteil eines
dritten, wenn er, gleich ihm, ein guter frauenkenner sei, würde
seine dame allen andern voranstellen, und xxxvn (450, 3) : Wol
wol wol mich, daz die wisen müezen si von rehte prisen. —
ULIUC1I VON LICHTENSTEIN 2
1 1
Den ersten teil (slr. 1—3) des l liedes kOnole man Ulrichs
elegie nennen : es ist die bei so vielen minnesingern übliche
zeitklage, deren unerreichten prolotypns Wallhers elegie darstellt.
Ulrich ist freilich mehr nur verwundert, dass die jungen leute
und die besitzenden nicht mehr fröhlich sind, und auch den
frauendienst, das beste mittel dazu, verschmähen, dies mag sich
wilrklich (anders als lied xi.v, s. o.), schon als es gedichtet wurde,
auf das aufkommende raubrittertum bezogen haben (vgl. das
inilre dazu 554, 27 II). ihm aber — sein ältester gedauke — atät
durch ein guot icip sin muot hö.
Dass das lied im herbst entstanden ist, wird in der ersien
zeile nur noch ganz obenhin angedeutet.
Die nächsten fünf lieder (li — lv) hängen insofern unter-
einander zusammen,, als in ihnen allen ein moliv eine wesent-
liche rolle spielt, der nicht neue1 gedanke nämlich, dass die
scheene nur wenn sie mit der güete vereinigt ist, eine frau
liebenswert machen könne, isoliert kam er schon früh, im vi
liede, vor (110, 17 : schwne bi der güete sldl vil wol den wiben).
er bildet nun durchaus nicht das thema der fünf lieder, sodass
man etwa an absichtliche Zusammenstellung daraufhin denken
konnte, durchdringt sie vielmehr nur in abnehmender geltung,
die sein auftauchen und allmähliches abklingen in der seele des
dichters verfolgen lassen.
Im u liede entwirft Ulrich in form eines ratschlages sein weib-
liches und männliches ideal, jenes besteht in der Vereinigung von
Schönheit und gute, dieses in der makellosen ehrenhafligkeit. beide
sind für einander bestimmt; darauf beruhtauch Ulrichs hoffnung.
Im lii liede stellt Ulrich fest, dass seine herrin diese theore-
tischen anforderungen an das ideal erfüllt (ist envollen schwne
und dar zuo guot 563,16). die ausführungsmotive in beiden, so
eng zusammengehörigen gedichtet! sind älteren dalums, der preis
ihres lachens und ihres mundes 560, 19. 20 (vgl. zb. xlix, xlmii,
xliii), die huote, im Lichtensleinschen specialsinne, 563, 17 (vgl.
xvin, 408, 20 ff, vom jähre 1230), ein ausdruck wie küssen hundert-
tüsent tnsent slunt 563,22 (derselbe 522, 1. 2, in xliii. entstanden
1241 <>45).
1 ähnlich bei Wallher 83, 6 ff. 86, 11 ff. die gleichen anschauungen
über tugend und Schönheit 92, 21 ff. vgl. Wilmanns Leben Walthers s. 185.
28 BRECHT
Der gedanke, Schönheit und gute gehören gleichermafsen zur
frau, ziemlich äufserlich comhiniert mit dem ehenfalls im minne-
sange nicht seltenen : eine vrowe muss wiplich sein, ergibt das
doppelthema des liii liedes (slr. 3, str. 4). — das zweite dieser
motive hat sich aus früheren ausätzen entwickelt:
445, 20 ff (xxxiv):
sist ein frowe von gehurt; so ist ir süezer Itp
von ir lugenden ein vil wiplich wip.
508, 14 ff (xxxix):
Si hat ir wipheit vil wol behüetet
vor unvr owenlicher tat —
Vgl. ferner in demselben liede 508, 28 und 509, 1 (sie ist
vrowe; sie ist wip)
546, 15 ff (xlvii), vgl. 445, 20 ff:
von gepnrt ein vrouwe
ist si, und von fugenden wip — .
dies, früher nur seiner herrin gellend, wird jetzt verallgemeinert:
hier 566, 17 ff (liii);
Wip und fr owen in einer wcele
sol man gerne schouwen.
swd ein vrowe unwiplich tccte,
wer mbht der getrouweti ? usw.
Von all den andern dagewesenen motiven des centonenhaften
gedichtes sei nur das eren Mieten 566, 23, das erst im vorher-
gehnden liede vorkam (s. d.), erwähnt.
Auf der güete neben der schodne ligt der hauptton im fol-
genden liede (liv, 1252). den meisten räum im gedieht aber
beansprucht die einkleidung : Wizzel alle daz ich kan guoten
wiben in diu herzen sehen — die consequente weiterführung von
Ulrichs alten lieblingsvorstellungen , die ihn sehen liefsen, was
in seinem, was in seiner frauen herzen beschlossen lag oder
vorgieng : lied vm, xxxn, xli, xlii, xliii (s. o.; tugenden in ihrem
herzen schon 519, 3). was er dort findet, sind eben güete und
tugent (571, 21. 22); darum wird er nicht müde sie mit seinem
augenblicklichen lieblingsprädicat immer wider als ein wiplich
wip zu preisen (572, 12. 15, vgl. 561,20 in Li, 549,23 in xlviii;
wiplich 572, 22. 26. 554, 18. 545, 14. 525, 3; wipheit 534, 14.
515, 19. 508, 14; unwiplich 566, 19; umeipheü 546,6).
Dieses eine gedieht genügte Ulrich noch nicht, um die vor-
ULRICH VON LICHTENSTEIN 29
Stellung der tilgenden, die er im herzen seiner lierrin erblickte,
genügend auszumalen; daher schliefst das lv lied in seiner zwei-
ten slrophe (richtiger ersten, vorher nur einleitung) unmittelbar
an den gedanken von liv, im anfang seiner dritten sogar im
ausdruck an die letzte Strophe von liv an (zuht 572, 22 : 576, 17).
die aufzählung ihrer lugenden geht von der letzten Strophe von
liv ohne weiteres in die dritte und vierte von i.v Ober, der aus-
druck seiner Sehnsucht in ihr herz zu kommen 576, 23 stammt aus
dem xli liede (s. d.). uiplich 576, 17 zweimal, wipliclt wtp 576,22.
Schoene und güete , die im vorhergehnden liede noch be-
deutsam zusammen genannt wurden, sind hier nur noch als
nehenmotive, und gleichsam latent, vorhanden (schoene, guot 577,2,
schoene 577, 3, giiete 577, 20).
Der Zusammenhang der letzten lieder reifst auch weiterhin
nicht ah. das lvi lied ist ganz aus alten moliven zusammengesetzt.
Der anfang führt einen gedauken des lv liedes weiter:
lv, 576, 213: lm, 580, 17:
— ein lip so minneclich der vil reinielich gemuoten
der n fe wandelmeil gexcan — lip begie nie missetdt.
sist ein ivip gar wandelsvri —
Gleich darauf erweist sich ein altes motiv, das im letzten
liede wieder leise angeklungen war, auch hier brauchhar : sein
herz will aus seinem leibe zu ihr 580, 21 f, vgl. 576, 23 f. der ge-
danke, in dieser form aus dem xli liede (s. o.) stammend, bat
sich nach einer vom vm liede ausgehnden Vorgeschichte bis
hierher entwickelt, wo er seine stärkste und endgiltige ausprägun^
erfährt : das herz will aus der brüst zu ihr springen, ihr
lachen spielt dabei die alte rolle (zuletzt lvi 560, 19). drei Strophen
sind hiermit bestritten; was folgt ist spielende Verherrlichung
des kusses, die in discrete andeutung noch höherer wonne aus-
läuft (5S0, 22 ff), hiermit sind wir wider in der atmosphäre (\c>
tageliedes angelangt.
Die hier nur schüchtern bezeichnete Situation wird im
nächsten liede (lvii) ausgeführt, in demselben Stile, den das tage-
lied dafür ausgebildet hat (str. 4 u. 582, 17-23 : das in die äugen
sehen, vgl. im ersten tageliede 448,6, s. o.); dass der Zusammen-
hang mit lvi bewusst war, zeigt der gleicherweise verhüllende
schluss (583,26, vgl. 581,22), der nach diesem liede würklich nicht
30 BRECHT
mehr nölig war. von lvi zu lvii ligt mithin eine deutliche Stei-
gerung des gedankens zu grösserer kühnheit vor, ähnlich wie
von xxvm zu xxix, in den wdnwisen. und wänwisen, in denen
sich die unbefriedigte phantasie ergehn muss, sind dies auch,
das beweist zum überfluss die einkleidung des liedes lvii : sein
wünsch (vgl. wdn) bewürkt das 'wunder', dass er seine dame
plötzlich wie mit leiblichen äugen vor sich sieht (582, 15 ff)1.
wünsch und wünschen füllen die zwei einleitungsslropheu. also
auch dieses motiv aus der frühzeit seiner lyrik (schon 18, 14. 16
in i, 1222—23; 50, 5. 12 im i büchlein, 1223; 385, 17 ff im in,
1227; xiv, 1228; s. o.) findet jetzt — zwischen 1252 und 1255
— seinen höchsten und letzten ausdruck.
Der anfang des letzten liedes (lviii) könnte im ersten augen-
blicke den eindruck hervorrufen, als ob es absichtlich für den
abschluss gedichtet sei. aber da die ersten Zeilen nur das haupt-
motiv des liedes einleiten sollen, so kann Ulrich sie so gut wie
alle andern einleitenden verse im gleichmäfsigen verlaufe seiner
zweiten minne gedichtet haben:
Ich bin her bi minen stunden
ofte worden minne wunt —
aber es geht weiter:
dd für hdn ich helfe funden:
des siht man mich wol gesunt.
Im folgenden kommt er würklich noch einmal auf ein wenig-
stens für seine lyrik neues grundmotiv, das er dann aber mit
lauter alten nebenmotiven behandelt : die arzenie2 für seine
minnewunden ist der anblick seiner herrin, ihrer liehten färbe
(584,11, vgl. zuletzt xlvii), das hören manches süfsen Wortes
(584,16, vgl. zuletzt xlviii); da tut sein herz manchen sprung
(584,24, vgl. lvi; auch 584, 26. 27, vgl. mit liv, insbes. mit 572,7
herzen gründe), wenn ihm dann doch die schoene und guote
(584,29, vgl. zuletzt lv) in sein herz sehen könnte (585,1,
vgl. liv, früher xiv und xviii, 408, 29 Ql Gott weifs, ihre ere ist
ihm lieber als die seine (585, 7, vgl. 567, 11. 12; bes. 561, 1.
7. 14), sein leben lang will er ihr dienen. — mit ihrem ältesten
1 eine minnewunder schon 119, 22 (im maere).
2 vgl. ESchmidt Reinmar von Hagenau und Heinrich von Rugge
s# Hl ff. — min arzdt ist min munt Walther von Metze HMS i 307.
ULRICH VON LICHTENSTEIN 31
uutl grundmotiv (18, 8 io i, s. o.), das vor 3:> jähren Ulrichs
freudebedürftiger seele entsprang, schliffst auch seine lyrik:
sist min tröst für (rüren1 und min freuden (jebe.
Ob dieses letzte lied des Fl) würklich sein letztes lied ge-
blieben ist, ist freilich nicht sicher, er selbst glaubte, als er
sein memoirenwerk beendigte, er würde noch mehr singen, denn
er fordert zugulerlelzt freunde seiner kunst auf, künftige lieder
von ihm am eüde des FD nachzutragen (592,221). erhalten hat
sich aber aus der zeit von 1255 bis zu seinem mutmaßlichen
todesjahre 1275 2 nur das didaktische 'Frauenbuch' von 1257.
Überschauen wir die gesamtheit von Ulrichs liedern, so
sehen wir eine anzahl niotive auftauchen, wenige davon wider
verschwinden, weitaus die meisten nach kleineren oder grösseren
Zwischenräumen in veränderter gestalt wider auftreten und mit
anderen wechselnde Verbindungen eingehen, einige lassen sich
durch die gesamte lyrik hindurch verfolgen, von ihrer einfachsten
erscheinungsform im anfang bis zur endgiltig ausgebildeten am
schluss. es ligt eine deutliche entwicklung von motiven vor.
Mehrfach liefs sich sogar die entwicklung vorzüglich eines
motivs während eines engumgrenzlen Zeitabschnitts beobachten,
solche lieblingsmotive brachten dann natürliche gruppen auf-
einanderfolgender lieder hervor, die wählend einer bestimmten zeit
ein älteres oder neues thema vorderhand oder endgiltig er-
schöpften : lieder an frau Minne (x ; H. büchlein; xij, Scheltlieder
(\x — xxvi), wdmcisen (xxmi — xxxi), liebeslieder sinnlicher färbung,
vom tageliede ausgehend (xxxvi; xl — xlik); lieder auf den höhen
muot (xliv — xlm); kerkerlieder (xlvh, xlmii); lieder auf die
schoene und güete (u — lv); sinnliche lieder (lvi — lvii). ähnliche
grundstimmung zu ein und derselben zeit, die beliebtheit ähnlicher
slichworte, vor allem die häufig festzustellende enlstehung der
lieder aus erzählten Situationen heraus erwiesen den Zusammen-
hang der lieder unter sich und mit dem leben.
Aus alledem geht hervor, dass die lieder in der
historisch richtigen reihenfolge im FD stelin*, natilr-
1 derselbe ausdruck 401,9 (xiv).
- vgl. vFalke Geschichte des fürstl. hauses Liechtenstein (1868) i 123.
3 der gleichen ansieht sind Scherer (Zs. 17, 575 fT; Gesch. d. deutsch.
litt.3 211) und Schönbach (Biograph, blätter n 35/36). Roethes bedenken
32 BRECHT
lieh im ganzen genommen ; geringfügige Umstellungen mögen,
der besseren wilrkung wegen, hier und da vorgenommen sein ' ;
doch nicht so viele oder so starke, dass sie die folgerichtige
entwicklung irgendwie zu beeinträchtigen vermocht hätten.
Ohne den anschluss an die würkliche entstehungsfolge der
lieder wäre niemals eine fortschreitende Seelenschilderung von
soviel innerer Wahrscheinlichkeit, menschlicher wie poetischer,
zu erreichen gewesen, wie das lyrische gesamtwerk im FD sie
darstellt, und wie ich sie vereinfacht nachzuzeichnen ver-
sucht habe.
Schon das scharfe auseinandertreten der drei grofsen lieder-
gruppen, deren jede ja einem andern seelischen zustande evident
entspricht, wäre sonst undenkbar, am erkennbarsten ist die ein-
heit des inneren und äufseren Zusammenhanges bei den wdn-
wisen, die alle dasselbe grundthema, psychologie des 'frauen-
freien' mannes, behandeln und alle in dasselbe jähr fallen, aber
auch die lieder der ersten und der zweiten minne bilden einheilen
für sich, die sich deutlich voneinander abheben, in deren jeder
zusammenhänge und gleichartigkeiten zu constatieren sind 2.
Die sechsundzwanzig lieder der ersten minne fallen vom
23 (oder 25) lebensjahre des dichters bis ins 32 (oder 34) 3, und
repräsentieren würklich eine ausgesprochene jugendlyrik. schon
ihre gegenstände zeigen das. hier findet sich die hauptmasse der
frühlings- und winterlieder, die noch variationsfähigen treue-
gelöbnisse, die temperamentvollen scheltlieder. die lieder gehn
wesentlich auf persönliches, nicht auf allgemeines, der ton der
behandlung wechselt mit der Stimmung des dichters, beide mit
der Situation, in der sich der bewegliche gerade befindet.
Auch den wdnwisen steht lebhaftigkeit, feuer, wechselnder
ausdruck für die Stimmung noch ungeschwächt zu gebole. jedoch
der trocknere ton minnetheoretischer didaktik kündigt sich schon
daneben an; in den siebenundzwanzig liedern der zweiten minne
gegen die chronologisch richtige folge der lieder (Die gedichte Reinmars
von Zweter s. 112) vermögen mich nicht zu überzeugen.
1 tatsächlich seh ich keinen grund zu dieser annähme.
8 auch Schönbach betont den unterschied der lieder der ersten und
der zweiten minne, Zs. 26, 318.
3 vgl. vFalke aao. s. 59; Knorr s. 9; Schönbach aao. s. 17; Bechstein
s. xxiv dagegen setzt Ulrichs geburt schon 1198 an.
ULRICH VON LICHTENSTEIN 33
(vom 34 bis zum 56 lebensjahre) verdrängt er mit Beinen spitz-
liudigkeiteu allmählich den alten ton der lebensfrische, die pro-
dnetion lässt nach, die lieder werden durchschnittlich länger,
dabei leerer, der ton gesuchter, die bis zum Bberdruss betonte
fröblichkeit immer gemachter, man glaubt ihm seine lyrlk nicht
mehr recht, das erste Verhältnis hatte doch leben, wenn auch
ungesundes; das zweite ist nur der dichtung wegen da. gesuchte
metapbern, oft ohne bildkraft, treten an die stelle der einfach-
anmutigen« wenn auch traditionellen vergleiche der ersten periode.
von der virtuos stilisierten empfind ung bleibt schließlich nur noch
der stil übrig, er allerdings in unverminderter kraft, die Sicher-
heit der band bleibt die alte, ja sie nimmt noch zu, bis zum ende.
Dagegen schwindet immer mehr die kraft der erfindung, und
dies ist das bezeichnendste für die zweite periode. Ulrichs lyrik
lebt schliefslich ganz von alten moliven.
Sehr viele waren es von vornherein nicht gewesen, dafür
entschädigte manchmal Originalität, aber auch sie wird seltener,
immer be wuster, gegen ende gar fühlbar angestrengt, was sind
zb. alle formen, in denen Ulrich sein hausen im herzen der
herrin, das ihre in dem seinen, ausdrücken will, anderes als
überdeutlich-geschmacklose Übertreibungen des alten einfachen :
du bist beslozzen in minem herzen — ?
In der erfindung neuer motive, überhaupt im stofflichen kann
milbin Ulrichs bedeutung nicht liegen, eine andere frage ist es
mit der behandlung des gewonnenen rohstoffes, mit seiner Zu-
sammenfassung und Verteilung im einzeluen gedieht — hier be-
ginnt eigentlich erst der künstler — : mit der composition.
ZWEITES CAPITEL.
COMPOSITION.
Der erste schritt der form zur bewältigung des rohen Stoffes
ist die composition, die bewuste oder unbewuste anordnung der
gedanken und empfindungen nach bestimmten gesetzen.
Darauf hin angesehen lassen sich Ulrichs üeder in fünf
gruppen teilen, vier davon sind rein lyrisch, ihre Untersuchung
im folgenden steigt von der gruppe der lieder mit eiofachstem
bis zu denen mit complicierteslem aufbau empor : eine reihen-
folge, die mit der anordnung der gruppen nach wachsender an-
zabl der zugehörigen lieder bezeichnenderweise zusammenfallt.
Z. F. D. A. XLIX. N. F. XXXVII. 3
34 BRECHT
die fünfte gruppe, episch-lyrische gedichte, ist isoliert und um-
fasst nur zwei lieder.
A. Lieder mit gleichmäfsiger structur.
Die einfachste art des liedes ist die, in der ein einziges motiv
ausgeführt wird, ohne differenzierung in sich, ohne comhination
mit associierten motiven, sodass das gedieht ein gleichmäßiges,
ununterbrochenes, relativ unbewegtes ganzes darstellt.
Gleich das n lied drückt in allen Strophen nur den einen
gedanken aus : die nacht ist Ulrich lieber als der tag. nur die
erste und die letzte Strophe sind ein wenig herausgehoben, in-
sofern die erste natürlich den gedanken mit lebhafterem einsatze
ankündigt, die letzte in ihrem beginne sich auf den anfang der
ersten zurückbezieht, und den schluss des ganzen durch sehnsüch-
tigen ausruf markiert; die drei Strophen dazwischen haben nur
die aufgäbe, den in der ersten gegebenen, in der letzten aus-
klagenden gedanken dreimal kunstvoll zu variieren.
In gleicher weise führt das vi lied den einen gedanken, der
dichter ist durch seine dame unglücklich, aus. nur noch ein-
facher : anfangs- und schlussslrophe fallen als solche fort, nur
die beiden ersten und die letzte Zeile des ganzen machen durch
ausruf und aufforderung eiuigermafsen beginn und ende kennt-
lich, in jeder der drei Strophen erscheint der grundgedanke in
neuer form (110,7. 8; 26. 27. 111, 10. 11). eiu zu beginn jeder
struphe widerkehrendes Stichwort (yüete) hält aufserdem die Strophen
zusammen.
Das genaue gegenstück hierzu bildet das xxxvn lied, in dem
der entgegengesetzte gedanke, er ist froh durch seine dame, eben-
falls in deu langen Strophen dreimal wechselnd ausgedrückt wird,
die Strophen sind durch anaphorischen beginn (klimax : i tcol
mich, ii wol mich wol mich, in tcol wol wol mich) und durch
widerkehrende stichworte (freude, truren) verbunden.
In allen fünf Strophen variiert das zweite scheltlied xxi nur
den traurigen gegensatz : einst-jelzl .. jedoch zeigt sich eine leise
modificierung darin, dass je ein stiophenpaar den Vorfall mehr
vom jetzt, ein anderes mehr vom einst aus ansieht; beide paare
siud ineinander verschränkt (str. ii iv, str. m v; n ist 414, 16
iv müet 415, 5 : in begie 414, 23 v was 415, 15). die erste Strophe
ist im ausdruck allgemeiner, was nicht wunder nehmen kann,
der schluss ist nur äufserlich durch ein ganz kurzes envoi
ULRICH VON LICHTENSTEIN 35
(415,25. 26) markiert, gegen die gleichartigkeit des ganzen
kommen diese leichten ilnfseren Veränderungen nicht auf.
Das xlviii lied endlich verherrlicht das aussehen und die
ballung der geliebten, insbesondere ihr lachen, in fünf Btrophen,
denen keinerlei gedankenanordnung zugrunde ligt, aufser dass
das lachen ausdrücklich nur in den drei ersten erwähnt wird,
das eigentümlich wirre durcheinandergehn der motive ist vielleicht
aus seiner eutslehung zu ei klären : es ist das erste lied das
Ulrich seiner herrin auf das widersehen nach der mehr als ein-
jährigen kerkerhaft gemacht hat; in der freudigen erregung mag
er seine offenbar sehr lebhaften eindrücke, die interessanterweise
sämtlich reminiscenzen früherer eindrücke darstellen (s. o. s. 27
0. vgl. FD 548, 1 — 5), so ungeordnet ausgesprochen haben.
Diese fünf lieder fallen in die jähre 1223, 1228, 1231,
1233 ff, 1249. schon früh also, und noch spät, zeigt sich die
freude des virtuosen am kuustmäfsigen variieren eines themas. am
anl'ang der mhd. lyrischen kunstsprache wären sie nicht zu denken.
B. Sich steigernde oder zuspitzende lieder.
Element der gliederuug eines gedichtes ist die gedanken-
(oder gefühls-)entwicklung. die einfachste form, in der sich ein
gedieht von gleichnuifsiger struetur dem gegliederten aulbau an-
nähern kann, ligt also vor, wenn das grundmoliv vom anfang bis
zum schluss sich gleichmäfsig entwickelt, um auf der hübe ab-
zubrechen, dazu kann drängendes gefühl treiben, dann hat man
es mit einer Steigerung; oder dialektischer verstand, so hat man
es mit einer Zuspitzung des gedaukens zu tun; beides kann auch
zusammentreffen.
Lieder dieser art hat Ulrich zu allen Zeiten seiner lyrischen
produetion gedichtet (sechs: 1222/23, 1226, 1232/33, 1233 ff,
1241 << > 45, 1252 <C > 55), ein beweis, dass diese form
einer grundrichtung seines talentes entsprach, gleich sein erstes,
jugendlich reizvolles lied beginnt mit dem lobe der trauen in
schüchterner allgemeinheit und steigert sich mit guter würkung
in vier Strophen, deren dritte unerwartet mit directer anrede
einsetzt, zu liebeserklä'rung und dienstgelobnis. iu hastigen kurz-
versen steigert der reie xxix, von der frühlingsschilderung aus-
gehend, die empündung ungestümer lust, von Strophe zu Strophe
deutlicher werdend, über zwei allgemeinere miunestrophen hin-
weg, zur Verherrlichung des kusses (str. 4) und zur umarmung,
3*
36 BHECHT
in der fünften slrophe, die er mit schalkhafter frage und ganz
kurz daraufgesetzter verhüllender antwort schliefst (strophen-
anfangsanapher str. 2 u. 3, responsion des artikellosen Stich-
wortes am anfang str. 4 u. 5). ruhiger als dieses brillante bravour-
stück stellt das minuiglich gespreizte lied lvi genau die gleiche
gefühlsentwicklung dar. heftige Sehnsucht erweckt die Vorstellung
des lachens der geliebten (str. 2 — 3), steigert sich zum wünsche
des küssens (str. 4 — 6) und der diesmal in züchtigem ernst nur
angedeuteten umarmung (str. 7). nicht soweit geht xlii, das
sich über Wortspiele und absurde einfalle hinweg (s. o. s. 24) zu
der pointiert vorgetragenen, durch besonderes envoi noch ver-
stärkten schlüsselte erheht, ihn in ihr herz einzulassen.
Es leuchtet ein, wie vorteilhaft solche art des gedanken-
fortschrittes für ein gespräch sein muss, das darauf ausgeht, einen
einzigen gegenständ durch rede und gegenrede zur höchsten
wüikung zu bringen, würklich sind alle drei dialoge Ulrichs
gleichmäfsig nach dieser weise gebaut, der erste, x, in dem er
sich über die hartherzigkeit seiner herrin bei frau Miune be-
schwert, steigt von der klage zum verlangen nach trost auf, und
gipfelt im lebhaften ausdruck neuer Vorsätze und frischer hoff-
nung. Ulrichs drei Strophen drängen vor, die anlwortstrophen
der frau Minne halten zurück : beide unterredner vereinigen sich
in der siebenten Strophe : eine sehr anmutige form der Steigerung
durch retardationen hindurch bis zur Schlusshöhe, mehrverstandes-
mäfsig zugespitzt ist Ulrichs dialog mit einer dame (xxx), der in
eleganter dialektik der conversation das wesen der minne ausein-
andersetzt, um mit plötzlich hervortretender Werbung und ebenso
plötzlich erfolgendem korbe witzig pointiert zu schliefsen. ein
gleiches ende nehmen die übertriebenen complimente Ulrichs in dem
charakteristisch höfisch-gezierten dritten dialog xxxn. auch hier wie
in x und xxx haben die Strophen der dame retardierende geltung,
auch hier ist die letzte Strophe auf beide gesprächspartner verteilt.
Offenbar hat die kunstvolle Steigerung zu Ulrichs Vorstellung
vom lyrischen dialog gehört, in den anders gearteten dialog-
partien der tagelieder ist er durch tradition gebunden.
C. Lieder die allgemeines und specielles
zusammenstellen.
Die bisherige entwicklung der composition lässt sich weiter
verfolgen, die erste möglichkeit war, den gedanken eines ge-
ULIUC1I VON LIECHTENSTEIN 37
dichtes ungegliedert, höchstens durch variierung nuanciert, hin-
zustellen, die zweite, ihn durch Steigerung oder Zuspitzung am
ende schlagkraftiger zu machen. nun setzt die wirkliche glie-
derung ein; die einfachste, die in zwei teile, da zeigt sich, dass
alle zweigeteilten gedichte L.s nach demselben princip geteilt
sind : ein allgemeiner zustand oder ein allgemein gütiger s;it/.
wird vorangestellt, an ihn als specialfall analog oder antithetisch
des dichters persönlicher zustand angeschlossen; fast immer mit
bewust markiertem ühergang. der Zusammenhang mit den (be-
grifflich) früheren compositionsarten verleugnet sich nicht : noch
immer handelt es sich nur um einen grundgedanken, noch immer
spielt das variieren eine nicht seilen wesentliche rolle für die Pro-
portionen des gedichts.
a. Minnelehre und Ulrichs persönliche minne.
Neigung zur minnedidaktik zeigt sich bei Ulrich schon früh,
gleich das i lied beginnt mit einem allgemeinen minnesalze:
Wibes güete niemen mac
volloben an ein ende gar l.
was hier nur zwei Zeilen füllt, wird später ausgeführt und bildet
einen eignen teil des gedichtes, der mit zunehmendem lebens-
alter und zunehmender neigung zur didaktik so stark an-
schwellen kann, dass er gelegentlich den allergrösten teil des
liedes ausmacht, hinter dem die darstellung des persönlichen ganz
zurücktritt.
Das wechselnde Verhältnis beider teile bildet die grundlage
einer systematischen betrachtung.
10 liedern, in denen der zweite teilMes gedichtes gröfser ist
als der erste, stehn 7 gegenüber, in denen der erste, didaktische
leilüberwiegt.
Als grundform ergibt sich das Schema:
2 str. -f- 3 str.:
xlv : Ein mann ist verloren, wenn er nicht durch frauen
froh wird (str. 1 u. 2) : Ich bin vrö von einer rösen — (str.
3 — 5, mit preis der rose).
xlvi : Frauen wollen fröhliche männer sehen (str. 1, str. 2
bis zum vorletzten vers) : ich will immer noch mehr froh
1 aufserhalb dieses compositionstypus findet sich der sentenziöse ein-
gang in i. xvi. xxii. li, minnedidaktik in x. x\x. xlii.
38 BRECHT
sein durch die meine (bis zum schluss; der Übergang fällt
hier schon in den schluss der zweiten Strophe).
xlix : Nur der höfische mann hat aussieht auf erfolg bei
frauen (str. 1 u.„2); dessen getröstet sich auch Ulrich bei der
seinen (str. 3 — 5; ich vers 554, 6; kenntliche anknüpfung
mit Und — ).
Lii : Man soll frauenlob singen , denn sie verstehn es,
gut zu lohnen (str. 1 u. 2); so sieht man auch Ulrich voller
freuden, wegen einer frau, deren lob er nun singt (str. 3 — 5). —
deutlicher Übergang 563,13 ( — mich — ).
Beide teile wachsen um je eine Strophe:
3 str. -f- 4 str.:
xxm : Der dichter rät allen männern, sich durch frauen-
liebe höhen muot zu gewinnen (str. 1 — 3) : er selbst (Ich
— 426, 24) will es darin nicht an sich fehlen lassen (str. 4 — 7).
Das xxvi lied ist ein auszug des xxv, des leiches, bei dem
der zweite teil der ausfuhrung desselben grundgedankens
gar doppelt so lang geworden ist als der erste : 14 gesätze
gegen 7 gesätze, die grenze befindet sich bei 424, 7 (Min
muot von wiben höhe stdl); von da an ist alles darstellung
persönlichen glucks und Unglücks, bis dahin alles sachlicher
minnerat (423, 1 f: Ich rät im, ere gerende, man — — Ob
ir weit teerende frext.de hin, so sit den wiben undertdn).
Der erste, sachliche teil überwiegt den zweiten, persönlichen,
geringster umfang des ersten teils:
3 str. -f- 2 str.:
xviii : Die bedeutung von huote und merken im allgemeinen,
Ulrichs vrouwe kann (ihrer) hüeten, aber offenbar kaun oder
will sie (seine liebe) nicht merken, stark betonter Übergang
40S, 20 (Min vrouwe—).
xxm : Minne kann nicht bestehn ohne triwe und steete:
seine dame hat keine triwe an ihm erzeigt, ausdrücklich
nutzanwendender Übergang 419,22 (dd bi kius fcÄ, daz
diu he're — ) l.
1 möglicherweise ist dies lied um zwei Strophen zu vermehren, es
finden sich nämlich, wie schon Lachmann (zu Walther 116, 33) bemerkte,
zwei Strophen seines tones zwischen slr. 4 und str. 5 des folgenden liedes
xxiv ungehörig eingeschoben, aber nur in L. Lachmann folgerte daraus:
'ohne zweifei waren sie auf dem rande nachgetragen, und fehlen daher der
ULKICII VON LICHTENSTEIN 39
Der zweite teil wird um eine Strophe verkleinert:
3 str. + 1 slr. :
vii : Freude soll man durch frauenliebe haben; dem dichter
aber ist we. liier erscheint der zweite teil bereits zur blofsen
schlussslrophe zusammengeschrumpft.
Die andre möglichkeil ist die, den ersten teil zu vergrößern :
4 s t r. + 2 str. :
xxvu : Nur frohgemute mSnner machen eindruck auf
Trauen : darum will auch Ulrich seinen zornmul lassen, be-
tonter Übergang 428, 25 (Ich wil hohes muotes sin —
usw.).
Die anschwellung des ersten teiles ist hier durch gekreuzte
parallelslrophen, also durch Variation des ausdrucke, erreicht:
str. 2 und 4 sagen negativ eingekleidet dasselbe, was str. 1 und
3 affirmativ ausgedrückt hatten.
lis. G gänzlich', es fragt sich nun, ob dieser nachtrag unter U.s autorisation
stattgefunden hat oder nicht; dass die Strophen von ihm stammen, ist nach
Stil und metrum zweifellos, findet man grund genug, das erste anzunehmen
(es könnten auch Strophen sein, die aus einem frühern liederliche unerlaubt
nachgetragen worden Bind, während Ulrich selbst sie bei der von der ab-
fassung des liedes durch 24 jähre gelrennten redaction des FD etwa aus
poetischen gründen unterdrückt halte), so ist man verpflichtet, die Strophen
wider einzustellen. Lachmann wölke sie aao. zwischen str. 3 u. 4 von xxm
einschieben; er hatte sich in seiner ausgäbe begnügt, sie am alten orte ein-
geklammert stehn zu lassen. Beckstein s. 141 anm. hat die Umsetzung
bestritten; und in der tat geht es nicht an, den scharfen Übergang vom
allgemeinen minnesalz des ersten teiles zur persönlichen anwendung des
/weiten 419, 22 {da Li kius ich usw.) durch einschub zu unterbrechen,
dagegen passen die Strophen vorzüglich an den schluss, hinter str. 5; in
der responsion des strophenanfanges, die Ulrich zur kennzeiclmung von
zusammengehörigen gedichtteilen, auch Schlüssen, liebt (s. u. cap. m), wie
auch im gedankengang. wir hätten dann nämlich eines jener gedichte vor
uns, die den compositionstypus C (allgem. -f- spec.) durch hinzufügung eines
dritten, widerum allgemeinen teiles ganz oder nahezu symmetrisch abrunden ;
vgl. unten unter D zb. das xxu lied, das aus 2 allgemeinen -4- 3 speziellen
-f- 2 allgemeinen Strophen besteht, das Schema von xxm wäre dann:
typus D (3 -f- 2 -f- 2). — der einwurf Bechsteins aao. , durch die end-
anfügung würde 'der eindruck der Schlusswendung beeinträchtigt', ist nicht
ausschlaggebend, es wäre ja möglich, dass U. um des persönlich pointierten
Schlusses 420, 7 Milien die fraglichen Strophen später weggelassen hätte,
im allgemeinen legt gerade er gar keinen wert auf würkungsvolle Schlüsse,
das moderne bedi'ufnis am schluss raketen steigen zu lassen ist ihm, ver-
schwindende ansalze abgerechnet, noch ganz fremd.
40 BRECHT
Der erste teil wächst noch weiter:
5 str. -j- 2 str.:
xxxvni (2. uzreise) : sachliche anweisung zur rittertugend
im turuier; ruf nach den waffen, um die lehre gleich selbst zu
betätigen. Übergang 457, 27 {—mansol mich hiute schouwen—).
liv : Der dichter sieht allen frauen in die herzen; er hat
auch seiner herrin ins herz geseheu. markierter Übergang
572, 12 (Ich—).
In den letzten zwei fällen würkt der zweite teil vollends nur
als abschliefsende nutzanwendung.
b. Zustand der natur oder menschen weit und
Ulrichs persönlicher zustand.
Die rolle des allgemeinen braucht nicht ein minnesatz, eine
geltung beanspruchende reflexion zu spielen; an seine stelle tritt
in einigen fällen ein anderes allgemeines, natur oder menschen-
weit oder beides zusammen. mit ihm wird dann ebenso des
dichters persönlicher zustand zusammengestellt.
Auch hier ist das grundverhälinis:
2 str. -f- 3 str.:
xxxi : Die vöglein singen im frühling; so singt auch er —
nämlich von guoten wiben. ausdrücklicher Übergang 437, 3
(—ich—).
Dieser fall, dass Ulrich sich allein mit der natur vergleicht,
ist bei seiner überwiegenden richtung auf menschliches Sin-
gular, in den folgenden liederu vergleicht er sich mit beidem
zusammengenommen.
v : Der sommer, die zeit des frauendienstes, ist vergangen,
der verhasste winter kommt : was soll vollends er mit dem
winter, da schon der sommer nicht gebracht hat, was er
wünschte? — markierter Übergang 104, 23 (betontes mir).
xvii : Der sommer ist gekommen; in dieser freudenzeit
preist man die frauen : damit preist er die seine, ausdrück-
licher Übergang 406, 15 (ja mein ich die frowen min).
xxxiv : Der winter weicht, mit ihm sorge und angst der
menschen : so will auch er hohes muotes sein (445, 1 1
— ich — ).
Der erste teil wächst an, weil sein inhalt vom dichter als
besonders traurig empfunden wird; dem gegenüber schrumpft der
zweite teil zusammen:
ULHICII VON LICHTENSTEIN 11
3 s t r. -f 2 s t r. :
l : Der sommer ist verschwunden, was ligt viel daran?
viel trauriger ist der beklagenswerte zustand der Zeitgenossen,
die nicht mehr frühlichen minnedienst treiben wollen \ er
selber allerdings ist frohgemut durch eine frau. — schule
grenzscheide zwischen 556,8 und 9 (betontes mir — ).
Zu einer würklich ausgeführten naturschilderung kommt
es in den drei letzten liedern nicht, das l lied zeigt den grund
da für mit besonderer deutlichkeit : die natur war ihm wesent-
lich doch nur litterarisches motiv. —
Auch die soeben besprochene compositionsweise ist nicht
an eine bestimmte periode in Ulrichs leben gebunden, die nach
ihr gebauten lieder finden sich vielmehr von dem (vermutlich)
dritten jähre seines dichtens 1224 an, bis 1252. nur dass <Jie
lieder mit ungewöhnlich angeschwollenem lehrhaften teil in spätere
jähre fallen — xxxu, xxxviii, liv in die jähre 1233, nach 1233,
und 1252 — ist wol nicht zufällig.
D. Symmetrisch gebaute lieder.
Die letztbehandelte composilionsart war geeignet, einen ge-
danken zweigliedrig auszudrücken; der gedanke tat damit gleich-
sam einen Listen schritt aus sich hinaus, aber es war nur eine
Ode vergleichung, die damit erreicht wurde, noch fehlte die
Möglichkeit, dass der gedanke wider zu sich, zu seinem aus-
gangspuncte, zurückkehrte; geschlossene gedankenreihen, ge-
fühlscomplexe konnten nicht ausgedrückt werden, ebensowenig
war es der Zweiteilung möglich, den gedankengang eines ge-
dichtes aufwärts zu einer pointe und wider herunter zu einem
allgemeinen gedanken, die gefühlsentwicklung zu einem höhepunct
intensivsten ausdruckes empor und wider zurück in die ruhe
zu führen, all diese müglichkeiten erreicht erst die drei- —
oder mehr- — teiluug. sie vervollständigt die beiden vorher-
gehnden composilionsarten, die gewissermafsen nur ein halbes
oder zweidrittel gedieht zustandebringen : der einteilung allge-
meines -|- specielles fügt sie abrundend das allgemeine wider
an; die gedichte, die nur eine Steigerung zu einem höhepunete
darstellen, macht sie geschlossen, indem sie den abstieg dem
anstiege zugesellt.
Das schon hierin sich aussprechende bedürfnis nach
harmonie der teile ist die Ursache, dass alle drei- und mehr-
42 BRECHT
geteilten gediente Ulrichs sich als symmetrisch gebaut heraus-
stellen *.
Diese Symmetrie kann so beschaffen sein, dass sich ein
markierter höhepunet vorfindet, der consequentenveise häufig
in der mathematischen mitte des gedichtes ligt; an ihm wird
dessen hauptinhalt in der kürzesten form als quintessenz aus-
gesprochen (achse des gedichts). oder das lied entbehrt eines
solchen höhepunetes und begnügt sich damit, in genau corre-
spondierenden gleichen teileinheiten sich zu entfalten.
a. Dreiteilige li eder.
Die einfachste form des dreiteiligen liedes ist natürlich die
nach dem Schema:
1 s t r. + 1 s t r. -}- 1 s t r.
dh. jede Strophe enthält einen nur ihr eignen teilgedanken. nach
ihm ist nur ein lied, das
xv. gebaut, str. 1 sucht bei allen guten frauen freundes-
rat gegenüber seiner dame, um die der dichter so klagen
muss, dass er in den ruf des kopfhängers kommt; str. 2 spricht
den vorsatz aus, sich gegebenenfalls anderswo umzutun;
str. 3 wendet sich wider an die guten frauen und kehrt zum
anfangsgedanken zurück : erhöre ihn seine dame doch noch,
so würde er ohne jenes gewallmittel seinen alten frohsinn
zurückgewinnen, die hauplsache im gedieht, zugleich der
höhepunet der Stimmung, befindet sich genau in der mitte,
der auf einen die halbe zweite Strophe füllenden conditional-
satz folgende, energisch prononcierte vers 403,6:
so muoz ich suochen durch not mir ein ander Uz.
bis dahin ist alles langsamer aufstieg, von dort an lässt die er-
regung nach und langt in derselben zeit wider beim anfäng-
lichen zustande an. um diese achse gleichsam dreht sich
das lied.
Diese grundform lässt sich weiter entwickeln, anfangsstrophe
und schlussstrophe zwar erweitern sich nicht leicht, da sie re-
spondieren, ihre vergröfserung also schon eine beträchtliche Ver-
änderung des gedichtes bewürkt. desto entwicklungsfähiger ist
der mittlere hauplteil, der den grundgedanken trägt, es ergibt
sich zunächst das schema
1 mit ausnähme von drei liedern, bei denen es durch erkennbare Ursache
nicht zur mathematisch genauen Symmetrie gekommen ist. s. u.
ULRICH VON LICHTENSTEIN r.\
1 str. + 2 str. + 1 slr. :
IX. Schilderung des niais als ei nleitu ng : str. 1; Ulrich
ist unglücklich trotz des mais, in zwei parallelstrophen ausge-
drückt: ßtr. 2 und 3; als scbluss erwabnung des augenblick-
lichen zeitpunctes (Romfahrt) und fUrbitte für die dame: str. l.
Der mittelteil wird weiter vergrößert:
1 s t r. + 3 s t r. + 1 s t r. :
iv. Erste Strophe, ein I e i tun g : Schilderung des maien;
zweite, dritte, vierte Strophe, ha u p tteil : schwankende hoff-
nungen auf erhörung durch seine dame; fünfte Strophe,
schluss: preis des maien. quintessenz und böhepunct des
inhalts, das ziel seiner sehnsüchtigen holTnungen, in der
zweiten hallte der mittelsten (dritten) atrophe, durch drei-
malige anaphora gekennzeichnet:
Daz diu vrewle lange wer,
daz ich weinent iht erwache,
daz ich gegen dem tröste lache,
des ich von ir hulden ger.
xix. str. 1 : der dichter ist froh im gegensatz zur (herbst-
lichen) well; Strophe 2, 3, 4 : grund seiner freude : seine
dame 'lullet' ihn vor traurigkeil; Strophe 5 : verhüllte angäbe,
wodurch etwa seine freude aufhören könnte ; und was daraus
entstünde. — hauptsache und höhepunct in der mittelsten
Strophe, 410, 9—11 :
Hueten ist den seilenden leil:
also wünneclichiu huote
wäre mir ein swlikeit.
Der ganze mittelteil, dh. also eigentlich das lied, spielt näm-
lich mit dem als Stichwort aus dem vorhergehnden liede
übernommenen begriff der huote (in Lichlensteinischer Um-
bildung, s. s. 8). hier zeigt sich zum ersten male die leitende
bedeutung des Stichworts für die composilion : anfangs- und
schlussstrophe haben es nicht, die drei hauptleilslrophen da-
gegen sind erfüllt von hueten und huote, die mittelste hat es
drei-, die zweite und vierte je eiumal.
Die erweiterung des mitlelteiles schreitet fort:
1 str. -4- 4 str. -f- 1 str.
xiv : auch hier leitet schon das Stichwort auf die richtige
erkenntnis der composilion. eine einleituugsstrophe, unglück
44 BRECHT
durch seine dame, am ende mit Vorbereitung auf das Stich-
wort (399, 13 — 15), das aber — raffiniert — auch am anfaug
der zweiten Strophe noch nicht erscheint, sondern diese holt
noch einmal aus und kommt erst in ihrer mitte auf das
wünschen, das nun die vier mittelstrophen, bis zur mitte
der vierten Strophe, erfüllt, intensivster ausdruck des lied-
inhaltes, also höhepunct, genau an der mittelachse,
400, 10. 11;
er [der wünsch) wünschet dar [an ir munt] wol tüsent stunt,
näher unde naher baz und aber baz.
Eine schlussstrophe : sie verlassen? nein 1 —
Dasselbe Schema der Symmetrie ligt trotz anderem an-
schein vor in xliii. Strophe 1 : einleitung, freude durch
seine dame; Strophe 2 — 5 : der grund davon : ihr lachen —
Stichwort, nur in diesen Strophen vorkommend, dieser mittel-
teil ist durch übergreifen eines Strophenpaares über das
andre weiter modificiert. Strophe 2 kündigt der herrin
zweier hande lachen (521, 1) an, Strophe 3 preist einez (521,7)
davon, Strophe 4 das andere, Strophe 5 nimmt das motiv von
Strophe 2 ausleitend wider auf.
Der schluss sollte nun der Symmetrie wegen nur 6ine
Strophe umfassen, es sind aber, da er gerade die Schönheit
der dame preist, unversehens zwei daraus geworden (str. 6
u. 7) : ein fall, der noch öfter begegnet. Schema:
1 str. 4- 4 str. + 2 str.
Die Symmetrie ist also nicht fehlerlos zum ausdruck ge-
kommen; die structur des gedichts ist deswegen doch sym-
metrisch, und zwar ohne höhepunct : Strophe 3 und 4 bilden
gleichmäfsig den gipfel, Strophe 2 steht 5, Strophe 1 steht
6 und 7 gleich, um es einmal als curve darzustellen :
III — IV
/ \
n v
/ \
I VI — VII.
Die vergröfserung des mittelteiles erreicht, da Ulrich über
siebenstrophige lieder nicht hinausgeht, ihren gipfel in der form:
1-1-5 + 1:
xx. Strophe 1 : klagender anruf aller edeln frauen ; Strophe 2
bis 6 klage über seine dame, mit höhepunct an der ge-
ULRICH VON LICHTENSTEIN 45
natien mittelachse, in der ganzen, hoch pathetischen
vierten Strophe : Si rouberinne etc. Strophe 7 guter ab-
sclilnss : drohung. — das ansteigen der erregung in Strophe 2
und 3, ihr nachlassen in den nur nachtrage gebenden, mühsam
verschweigenden Strophen 5 und 6 ist unverkennbar, be-
sonders charakteristisches gedieht, um so hervorragender, als
es, nach dem wahren ausdruck der empfindung zu schliefsen,
offenbar im affect gemacht ist. die subjeetive Wichtigkeit des
hauptteiles erklärt natürlich hier seine grofse ausdehnung.
Lvii. str. 1 : einleitung : wünschen macht dem dichter
freude. str. 2 — 6 : sein wünsch führt ihm die vision vor, die
in der mittelsten, vierten Strophe, als hauptin halt des
gedichtes, geschildert wird :
Zuo uns kam diu werde Minne
unde slöz uns beide vaste in ein usw.
str. 2 und 3 führen zu dieser Strophe hin, indem 2 ihren
Inhalt ankündigt, 3 ihn mit verhüllenden Worten andeutet,
das Stichwort wünschen behalten beide noch bei. nachdem
das ziel des wünschens aber offen beschrieben, leiten 5 und 6
wider zurück, indem 5 im allgemeinen die umarmung preist,
6 im besondern, auf Ulrich (Ich 583, 13) und seine hoffnung
bezogen, als schluss (str. 7) dient hier einmal ein allgemeiner
minnesatz (der sich aus dem vorhergehnden ergebende), wie
er sonst gelegentlich den a usgangsp u net bildet; das ganze
gedieht bis dahin ist ja rein persönlicb. wäre nicht der
deutlich symmetrische aufbau mit seinen proportionen, so
würde man das lied gewissermafsen als nach dem schema
6 Strophen specielles + 1 Strophe allgemeines (umkehrung
der compositionsart C) gebaut aulfassen können, curve:
/,V\
/UI \
i. vi
v VII
Der erweiterung fähig sind natürlich auch anfang und schluss.
in vier fällen findet die erweiterung statt, ohne dass der mittel-
teil ebenfalls vergröfsert wird, infolgedessen wird die Vorwärts-
bewegung eine gauz andere, der mittlere teil gerät als haupt-
teil in gefahr.
46 BRECHT
Die einfachste ervveiteruug bietet das Schema :
2 + 1 + 2:
xin. str. 1 und 2 enthalten als einleitung den preis des
maien und den vergleich der dame mit ihm; wie er möge sie
dem dichter trost gewähren, welcher trost dies sein soll,
deutet die dritte, mittelste Strophe an ; sie, und mit ihr das
ganze gedieht, gipfelt in den sehnsüchtig-pathetischen fragen
(mittela chse) :
Wenne kumt mir freuden schin?
wenne wiltu, soelic frowe, gefreun daz sende herze min?
str. 4 und 5 gehören zusammen wie 1 und 2. sie schliefsen
ab, indem sie die dame bitten, den dichter allen guten frauen
zu lassen, oder besser, nach dem vorbilde guter frauen ihn
zu erhören, an- und abstieg sind besonders deutlich ab-
gesetzt. 1 und 2 sind parallelstrophen, in denen doch
dadurch, dass die einzelnen Wendungen deutlicher werden und
widerholten fragen widerholte autwort folgt, sich eine unauf-
dringliche Steigerung zur miltelhöhe vollzieht : ein hauptkunst-
mittel Ulrichs.
xxxv ist genau entsprechend gebaut, die beiden ersten
Strophen, parallelen inhalts, warnen vor dem winter, die
mittelste (3) rät das hauptmiltel gegen ihn, man solle
— in die Stuben wichen,
da mit iciben wesen vrö.
dies ist der kern des gedichts, genau in der mitte (achse).
gleichzeitig stellt die Strophe den Übergang zu str. 4 und 5
dar, die mit dem nun allgemeiner gefassten gedanken, die
frau sei des mannes trost, den naheliegenden abschluss bilden,
eine leichte Verengerung lässt sich in den beiden parallel-
strophen 1 und 2 bemerken — das hiuser splsen der zweiten
Strophe 446, 11 führt schon auf die stuben der hauptslrophe,
während die Warnungen der ersten ganz allgemein waren;
eine deutlichere findet von 4 zu 5 statt : 4 gilt Ulrichs liebe
aller frauen, 5 der liebe speciell seiner dame. —
Beginnen schon bei diesem Schema anfang und schluss den
Charakter selbständiger gedichtteile anzunehmen, so wird bei noch
gröfserer ausdehnung dieser partieen gar die aufteilung des gedichts
auf zwei gedanken erreicht, die mittelste Strophe verliert ihren
Charakter als rest des hauplteils und erhält einen neuen sinn.
ULRICH VON LICHTENSTEIN 47
3 + 1 + 3 :
XLI. slr. 1 — 3 : der dichter sehnt sich in das herz der
dame, mit ihm sein höher muot (erstes motiv); slr. 5 — 7 :
sein höher muot ist bereits mit ihr in seinem herzen (zweites
motiv): str. 4 verbindet nun beide motive :
ich hän in [nämlich den höhen muot] zuo dir geslozzen
in min herze — ,
genau in der mitte des gedichts (516, 3. 4, m ittelachse);
der hauptteil ist zur übergangsstrophe herabgesunken, in der
allerdings noch die quiniessenz des gediente, aus der Ver-
schmelzung beider motive hervorgegangen, enthalten ist. geuau
ebenso verbindet in
xl\ii die mittelste Strophe (4) die zwei motive des gedichts,
den preis des ganzen weiblichen geschlechts (str. 1 — 3), mit
dem speciellen lob seiner herrin (slr. 5 — 7), in sehr geschickler
weise :
durch si e're ich elliu wip,
so verschmilzt der mittelste vers der Strophe, der den gedank-
lichen höhepunet des gedichts darstellt (genaue m ittel-
achse 545, 27), das miner vrowen güete im ersten mit
allen vrouwen im letzten verse derselben Strophe. —
Eine normalere entwickluug fiudet statt, wenn mit dem
anfangs- und schlussteil zugleich auch der miniere erweitert wird,
hierbei wird der hauplteil geschützt, und die allen proporlionen
geraten nicht ganz in Vergessenheit.
Alle drei teile schwellen um je eine Strophe an :
2 + 2 + 2:
xxrv. dem einleitungsgedauken, der die Sehnsucht
nach freude und ehre ausdrückt (str. 1—2), folgt als haupt-
teil die anküudigung des enlschlusses, der sorge valet zu
sagen und sich der freude zu ergeben (str. 3 — 4). den
schluss bildet die schon am ende des hauptteils (421, 15)
angedeutete angäbe des mittels zu künftiger freude : ein guot
wip (str. 4 — 5). — die drei Strophenpaare sind analog gebaut.
1 — 2 und 3 — 4 respondieren geradezu, indem 1 wie 3 einen
allgemeinen satz ausführt, dem in 2 wie in 4 der eigene
speciallall folgt (ich erst am ende von 1 und 3, 420, 22.
421,8; dagegen in 2 und 4 vom ersten verse ab durch-
gehend) : der alte compositionslypus, allgemeiner satz und
48 BRECHT
persönliche nutzanwendung, hier wird also einmal zur glie-
derung von gedichtteilen verwant. aber auch von 5 zu 6
fiudet, wenn auch weniger ausgeprägt, eine gewisse speciali-
sierung in den hezeichnungen für die erhoffte freundin (von
guotiu wip bis die) statt, der schluss knüpft mit ere (422, 10),
die triiren verhindert (422, 10), an den eingangsgedanken, die
gleichsetzung von freude und ere (420, 23. 24), wider an. —
Der hauptteil wird um eine Strophe mehr erweitert als anfang
und schluss. es entsteht der schön proportionierte aufbau
2 + 3 + 2:
xxii. einleitung: preis der guten frauen (str. 1 — 2);
hauptteil : Scheidung der guten von den falschen (Übergang
str. 3 v. 1 — 3), polemik gegen seine falsche herrin (str. 3 — 5);
schluss : rückkehr zum preis der guten frauen, denen die
trennung von den falschen nur zum segen gereichen kann
(str. 6 — 7). — dies lied ist ein prototyp der gedichte, deren
bau man als Vervollständigung des typus C auffassen kann :
str. 1 — 2 allgemein, 3 — 5 speciell, persönlich, 6 — 7 wider
allgemein, str. 1 — 5 allein wäre als Lichtensteinscb.es lied
nach schema C 2 + 3 durchaus möglich gewesen.
xxxii. begrüfsung des höhen muotes im herzen des dichters
(str. 1 — 2, einleitung). preis der frau, die ihm den höhen
muot gesendet hat (str. 3 — 5, hauptteil), sie mit ihm zu-
sammen in des dichters herzen, ausdruck der freude wie zu
anfang (str. 6 — 7, schluss).
xxxix. der winter ist widergekommen; das schadet nichls:
dem dichter hat ein weih höhen muot gesendet (vgl. xxxn;
str. 1 — 2, einleitung). preis ihrer vornehmen und huld-
voll-anmutigen haltung (str. 3 — 5, hauplteil). Schilderung
ihres äufseren, ihrer färben braun, rot, weifs, ihrer art sich
zu bewegen (str. 6 — 7, schluss).
xliv. dem gewöhnlichen einleitungsgedanken : höher
muot des dichters durch ein wip (str. 1 — 2), folgt als haupt-
teil die Schilderung seiner freude über ein wort der dame
zu ihm (str. 3 — 5, das Stichwort wort wider nur in diesen
drei Strophen, deren letzte in ihrer Verallgemeinerung bereits
den Übergang zum folgenden vorbereitet), den schluss
macht die schon in den letzten zwei versen der dritten Strophe
angekündigte aufzählung alles guten, was er von ihr hat
ULRICH VON LICHTENSTEIN 40
(str. 6 — 7, durch anfangsanaphora der ersten zeile zusammen-
gehalten).
Diese vier lieder haben sämtlich keinen markierten höhe-
punct. in den anmutigen Verhältnissen der compositum beruht
ihre ganze würkung. wol nicht zufällig sind bei ihnen die
teile besonders deutlich abgesetzt, man vergleiche die schallen
teilgrenzen des xxn liedes, anfang von str. 3 und 6; des
xxxix desgl., 507, 27 und 508, 22; und namentlich des xliv,
in dem die eiusätze Mit rölsüezem munde — 524, 26 und
Ich hdn von ir ere — 525, 15 besonders Irisch würken. die
lieder gehören in vieler hinsieht zu den gelungensten Dlrichs. —
Nach demselben Schema gebaut, aber im einzelnen etwas
anders behandelt ist das lied
vhi. thema ist hier ein metaphorisches bild : der dichter
hat seine herrin in sein herz gelegt (vgl. soeben xxxn und
s. oben s. 22). dieser gedanke wird in der ersten ein-
lei tungsstrophe (1) sogleich als bild angedeutet (gevangen
— in fanden), die zweite einleitungsstrophe führt nur den
bildlosen nachsatzgedanken der ersten Strophe aus. erst die
dritte nimmt das bild wider auf, und beginnt so, indem sie
zunächst nur die Werkzeuge der fesselung namhaft macht, den
hauptteil, dessen mitte in str. 4 erst den höhepunet des
gedachtes darstellt, hier sagt der dichter endlich, in welches
gefängnis er die herrin gelegt hat und wer dort ihr loos teilen
muss (126,12 — 15, mittelachse, hervorgehoben durch
pathetische anfangsanapher zweier verse). den hauptteil
schliefst die erörterung der freilassungsaussichten in str. 5.
die Strophen 6 und 7 verraten zum schluss in nüchterner
rede, welcher gedanke hinter dem bilde steckte; nämlich,
dass die dame den dichter nicht verhindern könne, so oft
und so herzlich an sie zu denken, wie er wolle.
Die teilmotive sind also hier nicht verschiedene unter-
gedanken wie bei den vorhergehnden liedern desselben auf-
baues, sondern nur verschiedene arten den einen, sogleich
vorgebrachten grundgedanken auszudrücken : angedeutet-bild-
lich, in voller ausführung des bildes, unbildlich, dabei lässt
sich natürlich ein höhepunet in die mitte legen,
b. Vierteilige lieder.
Einige lieder sind vierteilig gebaut, der grund ligt darin,
Z. F. D. A. XL1X. N. F. XXXVII. 4
50 BRECHT
tlass sie sämtlich zwei, mehr oder weniger selbständige, motive
behandeln; dadurch wird der hauplteil in zwei weitere teile zerlegt.
Das einfachste schema ist
l-f-2 + 2 + 1:
in. str. 1 : huldigung an die herrin (einlei tung).
- 2 — 3 : seine bisherige pagenhafte Verehrung,! —
- 4 — 5 : sein jetziger minnezustand und seine/ s "Z
zukünftige hoffnung. |£,
- 6 : ablehnung der niederen, preis der hohen
minne (schluss).
Es handelt sich hier also noch nicht um nebeneinauder-
stellung zweier selbständiger motive; vielmehr kommt die
zwiefältigkeit des hauptteils dadurch zustande, dass das eine
grundmotiv des gedichts, die nunmehr offen bekannte minne
des dichters, von zwei seiteu angesehen wird, vom standpunct
der Vergangenheit und von dem der gegenwart aus (ebenso
wie oben beim zweiten scheltliede xxi sein ungliick). jedes
der hierdurch entstandenen teilmotive wird in einem strophen-
paar parallelen inhalts ausgeführt, str. 3 variiert nur im
ausdruck den Inhalt von 2, str. 5 den von 4 (vgl. zb. 58,
11. 12 mit 58, 5. 6; 58, 15 mit 58, 8; 58, 29 mit 58, 21).
str. 2 wird mit 3 durch die nur ihnen gemeinsamen slichworte
rät und riet (58, 5. 9. 13) und durch die charakteristischen
präterita formal zusammengehalten, 4 und 5 durch das über-
gehn der rhetorischen fragen gleichen sinnes mit anfangs-
anapher von einer Strophe in die andre, als Übergang zum
Schlüsse bringt schon der letzte vers der fünften Strophe das
neue Stichwort, das die sechste sogleich stark betont aufnimmt,
um so das einsetzen des finales zu markieren.
Genau entsprechend ist der bau des liedes
xxvni, nur dass hier würklich zwei selbständige motive
nebeneinandergestellt sind.
Strophe 1 : der mai, die paarzeit (einleitung).
^ parallel- 2 } . .. , . . , ,. . .
.„ > zu "Zweien gibt es kein leid (l.motiv).
Strophen 3/ D
parallel- 4) stete liebe heifst minne, sie gibt stete freude
Strophen 5 / <2. motiv).
Strophe 6 : Verschmelzung der motive und weudung aufs
persönliche : wünsch des dichters, stete liebe zu
-
s
CS
ULRICH VON LICIITENSTEIN 51
linden und damit alle sorge zu Überwinden
(s c I) I u s s).
str. 2 drückt ihren gedauken affirmativ und negativ, Btr. 3
denselben nur affirmativ aus. beide werden Bürgerlich durch
Strophenanapher (Swd — ; dasselbe wort zur markierung des
atrophen Übergangs aufserdem 429, 22) und durch widerkehr
derselben stichworte liep, liebe zusammengehalten, ebenso
str. 4 und 5 durch widerholte spielende anwendung des neuen
Stichworts stiete. —
Anfang und schluss schwellen, aufserlich unsymmetrisch, an,
wahrend iler miltelteil auf die halfte des umfangs reduciert wird :
2 + 1 + 1 + 3:
liii. str. 1 — 2 : die einleitung ist auf zwei Strophen
angeschwollen, weil sie den (nur angedeuteten) natureingang
(frühling) mit Ulrichs alter lieblingsvorstellung, dem höhen
inuot, verschmilzt.
hauptteil. str. 3 : erstes motiv : güete und stiele sind
die besten schminkfarben für eine frau, die schoene bleiben will,
str. 4 : zweites motiv : wip und frowe gehören zusammen.
str. 5 — 7 : der schluss bringt wider die Wendung aufs
persönliche, ohne den (allerdings wol aussichtslosen) versuch
zu machen, die heterogenen motive des hauplteils zu ver-
schmelzen, vielmehr betont der dichter nur seine eigene lieh
566, 24) frauenverehrung, und zwar zuerst die aller frauen
(str. 5), dann die seiner herrin (str. 6 — 7). die letzte Strophe
vereinigt widerholt die stichworte des gedichts : höchgemüete,
güete, scheene, e're.
Dass Ulrich zuletzt auf das lob seiner herrin kommt, hat
hier wie in xliu (s. oben) den schlussteil um eine Strophe
zu grols gemacht.
Das lied zeichnet sich durch einen bei Ulrich auffallenden
mangel an übergangen zwischen den einzelnen teilen aus.
der roh zusammengeflickte cento ist offenbar in einer schlechten
stunde entstanden l. —
Die durch die doppelheit der motive hervorgerufene vier-
teiligkeit dieser lieder ist die Ursache, dass sie alle keinen höhe-
1 wenn die beiden mit ihren motiven hart nebeneinandergesetzten
Strophen 3 und 4 nicht auch dann störten, könnte man das lied auch nach
dem Schema : 4 str. allgem. + 3 str. persönl. (ich 566, 24) gebaut auffassen.
4*
52 BRECHT
punct halien. die motive des mittelleils stehn unverbunden neben-
einander, werden sie durch eine Strophe verbunden (wie oben,
abschnitt b, beim Schema 3 -+- 1 -f- 3 , lied xli und xlvii), so
entsteht ein neuer, bei weitem besser rhythmisierter, fünfteiliger
gedicbttypus.
Die funfleilung ist aber auch auf anderem wege möglich,
c. Fünfteilige 1 i e d e r.
Derselbe gedanke, von Strophe zu Strophe anders gewendet,
ergibt bei einfacherer ausfiihrung das Schema 1 + 1 + t (s. o.),
bei kunstvollerer
l + l + l+l + l:
xr. das gruudmotiv ist des dichters wünsch, die frauen
möchten ihm endliches gelingen seiner hoffnungen bei seiner
herrin wünschen, seine bebandlung von str. 2 — 4 würde an
sich vollkommen hinreichen : str. 2 apostropbe an die frauen.
mit Zurückbeziehung auf die eben beendigte Venusfahrt (322, 9)
und ankündigung des themas, str. 3 mit dem thema selbst,
dessen breiter ausdruck in der mitte des gedichts, spec. 322,
17 — 21, den höhepunct darstellt (mittelachse), str. 4 als
abschluss mit dem ausdruck der unerschütterlichen hoffnung,
in eine volltönende metapher auslaufend, um dies corpus
von drei Strophen ist nun aber noch eine Umrahmung von
zweien herumgelegt : eine allererste einleitu ngsstrop he (1),
die eine Verbindung mit dem vorhergehnden liede (x), vor
der Venusfahrt, bersteilen soll, indem sie frau Minne apo-
strophiert wie lied x und auf ibren nun vollzogenen befebi
hinweist (s. oben s. 5), und eine endgiltige seh luss Strophe
(5), die nur eine wortreiche widerholung der vorhergehnden
ist. beide Strophen, 1 und 5, sind vom dichter als zusammen-
gehörig empfunden worden, denn der schluss von 5 (ir güete
ist so guot 323, 5) nimmt den von 1 mit seinem sticbwori
{ir sit doch guot 322, 7) wider auf. kommt durch den anfang
von str. 1 mit seiner Wendung an frau iMinne schon eine
doppelte apostrophe in den eingang des liedes, so durch ihren
schlussvers, dem das letzte citat entnommen ist, gar eine
dreifache : er fasst nämlich frau Minne und seine dame in
neuer anrede zusammen; die würkung ist barock, viel-
leicht sind die erste und die fünfte Strophe würklich erst
später hinzugedichtet.
ULKICI1 VON LICHTENSTEIN
[t,is \ii lied, eine technische glanzleistung, zeigl einen
wundervoll ansteigenden und absinkenden symmetrischen auf-
liau. in slr. I beglückwünsch! sich Ulrich selbst zu Beiner
minne, in sir. 2 denkl er an das ziel seines Wunsches, in
str. 3 bittet er flehentlich (Min liende ich valde 394,26) um
die erfüllung dieses Wunsches (pathetischer ausdruck der
quintessenz des gedichts, mit eindringlicher anfangsanaphora
395,2. 3; höbepunet an der mittelachse), in str. 1 macht
er sich sorgen, wie er ihr seinen langjährigen Irenen dienst
würdig kundtun soll, in der schlussstrophe 5 kehrt er zum
ausdruck der hoffnung (395, 9) und seines schon jetzt vor-
handenen liebesglückes (395, 11, vgl. den anfangsgedanken)
zurück. —
Der mittlere teil schwillt, der Wichtigkeit seines inhalts ent-
sprechend, an, die zweite und fünfte Strophe werden als über
gangsslrophen zu und von dem massiver gewordenen hauptteil
ausgebildet, aus einem schon früher würksamen seeundären
gründe (vgl. oben xliii und lui) gerät der schluss zu lang, zum
schaden der genauen Symmetrie :
H-H-2 + 1 + 2 (stall 1 :
xvi (erste üzreise).
eingangsstrophe 1), allgemeiner minnesalz : euip-
fehlung der minne um iler ere willen,
überga ngsstrop he (2), Übergang von der minne zum
schildesamt (schilde 404, 4) : minne als lohn des
schiidamtes.
hauptteil (3 — 4) : ethik des schildesamtes, in zwei
parallelstropheu, objeetiv-didaktisch vorgetragen.
übergangsstrophe (5) : Übergang vom Schildesamte
zur minne zurück : nur den ehrenhaften rilter sollen
die trauen minnen.
schluss (6 — 7) : Wendung aufs persönliche : trotz seines
langen Schilddienstes erhört ihn die herrin nicht; ei
waffnet sich mit geduld und treue.
Die tendenz, seiue persönlichste angelegenheit an den schluss
zu legen, hängt sicher mit der eingewurzelten neigung seines
denkens zur teilung in allgemeines und specielles zusammen,
iusofern schimmert sogar in den bestgebauten symmetrischen
gedichten jener compositionstypus durch.
54 BRECHT
Da in diesem Hede zwei gleichgeordnete Strophen die mitte
bilden, entbehrt es eines bestimmten höhepunctes.
Die beiden zwischenstrophen (2 und 5) hatten liier den
zweck, den Übergang zum hauptteil und von ihm zum schluss zu
vermitteln, eine einzelne zwischenstrophe kann aber auch selbst
in die mitte treten; wenn es sich nämlich darum handelt, zwei
grundmotive eines gedichts zu verbinden, damit sind wir bei
dem am ende des letzten abschnittes (b) entwickelten typus wider
angelangt.
Das in seiner iibergangslosigkeit harte Schema 1 -}— 2 -f- 2 -f- 1
erweitert sich also zum Schema
1 + 2 + 1 + 2 + 1,
nach dem drei, sämtlich der spätzeit angehörige lieder analog
gebaut sind.
LI.
1 einleitungsstrophe: trauen sollen vrö mit zühten sein.
2 Strophen mit dem ersten motiv : das weibliche ideal.
1 Strophe (2) : hauptsache ist die güete,
1 Strophe (3) : der womöglich die schoene sich gesellen
soll; das beste ist die Vereinigung güete bi schoene.
1 Verbindungsstrophe (4): welchen mann soll nun solch
weih lieben? es gibt so viel falsche mänuer — (Sied ein
guot wip minnen wil, diu sol minnen usw.)1.
2 parallelstrophen mit dem zweiten motiv (5 u. 6):
antwort : den, der seine mannesehre gehütet hat. die
Strophen sind zusammengehalten durch Stichwortübergang,
guot wip 561, 8 u. 9, und durch chiastischen gedanken-
ausdruck in den beiden Strophen : derselhe gedanke geht
in str. 5 von Swelch man — bis guot wip — , in slr. 6
von Ein guot wip — bis swelch man — 561, 13.
1 schlussstrophe (7) : die übliche wendung aufs persön-
liche : Ulrich bemüht sich, diesem ideal nahe zu kommen,
höchstes lob der herrin : wiplich wip.
Die verbinduug beider motive wird also hier durch ein-
fache Überleitung bewürkt. —
1 ich schlage nach neme 560, 28 fortlassung des interpunetionszeichens
vor. 561,1. 2 gibt noch nicht die antwort, die vielmehr erst mit dem ein-
satz der nächsten Strophe beginnt, der 561, 1 bezieht sich auf xoen 560, 28
zurück; man beachte die attrahierten conjunetive hüele, si 561, 1. 2.
ULIU< II VON LICHTENSTEIN
Organischer ist die Verbindung im
lv. liede. das erste grundmotiv tritt wider von vornherein
als metapher auf (vgl. vni).
1 ei nleitungss troph e mit ankündigung des ersten
motivs (I) : der dichter ist froh, ein himmelreich auf
erden gefunden zu haben.
2 Strophen mit ausführung des ersten motivs:
damit meint er das herze seiner dame, in dem alle lugen*
den hausen.
1 Strophe (2) : allgemeine angäbe,
1 Strophe (3) : specielle bezeichnung dieser tilgenden.
1 Verbindungsstrophe (4) : des dichters Sehnsucht nach
diesem himmelreiche von herzen ist um so berechtigter,
als es von einem so liebreizenden leibe umfangen ist.
2 Strophen mit dem zweiten motiv (5 und 6) : preis
dieses leihes und seine würkung auf den dichter.
1 schlussstrophe (7) : vergleich : wie der hausen in der
Donau von der süfse des wassers, so lebt Ulrich von dem
hauche ihres mundes.
Die Verbindung beider grundmotive in der vierten Strophe
ist so eng, dass man sie als Verschmelzung betrachten kann. —
lviii beginnt ebenfalls mit einer metapher als erstem
grundmotiv.
1 einleitungsstrophe mit dem ersten motiv (1) : für
seine minnewunden hat der dichter eine gute arzenei.
2 Strophen mit ausführung des ersten motivs : die
arzenei für seine herzenswunden besteht in zwei dingen,
dem anblick der herrin mit ihrer Wehten varwe (1 Str., 2),
der salbe manches süezen %oortes (1 Str., 3).
1 verbiudungsstrophe (4) : wenn der dichter diese salbe
brauchen will, sucht er sich den anblick der herrin zu ver-
schaffen, der ihn denn sogleich vor freude wider jung macht.
2 Strophen mit dem zweiten motiv : Schilderung des
anblicks der herrin,
ihres mundes (1 Str., 5)
und ihrer äugen (1 Str., 6).
1 schlussstrophe (7) : gelöbnis des dienstes für alle zeit.
Die Verbindung der grundmotive ist wider äufserlicher, ja
gewaltsam. —
56 BRECHT
Unzweifelhaft ist durch die eioführuog der mittleren ver-
bindungsstrophe der typus des gedichts mit doppelmotiv glücklich
verbessert worden, hebung und Senkung des gedaukens wechseln
viel angenehmer mit einander ab, als bei dem harten aufeinander-
prallen der beiden hauptmotive in dem Schema 1 ■+- 2 + 2 -f- 1.
ihrer l'unclion gemäfs wird man die verbiuduugsstrophe kaum als
hohepunct ansehen dürfen, sondern die gedichte mit doppelmotiv
als zweigipflig, aber mit communication zwischen den gipfeln,
betrachten müssen.
Die vier letzten lieder sind das complicierteste, was Ulrichs
formverstand und architektonische phantasie hervorgebracht haben,
der anleil des gemüts an diesen Schöpfungen wird nicht allzu
grofs gewesen sein, als technische leistung aber bezeichnen sie
einen hohen grad von gewautheit. —
Die symmetrisch aufgebauten lieder stellen sowol der zahl
als der künstlerischen bedeutung nach die hauptgruppe von
Ulrichs gedichten dar. es sind fast die hälfte aller 58 lieder,
27 symmetrische gegen 31 anders gebaute : 5 mit gleichmäßiger
structur, 7 mit Steigerung, 17 aus allgemeinem und speciellem
zusammengesetzte, 2 lyrisch-epische (s. unten), dass der differen-
ziertesle gedichttypus die einzelnen andern typen so sehr über-
wiegt, ist für Lichtenstein bezeichnend, je einfacher die form,
desto weniger sagt sie ihm ; er ist in der dichtung wie im leben
der mann des complicierten, eigensinnigen, hochentwickelten, der
symmetrische aufbau liefs von allen ihm geläufigen typen die
gröste maunigfaltigkeit der behandluug innerhalb einer festen
stillbrm zu; eine aufgäbe, die gerade den würklicheu künstler
immer gereizt hat; und man muss zugeben, dass Ulrich eine
grofse fülle von varialionsmöglichkeiten gefunden hat.
In wie verschiedenen formen saheu wir nicht das Verhältnis
der gedichtteile zueinander wechseln 1 auf wieviel verschiedene
arteu wurde der höhepunct erreicht und verlassen; molive in
parallel- und correspondierenden Strophen auseinandergezogen, in
Schlüssen, in Verbindungsstrophen verschmolzen; doppelmotive
eingeführt und nach bedarf so oder so behandelt, allein hierfür
hat Ulrich vier möglichkeiten ausgebildet : er stellte die moliv-
strophen unverbunden nebeneinander, entweder breit als haupt-
argumente (1 -f- 2 -J- 2 -(- 1) oder zusammengeschoben als blofse
poinlen (2 — f- 1 — J— 1 -f- 3) ; oder er verband sie durch eine über-
ULRICH VON LICHTENSTEIN 57
gangsstrophe, indem er sie das eine mal als anfangs- und schluss-
teil verwertete (3 -f 1 -f- 3)* bei anderer gelegenheit als innere
hau pt teile angemessen herausarbeitete (1 + 2+1-4-24-1)
solche aufgaben vorwiegend sind es, in deren bewälligung Ulrichs
lyrische kunst sich kaum genugtuu kann.
Um so verdienstlicher, als er sich, wol unbewust, den räum
dazu sehr eng abgesteckt hat. mehr als sieben Strophen bat er
nie zu einem gedieht vereinigt l, mit gutem tact, denn ein sym-
metrisches system von mehr als sieben gliedern zu übersehen,
wird schon schwierig, fünfslrophigkeit und siebenstropbigkeit
sind ihm so gut wie gleich lieb — jene kommt 23 mal, diese
22 mal vor — , begreiflicherweise, denn sein lypus des sieben-
slrophigen gedichts ist ja in den weitaus meisten lallen nichts
als ein erweitertes fünfstrophiges , die grundanlage ist genau die
gleiche, dreistrophigkeit begegnet nur in drei liedern, die alle
lauge Strophen haben, kurze ausdehnung der gedichte ligi eben
seiuem an eiufallen reichen uud dialektisch gliedernden geiste,
Beiner um worte nie verlegenen redegabe nicht, des einstrophigen
gedichtes, des Spruches hat er sich gänzlich enthalten.
Charakteristisch ist auch das entschiedene bevorzugen der
uugeraden slrophenzahl. 49 liedern mit ungerader stropbenzahl
stehu 9 mit gerader gegenüber, unter denen wider der längere
typus, der sechsstrophige, Zweidrittelmehrheit besitzt gegen den
kürzeren, vierslrophigeu. die Vorliebe für ungerade Strophenzahl
ist sicherlich ebenfalls Ulrichs gutem formgefühl entsprungen, das
gleichlange gedichtabschnitte, wie sie bei gerader stropbenzahl
leicht vorkommen, perborrescierte 2. gerade stropbenzahl kommt
denn auch nur bis zum jähre 1228 (xxvm) vor, von da an gibt
es noch einmal ein dreistrophiges , sonst nur fünf- und sieben-
strophige lieder. an der siebenstropbigkeit bat Lichtenstein immer
mehr geschmack gefunden : von den 2ö liedern der ersten minne
(1222 — 32) sind nur 5 siebenstrophig, von den 5 in 6in jähr
lallenden wdmeisen nur eine, von den 27 liedern der zweiten
minne (1233 <> 1255) aber 16. oder auf Jahrzehnte bezogen,
so leidlich sie sich bei der nur ungleicbmäfsig construierbaren
Chronologie bersteilen lassen : von 1222 — 32 sind von 29 ge-
1 abgesehen natürlich vom leich.
2 bis auf eine ausnähme, lied xxiv, in dem einleitung, hauptteil und
schluss gleichermafsen je zweistrophig sind.
5S BRECHT
dichten nur 5 siebenstrophig, von 1232/33 — 1240/41 (lied xl)
schon gut die hälfte, nämlich von 11 liedern 6; genau die hälfte,
7 von 14, in den jähren 1241 — 52 (lied liv); und der rest von
drei jähren, der noch übrig ist, lässt sich gut an, denn die vier
währenddessen producierten lieder sind sämtlich siebenstrophig.
das heifst : auch Ulrich ist mit zunehmendem alter redseliger
geworden, die wachsende neigung zur didaktik, von den wdn-
wisen an, hat bei ihm nicht zur prägnanz geführt, wie bei manchen
andern, sondern zur breite, die Symmetrie ist ihrem wesen nach
natürlich meist an die ungerade zahl gebunden : von 27 symmetrisch
gebauten liedern haben nur 5 gerade strophenzahl (1 vier, 4 sechs
Strophen); 1 ist drei, 6 sind fünf, 15 sieben Strophen lang.
Die zunehmende neigung zur siebenzahl der Strophen hängt
ersichtlich mit der entwicklung des Verhältnisses Ulrichs zur
Symmetrie zusammen, geht aber nicht von vornherein parallel
mit ihr, sondern ist mehr auf rechnung des erwähnten senil-
werdens zu setzen.
Seine neigung zum symmetrischen aufbau war von anfang
an grofs, von 1222 — 32 ist reichlich die hälfte aller producierten
lieder, 15 von 29, symmetrisch gebaut (davon nur 4 sieben-
strophig); von 1232/33 — 1240/41 wird sie erheblich schwächer,
baut von 11 producierten liedern nur 3 symmetrisch (davon 2
siebenstrophig); bemächtigt sich aber in den jähren 1241 — 52
fast der hälfte aller lieder, 6 von 14 (alle 6 siebenstrophig), und
steigt noch von da an, wie der noch übrige rest von vier jähren
beweist, in dem von 4 producierten liedern 3 symmetrisch aus-
fallen (alle 3 siebenstrophig; das anders gebaute vierte auch).
Man ersieht daraus, dass die hauptsächliche Vorstellung, die
Ulrich von formaler harmonie, auch für den aufbau von gedanken,
besafs, von anfang an die symmetrische war, und dass diese dis-
position der phantasie sich trotz Schwankungen mehr und mehr
befestigte, selbst die neigung seines denkens, nach den kate-
gorieen allgemein und speciell zu scheiden, war weit entfernt da-
gegen aufzukommen, obwol auch sie schon vom vierten dichtungs-
jahre an vorhanden war.
E. Episch-lyrische lieder.
Neue compositionstypen sind also im laufe von Ulrichs leben
nicht mehr aufgetaucht; die vorhandenen sind schon in den
ersten 7 liedern (bis 1225) alle mindestens einmal vertreten.
I'LRICII VON LICHTENSTEIN 59
Nur eine ausnähme ist festzustellen : der isolierte lypui
der beiden tagelieder, xxxvi und il, die mitten in Ulrichs
poetische periode lallen, in die zeit nach 1233 und in den
winter 1240 auf 41. aber auch sie sind nicht durch äufeere
oder spürbare innere lebensereignisse hervorgerufen. Bondern
durch litterarische tradition vermittelt; seihst die nttance, die Ulrich
an ihrem stil angebracht hat (s. cap. i s. 20), ist trotz aller be-
tonten tendenz zur lebenswahrheil nur dem bedttrfnis i\t%^ artisten
entsprungen.
Da das tagelied sich aus lyrischen und epischen bestandteilen
zusammensetzt, ist auf eine rein durchgeführte einheitliche com-
position , wie sie der gleichmäßig lyrische slolT nahelegt, nicht
zu rechnen, trotzdem ist eine gewisse gruppierung des epischen
und lyrischen darin nicht zu verkennen.
Entgegen der üblichen art, das tagelied mit einer kurzen
epischen Situationsandeutung oder dem gleichwertigen wächterruf
einzuleiten, lässt Ulrich das erste seiner tagelieder (xxxvi) mit der
begruTsung des ritters durch die frau heginnen (str. 1), der die
antwort des ritters folgt (str. 2): die, übrigens neue (vgl. cap. i),
Situation ergibt sich erst hieraus, dieser dialog von zwei Strophen
länge entspricht, auch der inhaltsbedeutung nach, etwa dem
einleitenden teile seiner grösseren lieder. an ihn schliefsen sich
zwei rein erzählende Strophen, in denen die kernsituation zur
darstell ung kommt, hierauf widerum zwei aus erzählung und
je einmaliger kurzer rede gemischte, in denen zweimal die warnende
zofe aultritt, die (um zwei verse verlängerte) schlussstrophe lässt
uach kurzer situationsschilderung erst die frau klagen, dann den
ritter abschied nehmen, in der herkömmlichen weise. — der
dichter hat gut für abwechslung gesorgt, den beiden einheitlichen
Strophenpaaren, deren erstes nur lyrischen dialog, deren zweites
nur erzählung enthält, folgt ein strophenpaar, in dem erzählung
die kürzeren reden überwigt, und eine Strophe, die nach zwei
versen erzählung wider acht verse dialog bringt, die frau beginnt,
der ritter schliefst das lied.
Im zweiten tagelied (xl) umfasst die einleitung, rede
der zofe (str. 1), rede des ritters (str. 2), mit kurzer Situations-
schilderung, zwei Strophen, es folgt zwischen der frau und dem
ritter das eigentliche gespräch, das das hauptmoliv des gedichts
bringt, nämlich den Vorschlag, den ritter den tag über in der
60 BRECHT
kemenate zu verstecken, dieser dialog ist zweistrophig, wie im
ersten tagelied, und wie dort folgen ihm entsprechende zwei
stropheu, in denen rein episch der hergang heschrieben wird,
die schlussstrophe (7) schildert in der gewöhnlichen weise erst
die letzten Zärtlichkeiten, dann die abschiedsworte des ritters (also
kein dialog mehr wie in xxxvi). die zofe heginnt, der ritter schliefst.
Nur in der höfischen form des tageliedes gibt es bei Ulrich
mischung epischer und lyrischer elemente. auch in diesem
punete folgt er der strengeren tradition, indem er sich richlungen
seiner zeit, die ihm stillos scheinen mochten, fernhält.
Ergebn is.
Ich glaube erwiesen zu haben, dass Ulrichs besondere stärke
. im kunstvollen aufbau von gedichtmotiveu bestand, bei weitem
mehr, als in der erfindung solcher motive, in der er, wie sich
im i capitel herausstellte, nicht ilbermäfsig viel geleistet bat.
es fragt sich nun, wenn man auf die vielen typen und Schemata
seiner composition zurückblickt: in wie weit ist sie bewust, in
wie weit unbewust gewesen? wieviel beruht davon auf künst-
lerischer absieht?
Die frage ist schwer; denn nirgends ist man so iu gefahr,
moderne anschauungen in alte Verhältnisse zu tragen, als bei
der absebätzung der grenzen, die bei dem dichter einer fern-
liegenden eulturperiode kunstgefühl und kunstverstand trennten.
ist schon das selbstbewustsein des mittelalterlichen menschen
überhaupt für uns schwer nachzufühlen und unsere einfühluug
ohne irgendwelche gewähr der richligkeit, um wieviel mehr das
eines dichters, bei dem bewustes und unbewustes immer mehr
durcheinander spielen als bei anderen menschen.
Wenn man freilich die darieguugen dieses capitels durchgeht,
so sieht alles sehr bewust aus. allein ich brauche wol nicht
darauf hinzuweisen, dass es nötig ist, begrifflich zu systematisieren,
wenn man formen verständlich machen will, deren werden uns
nur immanent in eiuer mannigfaltigen fülle fertiger gebilde voiligt.
Die grofseu compositionstypen zb. sind in ihrer Unter-
schiedlichkeit Ulrich selbstverständlich nicht völlig klar bewust
gewesen, die lieder gleichmäfsiger struetur etwa werden sich
ihm nicht so herausgebobeu haben wie uns. bei den liedern
mit zugespitztem aufbau ligt es schon anders. hier ist die
Steigerung so augenfällig, gar in den dialogen so kühl und
I LR1CH VON LICHTENSTEIN 61
technisch raffiniert mit der messerscharfen Bchlusspointe, dass
man genötigt ist, dichterische absieht anzunehmen, nicht ganz
>o sicher isl die bewuste technik bei den aus allgemeinem and
s[it'cicllt'i!i Bich zusammensetzenden liedern. «loch moste Ulrich
ja blind gewesen sein, wenn er nicht gelegentlieh wenigstens
gemerkt haben sollt*' , dass er hin und wider ein lied dichtete,
in dem nach einigen allgemeinen Strophen ein ich, sein ich,
kam, oder etwa- gleichwertiges, an eine vorbedachte composition
glaube icli bei der großen leichtigkeil der entwicklung, die
namentlich in den ungezwungenen Übergängen deutlich wird,
lner nicht; wol aber au eine eingewurzelte denkgewohnheit, die
jedesialls mit der bestimmtheil einer klaren absieht würkte,
sollte sie es auch nicht gewesen sein.
Solche gewöhnlich erklart wol auch die massenhafte produetion
der symmetrischen lieder. wessen künstlerische anläge auf formale
harmonie ijleichgrofser teile gerichtet ist, der wird immer auf
das prineip der Symmetrie geführt werden, sei es von anfang
an bewusl oder nicht, und es müste seltsam zugehn, wenn er
nicht, hei immer ausschließlicherer produetion in dieser form
(s. o.), allmählich selost etwas davon bemerken sollte, der höhe-
I » n 11*1 in der mitte, die miltelachse, auf- und ahslie^' werden
sich dabei wol meist von >tlhst ergehen haben, aber gedichte so
complicierten bau es, wie wir deren viele, namentlich aus den
spateren jähren kennen gelernt haben, mit sorglich abgesetzten
anfangen und Schlüssen, respondierenden motiven, fast un-
merklich den gedanken weiterführenden, durch rhetorische Bguren
zusammengeschlossenen parallelstrophen, mit bildlichen und bild-
losen teilen, Übergangsstrophen, vollends solche mit <lc»pj>el-
motivea und ausgesuchter Verbindungsstrophe — deren ent-
slehung kann nur hewust gedacht werden. höchst bewust
sogar, unter aufbietung alles kunslverstandes und aller kraft
der phantasie.
Dass einige male in symmetrisch gebauten liedern ein früherer
composilionslypus , allgemeines und specielles, durchschimmert
— durch das ganze zh. in xvi und LVH, durch teile in xxu und
xxiv — , kann nur den beschrankten systematiker stören, wer
gewohnt ist, formen dynamisch, als Functionen des kunsttriel
aufzufassen, wird solche scheinhare Unregelmäßigkeit gerade als
bestätigung und als beweis des lebens ansehen.
62 BRECHT
Ulrich gibt sich in eingäugen, Schlüssen, einzelnen Wendungen
häufig den anscheiu des aristokratisch sorglosen improvisators,
der eigentlich nur aus gesellschaftlicher liebenswürdigkeit dichtet,
ist aber ein bewuster künstler. als solchen zeigen ihn auch die
stellen des Frauendienstes, in denen er vom hergang bei seinem
dichten spricht, oder ästhetisch räsonniert. es ist allerdings
auch vieles in seinen liedern, namentlich in ihrer flüssigen diction,
was wiirklich auf freiheit und leichtigkeit der production schliefsen
lässt : das schliefst aber eine bewuste kunstübung keineswegs aus.
bedarf doch gerade der improvisator am meisten der einsieht iu
die mittel der dichtkunst und ihrer sicheren beherschungl —
Inwiefern nun die technik Lichtensteins in der composition,
speciell der symmetrische typus, sein eigentum ist, oder auch
nur, in wiefern sie etwa bei ihm besonders ausgebildet ist, liefse
sich nur sagen, wenn Untersuchungen über die composition
anderer mittelhochdeutscher lyriker in genügender anzahl vorlägen,
der vergleich würde dann über das mafs der persönlichen leistung
Ulrichs wie über seine individuelle anläge in hinsieht auf dichte-
rische architektonik entscheiden, vielleicht ist das allgemeine
kunstgefühl der höfischen zeit auch auf diesem punete feiner
ausgebildet gewesen, als man gewöhnlich annimmt; vielleicht ver-
langte hier das aristokratische publicum in ähnlicher weise
leistungen, wie es sie in hinsieht auf die klarheit der sprachlichen
form verlangte und befriedigt in Hartmanns versen anerkannte,
deren 'krystallklarheit' unsere gröberen ohren auch nicht mehr
ganz so würdigen können.
Man müste die compositionsweise Ulrichs mit der Wallhers,
Reinmars und anderer eingehend vergleichen, es liefse sich eine
arbeit denken , die aus der gesamten höfischen lyrik eine art
durchschnittlicher Vorstellung der dichtenden und vielleicht auch
der geniefseuden Zeitgenossen von den aufbaumöglichkeiten eines
gedichts festzustellen suchte, durch vergleichung der compositions-
arten liefse sich vielleicht ein neues kriterium für den Zusammen-
hang von dichtem unter einander, einfluss und abhängigkeit,
finden, das geeignet wäre, im eigentlich künstlerischen weiter zu
führen als blofse parallelstellen, entlehnungen einzelner motive
oder gelegentliche berührungen im Wortschatz.
Vielleicht, ja wahrscheinlich teilt zb. Ulrich seinen sym-
metrischen typus mit manchem seiner dichtungsgenossen. es
ULRICH VON LICHTENSTEIN 63
handelt sich liier wol vielfach Überhaupt um Uberpersönlicbe
dinge, um unbewuste lyrische kunstgeselze.
Es sind im gründe einfache compositionstypen, die Ulrich
hat. auch in den symmetrischen, seinen differenziertesten ge-
dichten steigt er von den einfachsten Verhältnissen zu com-
plicierteren , aber immer noch Übersichtlichen auf; daher die
kleinen Strophenzahlen. warum lieht er nun die ungeraden
zahlen? weil sie den auf- und absteigenden gang begünstigen,
warum gerade die untersten primzahlen? die teilung in gleiche
teile — wenn dies nicht die. einzelnen Strophen seilet sein
sollen — wird durch sie erschwert, hei neun Strophen zh. wäre
man versucht, die üeunteiligkeit als dreiteiligkeit aus je drei
zusammengehörigen Strophen aufzufassen. die höheren un-
geraden zahlen sind also als grundlage der gedichtproportionen
ehenso ungeeignet wie die geraden zahlen, und aus demselben
gründe. —
Warum hat das drama fünf acte? oder drei? warum hahen
die versuche, das vieractige drama einzuhürgern, keinen erfolg
gehabt? weil 3 und 5 die untersten Zahlenverhältnisse geben,
die anstieg, höhepuuet, abstieg, oder stofs, gegenstol's, syuthese
in teileinheiten übersichtlich auszudrücken vermögen '.
Es ligt hier wol ein ganz allgemeines und eingeborenes
istbelisches bedürfnis zu gründe.
DRITTES CAPITEL.
STIL DES POETISCH EN AUSDRUCKS.
Kunstreiche composition von gedienten bedarf, um augemessen
zur erscheiuung und zur würkuug zu kommen, ebenso kunstreich
ausgebildeter ausdrucksmittel im einzelnen, je complicierter die
composition , um so höhere anfordungen stellt sie an die ge-
schmeidigkeit des poetischen Stils, als des Werkzeuges mittels
dessen die phantasie den rohen Stoff in die Sphäre des freien
spiels erhebt, das bedürfnis, diese aufgäbe zu bewältigen, hat
auch bei Ulrich eine beträchtliche anzahl speciellei redefornien
(üguren und tropen) geschaffen.
Ich beginne mit einem in verschiedenen formen bei ihm
1 von 'abmessung des raunies im drama' spricht EGeiger (Hans Sachs
als dichter i A 1); auch im lyrischen gedieht gibt es derartiges.
64 BRECHT
wie bei anderen mhd. lyrikein namentlich der spätzeit besonders
cultivierten Stilmittel, der
Ana pher.
Die von hause aus strengere form der anfangsanapher
lindet sich bei Ulrich weniger ausgebildet, als die innere.
Beispiele einfacher anfange dieser figur sind :
Daz mir noch an ir gelinge,
daz ich scelde an ir bejage (97, 19).
da ligt ouch al min smerze,
da ligt ouch al min klagende leit (126, 14).
Tuot dir den tot
so süeziu not,
so senfliu swcere,
so lieplich twanc — (134, 23 f).
Ähnlich 419, 12. 13 (ez si — ez si) , 420, 16. 20 (Owe —
owe). erster und zweiter Stollen durch anfangsanapher verbunden
572, 13. 15 : Ich hdn — Ich gesach — (liv); Mich lat niht —
Mich kan — niht — 323, 1. 3 (xi). in demselben liede xi anfangs-
anapher des zweiten Stollens und des abgesanges, 322, 10. 12 (Daz
— Daz — ). anfangsanapher des dritten und sechsten (letzten) verses:
da für hdn ich helfe funden — da für hdn ich arzenie (lvm: 584,
3. 6). anfangsanapher in parallelsätzen, deren zweiter an bestimmtheit
gewinnt (ein haupikunstmittel Ulrichs) :
Wenne kumt mir freuden schin?
wenne wil du, stelic frowe, gefreun daz sende herze min?
(397, 17).
In anapho ri sehen reihen tritt die anfangsanapher
paradigmatisch auf in lied xvii. str. 1: Freut iueh — vers 1 und 3
Strophe 2 lässt alle verse mit Wip beginnen. Strophe 3, die
mittelste und hauptstrophe, ist anaphernfrei (dafür bekräftigende
erklärung: ja mein ich — 406, 15, einziges beispiel). Strophe 4
hat in den ersten fünf versen anfangs-, in den beiden folgenden
innenanapher desselben Wol, Strophe 5 am anfang der ersten
vier verse Got, der zwei letzten daz.
Anfangsanapher durch alle Strophen hindurch, zt. in genauer
responsion, begegnet in xii.
Strophe 1.
vers 2. da: —
- 3. daz —
slrophe 2.
vers 5. daz —
ULRICH VON LICHTENSTEIN
slrophe 3.
Vi'! -
dax —
- 4.
duz —
5.
dax —
Strophe 1.
vera 1.
daz —
slroplu- 5.
Vi'IS -1.
daz —
Man bemerkt die Bteigeruog Ins zur mitte und das absteigen,
_:-■ ii;ui entsprechend der composition dea liedes, die symmetrisch
ist (s. o.). die gehäufte anapher bezeichnet hier durchgehends
parallelsalze, die in eiliger häufung alle nur 6inen gedanken, das
ziel seiner Sehnsucht, gewaltig zum ausdruck bringen, gleich-
zeitig bilden sie das feste gerilst des mit blühender phantasie
der roimkunst und Synonymik verzierten liedes.
Genau respondierende anapher des abgesanges, auch dem
sinne nach, zeigt das xr lied : Daz diu vil süeze — Daz der
vil (juoten — Daz si vil liebe (322, 5. 12. 19), in den ersten
drei Strophen, die aufstieg und mitte des symmetrischen gewichtes
umfassen; die mittlere hohe ist durch rascheste widerholung des
versbeginnenden daz in synonymen s.'itzen (322, 18. 19) bezeichnet.
Kespondierende ungenaue Strophenanfangsanapher, aber in
metrisch nicht genau entsprechenden gesätzen, im leich (xxv):
Ich rat tu — (423, 1); Daz rate ich — (423, 20).
Reicher ausgebildet und zum ausdrucksfähigsten kunstmittel
erhöhen hat Ulrich die sonst vielfach als kunstloser angesehene
(vgl. Roethe aao. s. 296), gefährliche, weil bequemere innere
anapher.
Einfachste beispiele :
rieh an freuden, rieh an aller sailikeil (397, 2).
wes ich mir von ir ze guote, wes ich mir von ir ze diensle —
(400, 6).
Widerholung der anrede:
Vrowe, miner freuden vrouwe,
vrowe min übr allez daz ich hdn — (549, 17)
Widerholung desselben Stammes in verschiedenen ablautstufen :
si muoz mir gepunden sin.
bant, dd mü ich si binde — (126, 6).
Nachdrückliche oder spielende anaphern nehmen den Charakter
der ep izeuxis an :
dd von ist daz herze min,
Swie ez uileret, vrd nö vrö (507. 2
Z. F. u. A. XLIX. N, V. XXXVII. 5
66 BRECHT
Uz ir kleinvelrötem munde
süeze süeze süeze gdt (5S4, 25).
da ein liep mit liebe umbegdt (583, 12).
Wibes schcene, wibes ere,
ivibes güete, wibes zuht — (437, 9).
In dem üblichen turnierruf:
nu tuo her
sperd sper! (458, 4).
Zur hervorhebung eines hauptgedankens:
vinde ich die, so vinde ich ere (422, 10).
In dringender aufforderung :
nu küsse lüsent stunden mich:
so küsse ich zwir als ofte dich (447, 19).
In lieblingsworten wie. süeze, guot, wip und ihren ahleitungen:
Du bist süeze, da von ich dich suoze grüeze (436, 22).
Süeziu wort, diu künnen süezlich süezen
ir vil süezen röten munt (508, 8).
— mit süezen worlen suoze süezen — (534, 8).
— güellich si mir güelet (508, 16. 524, 22. 556, 12.
566, 22).
ir güete ist so guot (323, 5).
ir guot wiplich güete (525, 3).
wibes güete, du bist guot (545, 7),
si ist schcene, reine, güellich guot (584, 29).
si ist so reht güetlichen guot,
daz ir güete mir git höhen muot (556, 14).
Wil diu minnecliche guote
minneclichen hüeten min (4 1 0, 5).
liebe lieblich (104, 29).
wiplich wip (zb. 445, 21. 447, 8. 561, 20).
röte rösen roete (508, 30).
Auch Verbindung eines verbums mit einem näheren object gleichen
Stammes (Roethe s. 299) findet sich mehrfach, zb. rat ich einen rät
(422, 26. 560, 8), ir spil minne wil spiln (433,8), springen
manegen sprunc (584, 24).
Zur hervorhebung eines Vergleichs :
mit ir kleinvelröten munde
ziuhet si mir trüren gar uz herzen gründe.
Schouwet wie diu pie ir süeze
üz den bluomen ziehen kan,
also ziehen t mir ir grüeze
trüren von dem herzen dan (534, 1).
ähnlich 566, 5. 8 (lere — leret).
Anfaugsanapher allein oder innen- und anfangsanapher
gemischt werden zur stroph e n ank niipfu ng verwendet:
ULRICH VON LICHTENSTEIN
— der meie si getröstet hat.
Der meie Iroeslel al du: lebl — (131, 5)
— sied man liep l>t liebe riht.'
Sud zuri Uep ein ander meinenl — | 129, 22).
ähnlich 437, 7. 9.
— erst dir holt mit (rttoen, duz geloube mir.
Er hat sin oil ivol genossen — (515, 29),
— ictutz ie die nidern minne fläch.
Nideriu minne, an freuden tut — (58, 32).
Bei weitem am meisten anlass zur aunphora gibt die aus-
geprägte liebe zu stichwor leu. Ulrichs poesie ist erfüllt davon.
einige beispiele müssen genügen.
Im leicli (ixv) werden drei gesätze hintereinander fast ganz
gebildet von den stichworten scheene, guot , güete (423, 23 f.),
besonders 423, 25 f:
i(7 guot vor allem guole
Ist der wibe güete, und ir schoene schxne ob aller
schoene.
Ir scheene, ir güete, ir werdikvit ich immer gerne
kroene etc.
//• scheene, ir güete, ir werdikeil
wird gleich darauf 424. 5 Dach art des Iridis am ende des ersten
teiles resümierend widerholt, ähnlich steete 124,21 bis 425,4
viermal widerholt.
Das Stichwort rät, dreimal widerholt, hilft den zweiten teil
des in liedes (schema: 1+2 + 2+1) tragen, Strophe 2 uud 3.
ähnliches gilt von xlvii, dessen einleitung und mittelteil (im
schema 3 + 1 + 3) auf dem begriff der güete (sechsmal) auf-
gebaut ist.
Die beiden Strophen des allgemeinen teiles von xlv (schema
2 + 3) werden als besonderer teil auch dadurch markiert, dass
am anfang und gegen ende der ersten Strophe Waffen widerholt
wird, im ersten und letzten verse der zweiten niht vrö gemachen —
gemuchent nimmer vrö.
Die gehäuften stichworte wert, werdikeit, güete, wip, wol,
constituieren, abgesehen noch von den in den anaphorischen
reihen befindlichen, das ganze spielerige lied xvn; huole, hüelen,
merken mit unglaublicher technik 22 mal gehäuft in 33 versen,
xvih, von dem xix auch in dieser beziehung ein schwacher ab-
klatsch ist, jedoch dadurch merkwürdig, dass die stichworte nur
im hauptteil des nach dem schema 1 + 3 + 1 gebauten liedes
68 BRECHT
vorkommen, in der mittelsten Strophe am häufigsten, in Strophe 3
und 4 nur je einmal, so wird die composition unterstützt.
höher muot, höchgemuot, wolgemuot, höchgemüete werden in allen
siebeu Strophen des xliv liedes, das jubelnde freude ausdrücken
soll, vorgebracht, dasselbe wort, in derselben absieht, erscheint
viermal (wenn man 445,14 mitrechnet) in der mittelsten1
Strophe von xxxiv, einmal, stark betout, in der zweiten, die sonst
ihr eignes Stichwort, truren, hat, neben sorg und angest, das
sie mit der ersten teilt; die vierte spielt mit wip, icipheit, wiplich,
die fünfte mit lip, wip, lieplich. xxm hat für die drei ersten
Strophen das Stichwort steete, für die vierte triwe, die fünfte
bant pl. (compositionsschema 3 + 2); aufserdem wird minne in
Strophe 2, 3, 5 widerholt.
Principiell und in klarerer durchführung durch das ganze
dient die innere anapher von Stichworten der com-
position in folgenden fällen:
Im xiv liede (1 + 44-1) füllt das hauptstich wort des ge-
dichtes, wünsch, wünschen, die vier hauptteil-strophen, die sich
dadurch deutlich herausheben, in der anfangs- und der schluss-
strophe kommt es nicht vor; jene ist aus autithesen (s. u.) ge-
bildet, diese hat ihre eignen anaphorisch verwanten stichworte,
guot, güete, senede, tröst.
xxvm betrachtet seinen symmetrischen aufbau (1 -f- 2 — |— 2 — (— 1)
in hinsieht auf innere anapher als zweiteilig, indem es die erste
hälfte, Strophe 1 — 3, mit dem Stichwort liep , liebe, die zweite,
Strophe 4 — 6, analog mit stCBte ausstattet. dabei entspricht
symmetrisch Strophe 2 der Strophe 5, insofern in jener das erste,
in dieser das zweite Stichwort am stärksten gehäuft erscheint.
In xlvii tritt das eine Stichwort lip in der einleitenden und
in der pointierenden schlussstrophe nur je einmal auf, während
die drei mittleren Strophen, in denen die Steigerung des liedes
vor sich geht, unablässig mit lip, liep spielen.
xlix markiert seinen aufbau 2 + 3 dadurch, dass es den
allgemeinen Strophen 1 und 2 das zweimal widerkehrende Stich-
wort ungefüege (dazwischen gefüege) verleiht, den specialisierenden
Strophen 3 — 5 die stichworte lip, liep (3 u. 5), guot, güete (3, 4, 5).
1 hier wie in einigen andern fällen scheint in liedern des typus C
(allgemeines und specielles) eine art Symmetrie durch; die mitte wird immer
gern betont.
ULRICH VON LICHTENSTEIN
li (14-2+1 + 2 + 1) verwendel guot, güete zur ein-
leitung (nur zweimal in >ir. 1 |, zum aufbau des ersten hauptleiles
(1 motiv; Gmal), zur verbindungsslrophe (einmal), chiastiscb mit
einem andern Stichwort (s. u.) zur Formierung des zweiten haupl-
teils (2 motiv). die scblussstrophe mit ihrer Wendung aufs
persönliche meidet es ganz.
In i.vi (typus 15) werden stufen der Steigerung bezeichnet,
phe 2 und 3, allgemeinerer ausdruck der Sehnsucht, wider-
holen das springen i\v> herzens zur dame; 4 — 6 das Lassen; die
höhe am schluss und die ruhe am anfang (sir. 1 u. 1) ver-
schmähen beide das Stichwort.
lvii (1 + 2 + 1 + 2+1) füllt die einleitungsstrophe und
den ersten hauptteil mit wünschen, wünsch; den zweiten bauptteil
und die scblussstrophe mit lip, liep, liepliclt, wip, die schon am
ausgang der Verbindungsstrophe anklingen.
Nicht ganz so rem geglückt ist das nach demselben Schema
ante lied LViti, in dem zwar einleitungsstrophe und erster
bauptteil das Stichwort tount, wunden, haben, der zweite bauptteil
und die schlussstrophe aber nicht entsprechend einheitlich be-
handelt sind, indem Strophe 5 siieze, guot, Strophe G und 7 aber
iip, liep widerholen; Strophe 7 dazu noch für sich allein e're.
Gelegentlich bequemt sich die äufsere oder innere anapher
zur geregelten responsion. so in xxwu, das Strophe 2, 3
und 5 mit Swä beginnen liisst; in x, wo die vorletzte zeile der
zweiten wie der dritten Strophe mit der interjectiou we anlangen,
ein im dialog reizvoller parallelismus. versgruppen respondieren,
allerdings nicht genau anaphorisch:
/i» isl so kranc
ir Ion und ir habedanc — (415, 1 mitte).
nu ist ir danc
cd ze Juane — (415, 23, schluss von xxi).
Es ist nur folgerichtig, wenn auch stichworte in ge-
nauer responsion die gliederung des gedichls hervorheben
helfen, im v liede, das nach dem typus C (2 + 3) gebaut ist,
wird der erste, allgemeine teil durch doppelle responsion am
anfang scharf von dem zweiten, speciellen abgegrenzt: Strophe 1
vers 1 : Sumer, Strophe 2 vers 1 : Sumers; Strophe 1 vers 5:
Winder, Strophe 2 vers 5 : Winder. der zweite teil spielt mit
70 BRECHT
lip, liep und leit. — im xxxn liede beginnen alle sieben Strophen
sehr eindrucksvoll mit Höher muotx.
Innere responsion des Stichworts naht zeigt lied 11 : an
metrisch gleicher stelle, auf der ersten silbe des zweiten fufses 2,
in Strophe 1, 2, 3, 5, in Strophe 3 allerdings im vierten, statt
im zweiten verse; in Strophe 4 des Jugendgedichtes steht un-
regelmäfsig nahtes als erstes wort des zweiten verses. —
Anapher tritt in chiastischer form auf:
— mir von ir, ir von mir — (400, 6).
Schcene von ir güete ist min vrouwe,
si ist von ir scha>ne guot (507, 27).
bislu vro, so bin ich hohes muoles.
mirst ze hohem muole niht so guotes,
so daz du sist herzenlkhen vro (518, 5 f.).
Chiasmus von verschiedenen Worten desselben Stammes und
synonymen bezeichnet den eingang von li:
— daz si vrö mit zühlen sin.
zuhl bi freu den vrowen schöne sldl.
swelch wip ist mit zühlen höchg emuot. —
in demselben liede ist chiasmus zur Unterstützung der composition
verwant in str. 5 und 6 (ii hauptteil) : Swelch man — guot wip,
Ein guot wip — swelch man (vgl. o. s. 54).
Das gegenstück der anapher, die
E p i p h e r
fehlt Ulrichs lyrik nicht, ist aber natürlich wegen des reims un-
vergleichlich schwächer entwickelt, der durchgeführte grammatische
reim von lii streift zwar die epipher und erreicht gewis ihre
würkung, ist aber nicht eigentlich epiphorisch, da sich nie die-
selbe wortform widerholt.
Epipher von guot in xi, 322, 7. 18. 323, 5 (neben innerer
anapher von güele), als unvollständige responsion in vi, 110, 5
guote, 110, 17 entsprechend güete, je am ende des ersten Strophen-
verses; 111,2 güete, aber im zweiten verse.
Epipher zum Strophenübergang, gleichzeitig zur Ver-
knüpfung der mittleren verbiuduugsstrophe mit dem zweiten
hauptteil in lvii, 583, 3. 5. 7. 9 : wip — lip — wip — lip.
dieselbe epipher am Strophenübergang, zu analogem zweck, findet
1 wie stolz Ulrich und seine dame auf diese responsion waren, zeigt
FP 442, 8 f. 2 vgl. Roethe aao. s. 304 unten.
ULRICH VON LICHTENSTEIN 71
sich beim Übergang des allgemeinen teils in den speciellen, liv,
572, 11. 12. 13. l."> : lip — wip — lip — wip.
Weniger verbreite! als die anapber ist bei Dlrich, wie bei
den meisten Zeitgenossen, ihr gegenteil, die
\ ii i i i h ese.
Einfache beispiele:
In wenden wdne
bin ich creuden (ine (134, S).
freude ist süeze, sorge ist süre (421, 7).
— slt ich bin ir leides
in'irii- undr ii .'/'-/( vrö (545, 22).
Sinnlich herze rindet man bi Schilde:
Zegltch muot tnuos sin dem schihle wilde (457, 21).
Mit allitteration:
lieben wdn und leiden wanc (421,28).
.Mit anapher:
ez si fr um odr ungeteilt,
ez si liep odr ez si leit (419, 12).
Cbiastisch:
daz er tveer ir und si wter sin (448, 8).
im und ir, ir unde mir,
hin und her, SUS unde also (51(J, 22)
am end- und hühepunet des ansteigenden liedes xlf. in derselben
absiebt ist eine zierlich pointierte doppelantithese ans ende des
pointenreicheu dialoges xxx gesetzt:
'wis du min, so bin ich din\
'sit ir iteer, so bin ich min' (436, 7 f.).
Antithesen zur einleitung benutzt:
xiv, 1 str. :
— icolgemuulen — — ungemuol,
— — grözen — — kranc.
— — minnen hazzel lieben leide tuoi.
— — ireude — — sorgen — —
(399, 9—13, ähnlich, nur einfacher 553, 25. 27. 31).
Beim abschluss:
— süezen gedingen, da bi jdmers vil (408, 32).
Als Grundlage des ganzen gediebts:
xxii : ausdrücklich betont in der mitte, zugespitzt und
spielend widerholt am schluss (str. 3. 6. 7):
Daz lop ist der guolen wibe al eine :
da ist der valschen kleine mü gedüht
(417, 13, ferner 418, 1 — 14), doeb auch sonst vorkommend, die-
selbe antilhese 425, 1. 2.
72 BRECHT
Spielende autitheseu;
v, vierte Strophe : liep und, leit (105, 1 — 7), an ihrem Schlüsse
noch freuden — jämer, 426, 25 wip unwiplich. ähnlich in liii :
Wip und fr owen in einer wcete — — — — vrowe unwiplich
(566, 17 f.).
Anaphorisch:
din lieber man, min liebez wip,
daz si wir beidiu, und ein lip (447, 27).
Die autithese steigert sich zum oxymoron (vgl. Burdach,
s. 69 I).
II Helen ist den senenden leit:
ako* wünneclichiu huote
wcere mir ein swlikeit (410, 9 f.).
— da von ist ir ratsch den guolen guol (418, 14 in xxu,
sclilusspointe, s. o.).
si ist übel, si ist guol,
wol und we si beidiu luot (nämlich die minne, 435, 10).
Häufung, synonyme, asyndelon.
Die gegen ende der mhd. lyrischen entwicklung so stark
hervortretende, schliefslich gefährliche neigung zu häufungen
macht sich schon bei Lichtenstein in hohem mafse geltend, die
häufung, fast durchgehends asyndetisch, ist ein wesentliches
element seiner poesie. mit Vorliebe verbindet sie synonyme,
und bringt so, womöglich noch in Verbindung mit andern rede-
formen, virtuosenhafte parallelismen hervor, für eigentliche auf-
zählungen gröfseren umfanges ist Ulrich zu geschmackvoll.
Einfache asyndetische häufu n gen : tanzen, singen,
lachen (113,21), ougen wunne, herzen spil (417, 10), heide, vell,
anger, wall (431, 21), heide, velt, wall, anger, ouwe (436, 24), deren
färben wiz, röt, bld, gel, briin, grüen (431, 24, in xxix, das als
reie asyndelische häufung liebl). — körperleile der geliebten : ir ougen
kinne wengel munt (448, 24), dasselbe in asyndelischer liäufung von
sechs gliedern 521, 25 und gleich darauf 521, 31; an diesen stellen
sind je die beiden ersten glieder des asyndelons durch anapber des
possessivums (ir hals, ir ougen) nuanciert. — ritlerlicbe forderung:
Ir sült hochgemuot sin under schilde,
Wolgezogen, küene, blide, wilde — (457, 3).
segensreiche gaben der geliebten : wende, xounne, rillers leben
(525, 19), lip, guol, eregernden sin (525, 22, xliv beschwerung des
dritten gliedes; ähnlich 425, 8 und 426, 20, je vier glieder. —
liebkosung : Güetlich triulen, küssen suoze, drücken brüst an
brüstelin (516, 13). — ihre lugenden : sist noch bezzer danne guol,
schoene, dd bi tvol gemuot (400, 17, sehr ähnlich 415, 15), drei-
ULRICH VON LICHTENSTEIN 73
gliedrig 427, 7; 449, 22 f; 508, 24; 509, 5; 537, 1; 577,2 *ier-
gliedriges, 546, S fiinfgliedriges asyndeton mit swei vorbergelmden,
gleichfalls asyndetischen, anaphorischen parallelsätzchen, 572, 25. 26
gar ein sechsgliedriges ; 576, 17; 5S4, 29. 30. mit anapher 400, I:
ir vil lieben, ir vil guolen, höehgemuolen, desgl. 12:;. j 7 ; 554, 17 f.
(4 glieder). — desgl. fiir leilt und seile : an dem Ube, an dem
muote (554, 24), als gesamlausdruck der exislenz. für kommen und
gehn : ir urloup, ir grüesen (525, 1 1).
Den gipfel erreichen folgende fälle: dreigliedriges asyndelon mit
innerer anapher, nebst synonymen im ersten glied:
Heize und aller min tjedane,
Irine an allen kraue,
rekÜU sldl du allen leanr (126, 9 f)
und fiinfgliedriges asyndeton mit viermaliger anapher und adjeelivischer
beschweruog des ersten, vorletzten, und namentlich des letzten gliedes:
Mit staslem muote,
mit libe, mit guole,
mit reiner fuoge, an alle arge sile (136, 5 f.).
Das hauptgebiel der asyndetischen bäufung aber bilden die
synonyme, in denen Ulrichs phanlasie und sprachkuast sich
Dicht genug tun kann, eine fülle von formen tritt uns hier
entgegen — schon die bisher angeführten beispiele zeigten mehr-
fach lendenz zur synonymie — : sie alle anführen, hiefse Ulrich
halb ausschreiben, er zeigt, durcheinander, alle stufen der ent-
wicklung; die neiguug zu dieser ßgur aber nimmt beständig zu.
liebe, minne, ist al ein (430, 2). behalte, behüele (404, 29).
min [riunl, geselle, lieber man (,4 4 7, 14). süeze, reine, vil guot
(404, 1), si vil guole, süeze, reine (441, 30). die zit wol ver-
triben, ze scp.lden sich ke'ren, bi freuden beliben (403, 25). uf e're
sich pinen, in lugnden ersehinen (404, 16, beides in xvi).
Mannigfaltigster ausbildung labig ist diese figur durch ver-
schiedenartige Verwendung der anapher.
Zweigliedrig : der guolen, der reine gemuolen (134, 20).
so sunder, so se're (394, 19). slcele liebe , slcelen muol (430, 8).
uiplich zuhl und uiplich güele (576, 17). mit liebe, mit güele
(404, 30). er hazzel, er schiuhel etc. (404, 12 analog 400, 6).
ir merken, ir Jiüelen (40S, 1). ir aller güele, ir aller wünschen
(398, 6). vor unfreuden, vor unmuote (410, 7). mit ir triulen,
mit ir lachen (533,21). der vil guolen, der vil werden (322, 12).
rieh an freuden, rieh an aller seclikeit (397, 2). trösl für iriiren,
trösl und rät für senediu leil (397, 4).
Dreigliedrig : si reine, si scelic, si höre — st guole, si
liebe, si reine mit si liebe, si guole — st liebe, si süeze — si
scheene , si cldre respondierend als integrierender bestandteil von xn.
74 BRFXHT
so süeziu not, so senfliu sucere, so lieplich twanc (134,24). Min
tröst , min wünne, miner sirlden keiserin (322, 26). Für sin
stürmen, für sin suchen, für sin ungefüege drö (446, 17).
Asyndetische anaphorische synonymenpaare: den
minnet, den meinet, mit herzen, mit muole (404, 27).
Viergliedrige anaphorische asyndeta von syno-
nyme n :
vrowe schoene, frotoe reine,
frowe S(BÜc, frovoe guot — (434, 19).
Wibes schoene, wibes ere,
wibes (jüete, wibes zuht — (437, 9).
— miner freuden wunne,
mines herzen spilndiu meyen sunne,
min freuden geb, min stelden wer (513, 24).
Folgerichtig überträgt Ulrich die stilform vom einzelausdruck
auf den satz. es entstehen die rhetorisch oft sehr würksamen
kurzen parallelsätze mit anapher und synonymen.
ich wünsche, ich dinge (395, 9). si ist schoene, si ist guot
(546, 7). diust min wunne, diust min frouwe (449, 14). Wil si
guole, wil si reine, wil si süeze — (410, 12). si git freude, si
git ere, si luot höher lugende rieh (435, 22). Si hat schoene, si
hat ere, sist ein reine süeze wip (441, 21). Ich hdn von ir ere,
ich hdn von ir höhen muot. dannoch hdn ich mere von ir
(525, 15 f.). — Ich hdn von der guolen — (525, 21). Ich dähte
dort, ich ddhle hie, Ich ddhl an dise, ich ddht an die (439, 22).
Beliebt ist die art, asyndetisch gehäufte parallelsätze inhaltlich
im letzten parallelsatz zusammenzufassen:
Herre, kan diu minne swenden
Irüren und ouch senediu leit,
höchgemüel in herze senden
füegen zuht und werdekeil,
hat si alles des gewall — (435, 13 f.).
Aus solchem material zimmert Ulrich seine parallelstrophen,
deren bedeutung für die composition im zweiten capitel besprochen
worden ist. die Vorstufe zu ihnen bilden die häufigen parallel-
sätze aus scheinbar ganz gleichwertigen synonymen zusammen-
gesetzt, die aber doch allmählich bestimmter oder nachdrücklicher
werden, und so den gedanken oder das gefühl weiterführen,
womöglich noch anaphorisch:
Daz diu vreude lange wer,
daz ich weinenl iht erwache,
daz ich gegen dem tröste lache,
des ich von ir hulden ger (98, 1 — 4).
ULHICI1 Vi» LICHTENSTEIN 7:.
Und also grüt
ilnz ir gebasre min swaere mir büexe,
duz si mich scheide von leide, ri liebe,
Wenne hunU mir freuden schin?
wenne wil du, soßlic frowe, gefreun duz sende herzt min?
(397, 17).
/Uyndetische bäufung liebt Ulrich endlich beim attributiven
adjectiv, besonders bei epithetis für sein»' dame oder ihre
enschaften. die hierfür traditionelle zweigliedrigkeit genügt
ihm nicht.
ir reinen süezen lip (445, 22), mit linden nizen armen
(449, 1). Wil SO reinem süezen trihe (449, 17, d.'iss. 580.21).
guot wipllch irip (537,3). dise liebe süeze unmuose (516, 15).
iwer minneclichen süexiu wart (550, 17). diu eil siiezer minneclicher
lip (518,23), ir ril liepllch, güellich lösen (533, 27). ir Hehlen
spunden süexen ougen (525, 2). ir ril liepltch güellich lossllch
grüexen (511b, 6). durch die reinen süezen guoten herxenlieben
werden vrowen min (556, 16).
Substantivierte adjeetive als träger dieser häufung sind ganz ge-
wöhnlich, zb. diu süexe minnecUche (513, 10), diu ril reine süeze
(520, 29), diu reine süeze guote (554, 25).
Die neigung nimmt gegen ende mit der wachsenden künst-
lichkeit der lieder zu.
Polysyndeta kommen bei Ulrich kaum vor. über drei
glieder, deren drittes er auch hier beschwert, geht er nicht
hinaus : Erge und unfuoge um! unfuore diu wilde (404, 18) l.
Mit den zuletzt besprochenen erscheiuungen nahe verwant
ist der syntaktische parallelism us; aucli er ist bei Ulrich
nicht selten, sehr häufig tritt er als congruenz auf. irgend-
welche regel für die beschwerung der glieder (vgl. Joseph Klage
der Kunst s. 43 und bes. 44) lässt sich nicht finden.
Co ngrue u z : Erdenken und erwünschen (417, 11). unfuoget
und gewaldel (419, 20). wunne und freude (5S1, 24). ir mimte
— und ir gruox (457, 29). ir sil unde ir muol (572, 3). min
tröst l"ur (raren und min freuden gebe (585, 12), für klagendiu
teil und ouch für senede not (403, 15). min heil und ouch min
wünne (423, 23). mit hohem muote und ouch mit ritterlichem
leben (429, 6). ir urloup und ouch ir grüezen (534. 7).
Incongruenz : daz herze und aller min gedanc (399, 12).
scelde und al der vreuden min (399, 17, beides xiv). eines werden
1 in der lelirdichtung kennt er dies stilmittel : 3S verse langes Poly-
syndeton im relativsatz FB 637, 5 bis 638, 10. ein noch längeres 642, 2 his
643, 28 (59 verse).
76 BRECHT
wibes hulde — und ir minne (553, 22). werdes uibes minne und
ouch ir friundes gruoz (42S, 20). Iruren und ouch senediu leil
(435, 14). in hohem muote und ouch bi freuden (445, 12).
Breite.
Verschiedene der behandelten redeformen führten schon ein
elemeut der breite mit sich, das häufig zur äufseren Zierlichkeit
der lieder ungemein beitrug, ihren iuhalt aber verdünnte; so die
verschiedeneu formen deranapher, die synonyme, die parallelismen.
noch andere redeformen haben diese würkuug, die, weniger
zierlich, häufig nicht auf künstlerischer absieht, sondern auf
lässiger gewohuheit beruhen.
Künstlerische geltung haben am ersten noch die spielen-
den Variationen von vorhergehndem. so überflüssig sie
meist für den inhalt im grofsen sind, ganz still steht der gedanke
in ihnen doch nicht (s. o.)
Hier ist ein hauptgebiet des chiasmus, zb. 419, 17 — 21
(swer — swer), der auch manchmal zur schlusspointieruug dient:
509, 2 — 5 {Ir lip — — ir rot wiz prnner schin).
Die Variation bringt ein notwendiges moment in den
gedanken; statt vieler beispiele:
swer mil zühlen Ireil der freuden kränz,
und dem sin muol stäl von wiben ho — (536, 11).
In das letzte glied der Variation kommt das im folgenden
weiterführende motiv:
holten lop erwirbel höher muol.
guolen wiben höchmuot wol behagl:
du ton wil ich immer mere sin
höchgemuol durch dich, guot vrowe min.
Yreude gibt mir di n wol redender munl etc. (536, 17 — 20).
Ganz dasselbe am Übergang der vierten zur fünften Strophe
desselben variationenreichen gedichts xlvi, aufserdem mit breiter
widerholung (537, 3. 4). sehr instrucliv für die technik ist
schließlich das beispiel der letzten Strophe, in der die Variation
(537, 6. 7) des vorhergehnden (537, 4. 5) an ihrem ende das
Stichwort himel bringt, das dann den betonten gedichtschluss
herbeiführt, und in xlv der Übergang von Strophe 2 zu 3 (zwei
Variationen, Stichwort rösen), von Strophe 3 zu 4 (drei Variationen,
Stichwort zinhet).
Eine eigentümliche art der Variation zeigen die verse 520,29.
30, die 520, 25—28; 521, 5. 6, die 521, 1—4; 521, 11. 12, die
ULRICH VON LICHTENSTI IN 77
.Vi l, 7— 10; 521,17. 18, die 521, 13— 16; 521, >. die
521,25 — 2s in bewustem parallelismus variierend zusammenfassen;
521,21 variiert 521,21. zwei drittel der Btrophe werden im
letzten drittel repetiert, das ganze lied (.xlmi) ist daraufhin an-
gelegt; nur der pointierende schlug« macht eine, wol berechnetet
ausnähme.
Für il i e composition wichtig sind die Variationen
im xliv liede, wo sie den hauplteil <lrs gedichtes, Strophe 3 — 5,
wQrkung des wortes der dame, formieren; in den anfangs- und
Bchlussstrophen (schema : 2 + 3 + 2) fehlen sie.
Variationen ohne wert für den gedankengang bieten
dagegen die Strophen i in 7 im Verhältnis zu 6, lvi 3 zu 2, 5
zu 4; die verse 572,3—5 in bezug auf 571, 28. 29. 21. 22.
11 — 13. 7 — S: im liede liv, dessen Variationen von Strophe zu
Strophe sonst geradezu paradigmatisch >ind für die unvermerkte
weiterführung durch scheinbar absichtslosen Stichwortwechsel. —
l»ie eigentliche tautologie dient -eilen der prachl der rede :
Salden ich wäre vil rieh und au ireuden der fruote —
(394, 21),
oder ihrem nachdruck :
je und unfuoge und unfuore diu wilde]
geximl nilit dem helnn und toue nihl dem schilde (104, 19),
ist vielmehr meist zwecklos:
daz tuot herzenlichen icol und machet vrö (516. 24).
Wol ir kleinvelrötem mundet
immer scelic si ir süezer munl (563, 19).
Der letzte fall ist wie 563, 7 und 13 durch die grammatischen
reime des gedichtes (ui) hervorgerufen.
Besonders lieht es Ulrich, einen gedanken erst affirmativ,
dann negativ auszudrücken, auch wol umgekehrt:
vreude bringen und unfreude scheiden dan (417, 4).
den muot durch iueh höhe tragen
und an freuden nihl verzagen (443, 18).
ich verlribe
(Türen mit ir minem libe.
höhen muot ich da zir hol
(449, 13 f. Variation davon an entsprechender stelle «ler nächsten
strophe 449, 2S f.)- — über eine ganze strophe ausgedehnt : liii
slrophe 5. —
Zu pleonasmen, füllworten und flickversen kommt
es leicht unter dem zwange des künstlichen metrums oder des reims.
78 BRECHT
st kan troeslen sere (404, 10, ere : lere), bequemsten reim bringender
versscliluss : — daz weis ich wol (561, 7 : sol); dest also (577, 13:
vrö). fast traditionelle pleonasmen als notwendige verschen im leicli,
423, 13. 425, 17; und sonst, 567, 3. abrundende zusätze am
strophenschluss 435,12.26. 566,30. 567,12; als notwendige
Überleitung zur folgenden strophe 567, 5 (guote, obwol eben vorher
schon beste l). es ist bezeichnend für den Charakter der zweiten
minne, dass gerade in dem persönlichen schlussteil dieser letzten lieder
solche füllsei gedeihen.
Zur breite der rede tragen schliefslich die anknüpfungen
mit ouch (30,5), die bekräftigungen mit Jd (111, 1. 126, 19.
135, 4; zur einleitung des Wunsches : Jd herre — 401, 9; zum
betonten gedichtschluss 401, 12; bei der Zusammenfassung 553,24),
die erklärungen bei (Jd mein ich 406, 15; ich meine
576,11). ganz vereinzelte constructioneu äitö y.oivov (404, 21.
424,11. 521,22 — 24 lachen) kommen mit ihrer raumersparnis
dagegen nicht auf.
A llitteration und assonanz.
Es wird aufgefallen sein, dass manche der mitgeteilten stil-
beispiele aufser durch die eigenheit der repräsentierten figur
auch durch eine lautliche Übereinstimmung gekennzeichnet waren,
nämlich durch die allitteration ; schon durch die anapher
kommt ein starkes alliterierendes dement in Ulrichs verse.
aber auch die würkliche allitteration verschiedener Wörter ist
ihm ein vertrautes hilfsmittel der eleganten rede, dabei zeigt
er eine eigentümliche Vorliebe für die weichen, schmeichelnden
anlaute w und l.
wünschen unde wol gedenken (98, 5).
— so daz si mit willen günne
mir von ir so werder wünne — (98, 10).
ivolgemuotes werdes wibes sirme(576, 19, ähnlich 576, 17.21),
xiv strophe 5 (400, 20 f.) : 14 mal w-anlaut in acht versen,
derselbe in kleinerem mafsstabe 403, 22 — 24. ferner 406, 23.
428, 20. 513, 17 f.
— lieben wdn und leiden wanc (421, 28).
so si mit der liebe lose
ist nach ir vil süezen sit (581, 19).
freude ist süeze, sorge ist süre (421, 7).
ir höchgemuotes herzen rdt (428, 17). —
Lvni str. 6 : liehten — liebe — liep — lieber — lip
str. 7 : lieber — lip — lere — lebe (585, lf.)
beide Strophen werden so durch l für die Stimmung gleichmäfsig
gefärbt, die letzte aufserdem durch widerkehrenden tc-anlaut weiz —
ILIUCH VON LICHTENSTEIN 79
wenden — volle; der Bchlussvers erhält seinen Charakter durch eine
hüriere lautgruppe : trösl für frtfren. die stimmungmalende allitteralions-
kunsi des xvii Jahrhunderts war nichts neues.
Von Dblichen allitterierenden form ein trifft man aufser
der eben erwähnten tröst für trüren (zb. 401, 9. 585, 12), leit
mich liebe, Ziep nach leide (105, 1), min» unde meine (394, 20.
UH, 27), wol und we (435, 11), mm unde so (zl>. 513, 15. 582,21).
Die assonanz spielt eine weit geringere rolle, gelegentlich
unterstützt sie die allitteration : der nähen bi hl liehe lieplich Ut
(104,29), lief Hebe Ut (433, 10). ein beispiel wie Diu inioi
an den iciben, diu tuot mich so frö (408, 13) leitet über zu den
eigentlichen bi n u eurei men, die aus Ulrichs verskunst nicht
wegzudenken sind und zb. das zierliche lied xu wesentlich ge-
stallet haben (vgl. auch 423, 27; ungenau 567, 7). nicht selten
trelen sie in der form der schlagreime auf; zb. zecjlkh muot
muoz sin dem schilde wilde (457, 22). als ungenaue schlagreime
sind falle wie in ir munde wunder Ut (5S1, 16), e'ren lere
(zb. 5S5, 9) aufzufassen.
Lebhaftigkeit der rede.
Ist Lichtensteins lyrik vielfach breit und manchmal leer, so
ist sie doch last nie schleppend monoton, einschläfernd gleich-
mafsig, wie die manches Zeitgenossen, der auch nur ein thema,
die minue, kennt, dies ligt an der lebhaftigkeit seiner rede, die
vorwiegend durch den reichlichen gebrauch einiger Stilmittel
bewilikt wird : voranstellung, ausruf, frage und anrede, durch
ihre betrachtung muss der eindruck blofsen wortreichtums
corrigiert werden.
Voranstellung und parenthese.
Ulrichs naturell ist so lebhaft, dass es mit der hauptsache
nicht warten kann, sondern sie so rasch als es irgend geht,
vorbringt, diesen eindruck empfangt man von den zahlreichen
voraustellungen, die seine gedichte von allen andern unter-
scheiden, dies mittel der heraushebung erscheint in den ver-
schiedensten formen.
Unterstreichende voranstellung des subjects im absoluten
nominativ, wider aufgenommen durch ein pronomen in irgend-
welchem casus, an beispielen herscht überfluss:
5t reine guot
swie si mir luot — (136, 11).
80 BRECHT
St rouberinne, si hat — (412, 14).
diu huol an den wiben, diu luot mich so frö (408, 13).
freude und mine besten tage
die sinl hin mit seilender klage (414, 6).
Das vorweggenommene subject wird als subject eines folgen-
den relativsatzes oder verallgemeinernden relativsatzes recapitnliert:
Nideriu minne, an freuden tot
ist er dem si an gesigl (59, 1).
Guoliu wip süez unde reine,
derst noch wunder, swd si sin (421, 31).
Es wird mit dem Possessivpronomen eines folgenden frage-
satzes aufgenommen:
Si vil minneclichiu guole — — — — — ,
wd hat mir ir güete vor verborgen sich?
(401, 5; ähnlich 399, 17, in demselben Hede xiv).
Es besteht aus parallelen infinitiven:
ir merken, ir hüelen, daz trosstet noch baz (408, l ähnl. 6).
Ellipse des subjectinfinitivs:
mit zühten vrö [seil, sin], daz ist ein leben — (428, 5).
Auffallend nachdrückliche recapitulation des mit ver-
allgemeinerndem relativsatz eingeführten subjeets zu überdeutlicher
Strophenanknüpfung 560, 19 f. : Swelch wip güetlich lachen kan, —
hdt diu röten munt — .
Zwecklos gewordene manier der recapitulation:
Min lip der lac niulich eine — (582, 11).
Betonende voranstellung des objeets:
Im absoluten nominativ (?):
schdeh unde roup, diu beidiu klage ich — (412, 9).
In dem vom folgenden verbum regierten casus :
lieben wdn und leiden xcanc,
swaz si des ein ander tcelen — (421, 28).
Voranstellung des logischen objeets:
Mit relativsatz umschrieben:
Daz si heizent klagende not,
solde ich dd mit immer ringen — (409, 23).
In dem vom folgenden verbum regierten casus:
Rehler freuden, swer der waldel — (421, 3).
In zweieinhalb langen versen : 400, 12 f.
Voranstellung des entfernteren objeets im absoluten
nominaliv:
Alle die in hohem muote wellen sin,
den wil ich daz raten — (426, 12).
ULRICH VON LICHTENSTEIN 81
Dasselbe mit Umschreibung des entfernteren objects durch ver-
allgemeinernden relalivsatz, zu dispositiontmifsiger strophenanknüpfung,
wie oben : Steeleh man rieh — hdi behuot — - . m>4 ein wip
sich an den hii - — der lip darf etc. , eine recapitulatioo in die
andere geschachtelt (561, 3 1'., u; vgl. 560, 1 9 f.).
Voranstelluog des prädicatsnomens im absoluten oomi-
nativ, um anfang der Strophe:
Ein höhe mt'nne gernder man
mit slatem muote, das piu ich (131, 13).
S.lii eindrucksvoll am liedschluss:
Trost miner jdre,
daz ist ir scliouwe, st rrouwe, zewdre — (395, llj.
Voranstellung der apposition (absol. nomin.) am gedieht-
anfang:
Der iverlde iröst und al ir werdikeit,
ir guolen reiitiu xcip — (402, 17).
Vorziehen des abhängigen s atz es, sehr beliebt:
Daz ieman die lugende scheide,
des teil rehtiu minne niht — (419, 8).
Wie si si gevar, diu wol gemtiote,
da: wil ich iueh wixzen lau (50S, 22). —
Zur eigentlichen prolepsis mit ihrem constructiouspreugendeu
ungestüm kommt es also nicht.
Der gleichen momentanen Unfähigkeit des abwartens wie
die voranstelluog entspringt die pareuthese, von der ich jedoch
bei dem correcten Ulrich nur ein beispiel finde : 546, 13.
Ausruf.
Schon die voranstellung des subjeets nähert sich manchmal
dem ausruf (zb. 136, 4; 412, 14) : zum ausruf drängt Ulrichs
ganze persönlichkeit, trotzdem sind epitheta, im ausruf appositioneil
an personalpronomina angeschlossen, oder ausrufe in ganzen
Sätzen ohne interjeetion nicht so häufig, als man erwarten sollte.
Er töre vil Lumber — (407, 27).
Neiz waz ich singe
von der naht : — (30, 1).
Zur bezeichnung des Wunsches:
Wer weer ich dan,
ich scelic man 1 (31, 5).
Jd herre, fünde ich iender iröst für Irüren anderswd,
e daz ich verdürbe miner freuden, miner besten zit! (401,9).
min Up si vrö : — (403, 7).
Immer müeze scelic sin
Z. F. D. A. XLIX. N. F. XXXVII. 6
82 BRECHT
ir vil eren rieher werder lip (406, 13).
Die ganze Strophe xvu 5 (406, 25 f.).
het ich doch noch wdn als e — (414, 20).
Desto häufiger ist die anknüpfung eines satzes, Satzteils
oder wortes an eine interjection.
Wie kanstu, Minne,
mit sorgen die sinne,
den muot betouben mit sender clage! (anf. x).
wol dir tac, vil scelic si din nam (30, 21).
Wol dir, sumer, diner süezen — — zil (anf. xxxi).
wol dem manne, wol dem tvibe! (583, 8).
Wol her, danket — (anf. xxn). — Wol her alle — (anf. lu).
Wol ir kleinvelrötem munde! (563, 19).
wol ir — (508, 16; 534, 13; 560, 24 u. ö.).
wol im — (113, 17). — doch wol im, der — (59, 3)
wol uns des — (445, 5),
Wol ufl ez taget (512, 9).
Nicht selten ist die selbstbeglückwünschuug:
Wol mich der sinne — (anf. xu).
Wol mich, ez ist ergangen — (auf. vui).
wol mich, wol mich — (441, 3)
Wol mich, wol mich, wol mich des — (anf. lv).
wol mich, wol — (515, 23).
Als respondierende Strophenanfangsanapher:
Wol mich immer! — ^
Wol mich, wol mich iemer mere — > xxxvn, alle str.
Wol wol wol mich — J
Fast ebenso häufig we:
we daz mirs diu guote niht engan! (schluss u, 31, 7)
We daz mir diu guote
verret so ir minne! (anf. vi, 110, 5).
We warumbe sul wir sorgen? (anf. vu, 113, 13).
Owe owe frowe Minne — (114, 9).
Owe daz ich — — muoz — (anf. xiv, 399, 9).
Owe sold ich — (400, 4, xiv).
Owe des — (412, 21).
Owe des — 414, 3, anf. xxi, widerholt ach oice 414, 8,
we der klage und owe 414, 18. 19 : klimax.
Owe der so sceUc wcere — (420, 16).
Anderes:
heg fünd ich der guolen eine! (422, 1) i.
heg waz lieber dinge bringent mir — — die wünsche min!
(400, 1).
1 vgl. Roethe s. 326 mit anm. 361. Borchling Der jTiturel s. 122.
ULRICH VON LICHTENSTEIN
hey was im sin dienest salden bringet l
wie fraltchen endet sielt sin tednl (117.
Waffen über dir gar unyuolen — (auf. xlv, 533t 13,
wiilciliull: iv äffen über si immer mrrr :,:<3, 17).
Frage.
Ziemlich Bellen ist die echte frage:
Vroioe, liebin i rmve min,
U>ar uinhe bislu mir geliaz't (105, 8).
ui durch welch wunder
nimpl si des nihl war? (135, 11, \, ilialog).
Mar si ril reine
besunder duz eine
um tut bescheiden, was ir uille sl? (135, 25, x).
— sage, wie teil du treesten mich? (397, 6, xin).
W'enne huml mir freuden schin?
wenne wil du, scelic frowe, gefreun daz sende herze m/n?
(397, 17, xiii).
Ferner im n dialog, Strophe 2 und ü, zh. 434,26:
Herre, saget mir, waz ist minne?
ist ez wip odr ist es man? —
waz hat si dar zuo betwungen,
daz in wip noch jugent freude yii? (556, 6).
Schüchterne frage als vorsichtiger ausdruck des Wunsches:
Was obe si daz wünschen lieze lihle sunder haz? (400, 8).
Frage mit sogleich erfolgender antworl:
Sol ich da bi In'iric sin?
neind, frowe, treu mich — (397, 9).
Ob ich des iht innerclichen wünsche? jd — (400, 14).
Formelhafte frage des volksepischen Stils, mit antwort:
Wie pflac sin den tac diu süeze minnecliche?
so daz er wart hohes muotes riche.
so kurzen lac gewan er nie (513, 10 f, u tagelied). —
Sehr gewöhnlich sind auch hei Ulrich rhetorische fragen.
Wie möhl ir mir vreude geben
dne die vil lieben guolen? (98, 17).
uä hdl freude sich verborgen? (420, 21).
ifo: danne ob mir ir einiu hat
Erzeigel höhe misseldl? (424, 8).
swd ein vrowe unwiplich la?le,
wer möhl der gelrouwen? (566, 19).
Als gedichtanfang:
W4 war umbe sul wir sorgen? (vu).
Was darumbe, ist verswunden
uns der sumerl — (l).
6*
84 BRECHT
Zum anfang des leichschlusses:
Nu waz bedarf min seneder lip — tuot? (425, 11 — 15).
Als Übergang zum hauplteil eines liedes (typus C):
Zwiu sol mir des winders zit
und ouch dar zuo sin langiu naht? (104, 23).
Als gedichtschluss:
Wd von sold ich wesen vrö,
swenne von ir mine sinne
noch min muot niht stüende hö? (410, 23).
Beim Strophenanfang :
Si vil ungencedic wip —
waz mac ir gewall mir liebes mer benemen? (399, 17,
ebenso 401, 5 in dem fragenreiclien liede xiv).
Als strophenschluss:
waz bedarf der lugende mere,
swer die lugende beide hdl? (419, 6).
Sehr beliebt sind gehäufte parallelfragen, deren
nachdrücklich- oder Zudringlichkeit zu Ulrichs ungestümem werben
sehr gut passt.
Vier derartige fragen, von denen die dreiletzten, anaphorisch
mit wd beginnend, unmittelbar auf einander folgen, als klimax:
58,22 — 27; zugleich als Strophenübergang.
Ebenfalls ununterbrochen, als würkungsvoller strophen-
schluss:
waz bedarf ich scelden mere?
wie kan mir gelingen baz? (421, 1).
Durch kurzen zwischenvers gegliedert, um Jibn herum
symmetrisch zu einer Strophe ausgedehnt:
viii Strophe 6: 126, 26—28. 30—32.
An entsprechenden stellen zweier aufeinanderfolgender, eine
klimax darstellender Strophen (nicht in genauer responsion):
— ob da iht
ougen lihl
lieplich sehen ein ander an? (433, 12 f).
— ob da niht
mer geschiht? (433, 30),
beide male mit unerwarteter, schalkhaft verhüllender antwort.
Dasselbe Stilmittel, nur sehr verstärkt, bei aufeinander
folgenden parallelfragen :
Sol ab ich si minnen diu mich hazzet? sol mir lieben
diu mir also leide tuot?
ULRICH VON LICHTENSTEIN 85
Jedermann halt dies für rhetorische fragen mit der selbst-
verständlichen stillschweigenden antwort : nein — es folgt aber:
jd, so teil daz herze und aller min gedanc (399, 11, xiv).
Ulrich nimmt also plötzlich die rhetorische frage als echte,
und beantwortet sie mit überraschender paradoxie.
Apostrophe.
Die haupterscheinung in Ulrichs Stil, sowol ihrer ausdehnung
als ihrer charakteristischen bedeutung nach, ist die anrede
(apostrophe).
Sie ist so sehr ein integrierender bestandteil seiner lyrik,
dass es nicht genügen würde, nur einzelne beispiele mitzuteilen,
die entwicklung — denn eine solche ist vorhanden — muss
vollständig überschaut werden.
Menschen und dinge redet Ulrich an, auch personiiicierte
abstracta : den tag (n) , den mai (iv) , den sommer (xxxi) , den
winter (v); die männer (xvn, xxv, xxvn), die frauen (xi, xiv, xv,
xvi, xx, xxv), die ritter (xxxviu), den knappen (xxxvm), jung und
alt(xxxv); frau Minne (vir, ix), den 'hohen mut* (in, xxxn), sorge
und angst (xxxiv), weibesgüte (xlvii), truren (liii); am häufigsten
aber seine dame (i, in, v, vi, ix, xm, xi.i, xi.n, xlvi, xlyiii) und
das zuhörende publicum (vii, ix, xvm, xxii, xxxix, xlv, lii, liv,
lv, lvi). als entwickelte apostrophensvsteme können die dialoge
gelten; in x reden der dichter und frau Minne, in xxx uud xxxm
herr und dame, in xxxvi und xl ritter und dame, zofe und
herrin , zofe und liebespaar einander an. unter diesen adressen
ist kaum eine durch irgendwelche besonderheit auffallend, nur
ihre menge erscheint bemerkenswert, sie zeugt von lebhaftigkeit
des geistes und von technischer gewantheit. sich selbst redet
er niemals au, so oft er auch von sich spricht.
Hinsichtlich ihrer Verteilung auf die entstehungszeiten der
lieder ist es wol nicht zufällig, dass die anreden an die er-
scheinuugen der natur und an die frau Minne dem anfang und
rund der ersten hälfte des gesamtwerkes, die an die männer und
frauen der kritischen zeit seiner ersten minne und den wdnwisen,
die an die personificierten höfischen abstracta wesentlich der
zweiten hälfte der lyrischen production angehören, während die
anreden au die geliebte und an das publicum durchgehends an-
zutreffen sind.
86 BRECHT
Da sich Ulrich stets als meuschen unter menschen fühlt,
so ist der trieb zur apostrophe immer bei ihm vorhanden, unter
umständen bleibt er latent, aber doch spürbar, dies ist überall
da der fall, wo er sich mit bericht, erlaubnis, Vorschrift, rat an
eine bestimmte adresse wendet, ohne dass die innere Spannung
stark genug wäre, um sich geradezu in der rhetorischen form
der apostrophe zu entladen, zb. im beginn des zweiten leichteiles
(424, 12f. , parallel mit der ausgesprochenen apostrophe an die
männer im ersten teil, 423, 1):
daz wil ich gerne wizzen Idn
mit zühten, als ich beste kan,
tif gendde guoliu wip.
in der ersten Strophe von xl\i, die bestimmt, wer im publicum
das lied 'Frauentanz' siugen dürfe (536, 9 f, bes. 12. 13):
— dem sin muol sldt von iciben ho,
dem erloube ich si ze singen wol — .
das ganze xvi lied (i iizreise), mit ausnähme höchstens der
fünften Strophe, ist von einem ritter an ritter gerichtet; dass
sie nicht ausdrücklich angeredet werden — wie im beginn der
ii üzreise, xxxvm — ist zufall; vgl. FD 405, 15. 16.
Zu anfaug des den frauen geltenden liedes u heilst es
(str. 1, 560, 7f):
Ich wil durch die vrowen min
guoten wiben rdlen einen rat — usw.
entsprechend xxvi strophe 1 (426, 12 f.), an die männer:
Alle die in hohem muole wellen sin,
den wil ich daz raten bi den triuwen min — usw.
fälle wie diese beiden könnte man geradezu als verdeckte
apostrophe bezeichnen.
Unvergleichlich häufiger kommt es zur ausgesprochenen
apostrophe. diese hat verschiedenen Ursprung und dient den
verschiedensten zwecken.
In manchen fällen dient sie würklich einer echten gemüts-
bewegung, die sich mit der objectiven rede in der dritten person
nicht mehr begnügen zu können meint, dahin gehört der Über-
gang aus der dritten person in die zweite in der zweiten hälfte
des i liedes, das ganz seiner dame gilt {Diner reine trcest ich
mich — IS, 19 ff.), oder lied xx, das erste scheltlied, in dem
echte erregung über die untreue der dame in erbitterte klagen
an das ganze geschlecht ausbricht (411, 27); die eindringliche
ULRICH VON LICUTENSTEIN s;
lehre an dieselbe adresse, mitten in der rede au> der 3 perg,
heraus : guoliu wip, geloubet daz — (41 S, 5. xxu); der sehr
begreifliche, wenn auch über die nalur hinaus künstlich gesteigerte
freudenausbruch im ersten liede der zweiten minne (xxxn):
Höher muut, nu wis empfangen
in min herze tusenl stunt.
weit überwiegen jedoch die lalle, in denen apostrophe nur als
litterarisch überkommene Stilverzierung angewant wird, nicht
mehr als dies bedeuten zb. die anreden am Strophenanfang
Guotiu wip xiv, Strophe 5 (mutmafslicher grund siehe oben s. 7),
Höchgemuote frowen xvi, strophe 5, oder am strophenschluss:
wol dir tac, vil scelic si din nam (30, 21).
Am meisten liebt Ulrich apostrophe als gedieh tan fang
(meist durch die erste strophe durchgeführt), dies ist eine- seiner
charakteristischsten eigentümlichkeiten. 26 lieder von 5S, also fast
die hälfte, beginnt er mit apostrophe, desgl. seine drei büchlein.
Apostrophe nur am aufaug: Freut iueh, minnegernde
man (xvn). Wol her, danket allen guoten wiben — — des freut
iueh, ir freuden geraden man (xxu, str. 1 v. 1 u. 5). Nu freut
iueh, minnegernde man (xxvu, vgl. xvn; nebenbei wideniufgenonunen
in str. 4, vers 428, 23). Wol dir, sumer — (xxxi). Wichet umbe
balde, sorge und angest — (xxxiv). Warnet iueh gar, junge und
aide (xxw, apostr. durch zwei str.). dreifache anfangsapostrophe an
die Minne, die geliebte, die frauen in strophe l und 2 von xi. Nu
hilf ic/bes güete (xlvii) ; das Stichwort wibes güete wird im siebenten
vers, gegen ende der ersten strophe, widerholt; so grenzt Ulrich die
eingangsslrophe mit apostrophe ab (ähnlich z. b. in v, 104, 20). vliueh,
vliueh, truren, von uns verre (lui).
Apostrophe ausdrücklich nur am an fang, aber für
das ganze lied gellend: Wol her alle, helfet singen (lh).
Wichet umbe, lät der guoten nigen mich — (lv0- wideraufnahme
der apostrophe in der mittelsten strophe (572, 1. 2 nach 571, 7 f) :
Wizzel alle, daz ich kan guoten wiben in diu herzen sehen (liv).
Apostrophe nur amschluss ist selten, sie erfüllt die
ganze schlussstrophe des berühmten iv liedes : Scelic meie, du alleine
troeslesl al die weide gar — . analog, zu ähnlicher wilrkung, die
schlussstrophe von lied vi : Jd man ich vil sere, vrowe, dine güete —
— ; der letzte vers bringt noch einmal die kurze apostrophische pointe:
guol wip, wende daz (111, 12). zur einführuug eines bildes am aufang
der schlussstrophe : Schouwet wie der hüsen an der Tuonouw gründe
lebt des tröres süeze gar (lv).
Apostrophe am an fang und am schluss, die ent-
wickeltere form, zeigen mehrere lieder. sie kann an beiden stellen
BRECHT
derselben, sie kann verschiedenen personen gelten, das in. lied :
Vrowe, liebiu vroive min (57, 25) — — Frowe (58, 2) — geht
in der zweiten Strophe recht unnatürlich in die 3 pers. der herrin
über, kehrt aber in den zwei letzten versen zur anrede : frowe — zu-
rück, gegen ende eine Zwischenapostrophe : Höher muot — (58, 30);
die handhahung der figur ist noch unsicher.
Am schluss des zweistrophigen einleitungsteiles von v (siehe unter
'responsion') abgrenzende apostrophe an den Winder nebst lob der
sumerivunne (104, 20 f); sumer und winder waren die stichworte
des ersten teiles. am beginn des liedschlusses zweimalige eindringliche
anrede an die geliebte (105, 5 f. 8f).
Am liedanfang apostrophe an das publicum, am schluss ebenfalls
zweimalige anrede an die vrowe, und zwar wiilerum bereits in der
mitte der vorletzten Strophe, zeigt das zwei jähre nach v entstandene
ix lied (vgl. den parallelen einzelausdruck 131, 17 und 105, 5,
131, 22 und 105, 8).
xxxviu richtet sich am aufang an die ritter : Erengernde riller,
1dl iuch schouwen — (456, 25), zu beginn und ende des Schlusses
zweimal an den knappen : Tuo her schilt — (457, 27), nu tuo her
sperd sper! (458, 4. 5).
Mehr oder minder durch gehnde apostrophe, wo-
möglich an dieselbe person gerichtet, ist natürlich das ziel der
entwicklung, entsprechend einem tief in Ulrichs natur gegründeten
wesenszuge. diese Verwendung der figur ist daher die häufigste
bei ihm, und die am bevvustesten und kunstreichsten ausgebildete.
So wenden sich alle fünf Strophen des xni liedes mit ausge-
sprochener, zt. respondierender (slr. 2, 3) apostrophe an seine vrowe.
häufig widerholte dringende anrede der dame lag nahe in dem erregten
xli liede, dem ausdruck seiner Sehnsucht, in ihr herz zu kommen :
Guot wip, miner fr enden lere (anfang, desgleichen apostrophe in jeder
Strophe; besonders lebhaft in der dritten, vierten und sechsten; ge-
häufte imperative am Strophen- und versanfang 515, 24 — 26). ähn-
lich XLviii : anrede an die herrin durch das ganze lied, stark betont
zu anfang mit dreifacher apostrophe : Vrowe, miner freuden vrowe,
vrowe min usw., der am anfang der zweiten Strophe noch einmal
Wiplich wip folgt.
Allen guten frauen gilt das xv (402, 18, anfang, 403, 7. 13)
und das lange xx lied (411, 27 f, anfang, 412, 4. 25. 413, 1). den
höhen muot begrüfst das xxxn im beginn aller Strophen (responsion),
zu des dichters eigner befricdigung (FD 442, 8).
Hierher gehören auch die anreden an das publicum,
obwol sie niemals ein gauzes gedieht durchziehen, vielmehr stets
nur vereinzelt, manchmal sogar nur wie gelegentlich, vorkommen,
aber gerade die nebensächlichkeit, in der sie nicht selten er-
l'LHICll VON LICHTENSTEIN
scheinen, lässl erkennen, wie sehr das ganze lied apostrophisch
gedacht ist; das isl so selbstverständlich, dass es nur beiher an«
gedeutet wird. so das beidiu wir sint diu mare, ir hcBret m
etc. (114, 1—8), unmittelbar vor der grofeen schlussstrophen-
apostropbe an vruwe minne (vu). ebenso verräterisch isl das
unscheinbare seht, das dun mitten in dem liebesdialektischeo
prachtgedicbt xvin entschlüpft (408, 6) : wir seilen jetzt, es i-t
eine Vorführung vor geladenem publicum, charakteristisch in
dieser hinsieht ist ferner das ein wenig mehr rhetorische : daz
teil ich iueh wizzen län 508, 23 (xxxix), das man kaum als
gegensatz zu dem vielen wir und uns des liedes empfindet, weil
Ulrich sich seihst mit dem publicum ins wir so gänzlich ein-
bezieht, dass man die bei ihm so häufigen wir und uns beinahe
auch als apostrophen auffassen könnte, ja, er ist so dramatisch-
lebendig, dass dem leser die vielen Wol mich und dergl. fast
wie selbstanreden vorkommen. — ähnlich zei^t das ganz ge-
legentliche Schouwet, wie diu pie ir süeze etc. (534, 3), dass xi.v
durchgehends auf zuhOrer berechnet war. auch im lii liede hat
man es mit beständiger anrede ans publicum zu tun, obwol die
feierliche allocutio nur die erste Strophe formiert; ebenso im
Hl, in dem aufser dem anlang nur das Gerne ich von dem seihen
spräche (581, 23 1 verrät, dass es sich um einen Vortrag handelt.
Zwei lieder endlich lassen erkennen, wie auch die apostrophe,
gleich der anapher und andern figuren, von Ulrich herangezogen
wird, um die gliederung der gedieh te zu unterstützen.
Das lied xlh (typ us B) beginnt mit der apostrophe Vrowe
min, got gebe dir guoten morgen, die anrede geht durch das
ganze lied. die specielle apostrophe aber erscheint wider im
vorletzten verse der zweiten Strophe (anfaugsanapher):
vrowe, mines herzen hüneginne,
dh. am schluss der einleituug und der eng zu ihr gehörigen
zweiten Strophe, in der der gedanke des liedes zuerst, und in
einfachster form, angekündigt wird, die folgende zweite stufe
der gedichtklimax , Strophe 3 und 4, die mit dem bisherigen
gedauken spielen, wirdwiderum durch grofse apostrophe eingeleitet:
Liebiu vrowe, liebest aller wibe,
der in der gleichstehenden vierten Strophe nur ein kurzes vrowe
am ende des ersten verses zu entsprechen braucht, die schluss-
strophe aber beginnt wider mit Guot wip und schliefst im vor-
90 BRECHT
letzten verse (abgesehen vom envoi) mit vrouwe. — so markiert
apostrophe die gedichteinschnilte.
Ähnlich steht es mit xlvi (typus C 2 + 3). der sentenziöse
allgemeine teil (str. 1 — 2) ist apostrophenlos bis auf die letzten
worte :
höchgemuot durch dich, guol vrowe min.
von hier an herscht anrede an die vrowe durch deu ganzen
speciellen teil (str. 3 — 5). innerhalb seiner ist die seelen- und
körperschilderung (str. 3 — 4) nochmals nach dem Schlüsse hin
abgegrenzt, und zwar widerum durch apostrophe am ende des
letzten Strophenverses:
lugende hdslu vü, guot wiplich wip.
dann erst folgt die ausdrücklich hieran anknüpfende schluss-
strophe. die composition wird durch apostrophen gewant ver-
deutlicht, und mit vortrefflicher würkung. —
Von den 58 liedern Ulrichs sind nur 17, also weniger als
ein drittel, ganz ohne apostrophe; und bei allen kann mau
sagen, warum es in ihnen nicht zur apostrophe gekommen ist.
es sind nämlich, mit nur drei ausnahmen, sämtlich auffallend
ruhige lieder gröfserer austlehuung, die einen gedanken ohne
leidenschaft ausführen, oder minnedidaktische überleguogeu an-
stellen; mit einem worte : persönlich gefärbte reflexionspoesie.
der unterschied ist so handgreiflich, dass man Ulrichs gesamte
lyrik danach einteilen konnte, diese lieder führen mit kokettem
ausmalen einen einfall durch (vra, lviii), erwägen eine paradoxe
(xix), predigen erfahrungssatte minnelehre (xxm, xxvi, xxvm,
xlix, li), preisen in ausführlichem panegyrikus das lachen oder
einen ausspruch der geliebten (xliii, xliv), drücken sicheres
glücksgefühl (l) oder gehaltene trauer und hoffnung aus (xxiv);
sie geben ein freudenreiches Selbstgespräch wider (xxxvn), und
sie erzählen redselig einen glückstraum (lvii). von den drei
lebhaften liedern aber schliefst sich xn eng an das m büchlein
an, das mit absichtlicher bescheidenheit von der geliebten nur
in der 3 pers. zu sprechen wagt; xxi, das zweite scheltlied, ver-
schmäht es, wie alle scheltlieder, sich an die treulose dame selbst
zu richten; xxix, der reie, stellt ganz objectiv, ohne jede persön-
liche beziehung auf den dichter, jauchzende liebeslust dar : zur
anrede bieten sie alle keiue gelegenheit.
ULRICH VON LICHTENSTEIN 9]
Person ificatio n.
Die apostrophe setzt eine person oder ein für den augen-
blicklichen zweck personificiertes abstractum voraus. ;ils momentan
peraonißciert erschienen durch sie : der tag m), der höhe muot
(ii, xwiii, der meie (i\), der winder (v), frowe minne (vu, x, m;
vgl. Roethe s. 265), der sumer (xxxi), sorge und äugest (uxiv),
icibes güete (xlvii), das traten (liii).
Alier auch aufserhalb der anrede kommt es bei Ulrich zur
personificierung. solche ecbten personificationen sind:
Minne hei mich ir gebunden — (420, 1).
Zuo uns kam diu werde Minne
unde slöt uns beide vaste in ein — (582, 25).
swa: diu Minne mir mit dringen tuot — (5S4, 5).
— der Minnen rose (581, 1 7 f).
Iied xli str. 3 — 7 : zwei männer klopfen ans herzeustor:
bi mir hie ist höher muot,
der auch gerne dienet dir:
erst dir holt mit tri wen , da: geloube mir (515, 2711).
ähnlich 565, 27 Hoher muot, diu rehler herre, dei
Limit mit gewalde (liii, str. 1 — 2).
zweifeln kann man aus formalen gründen bei xxxvi, str. 4 (448, 13llj:
Ir vil liiter liebe sh'tz diu minne
mit der iriw e vaste ze einem sinne,
innerhalp ir herzen lür :
dd rigelt sich diu State für.
In mimt e n parad/sr
ir beider lip mit vreuden lac — .
noch mehr im xvi liede (i üzreise) :
Erge und unfuoge und unfuore diu wilde
geziml niht dem helme — (404, 18 f),
und kurz vorher :
— diu «7 werde minne.
diu git freud und vre (404, 7).
im letzten falle könnte die analogie diu werde Minne (582, 25, s.o.)
zur annähme der personificalion (die Bartsch setzt) führen ; dies ist
jedoch durchaus nicht notwendig; und die kurz darauf folgenden Erge
und unfuoge und unfuore diu wilde halt ich mit Bechstein und Lach-
mann bestimmt für keine personificationen. sodsI müste man auch
404, 12 schänden (statt schand) erwarten (vgl. Benecke zum [wein
v. 1579, und Bechstein z. st.).
Das gebiet, aus dem die wenigen personificationen genommen
siud, ist das ganz obligate, ritterlich- minnigliche; auch die
persoDiticierende apostrophe von xxxiv:
92 BRECHT
Wichet umbe balde, sorge und angest, von der slrdze —
strichet von dein lande, sam der winder, von uns hin:
ist wol nicht auf die Vorstellung fahrenden volkes (dringet an
der lür 445, 1), sondern auf ungebetenen ritterlichen besuch
auf der bürg zu beziehen.
Personilication ist Ulrichs starke seite nicht, an Walthers
anschaulichkeit *, an die fülle und kraft Reinmars von Zweier2,
die Originalität und den reichlum Wolframs3 darf man nicht denken.
Bilder.
Auf der vermenschlichung der natur beruht, wie die
personification, die bildliche redeweise, das dement der poesie4.
Den Übergang von der personilication zum bilde zeigt noch
ein ausdruck wie des herzen ougen (5S2, 17), den Bock (aao. s. 35
nebst aum.) in der geistlichen bildersprache, bei Otfrid, dann
im miunesange, bei Wolfram und Walther nachweist, diese
personilication des herzeus, die bei Lichtensteiu eine grofse
rolle spielt, führt dann zu so entsprechenden metaphern wie der
schon von Uhland (Schriften v 236) gerühmten:
duz herze sihl mich weinent an,
und giht ez si vil ungesunt — (131, 10).
aus der geistlichen Sphäre stammt wol auch die Triwe — slöz
ob aller werdikeü (419,4), und die State als kam flieh gewate
(405, 12), von der Vorstellung des miles christianus.
Die bilder Ulrichs hat Knorr (Zu UvL. cap. in) gesammelt
und besprochen, und zwar nicht nur die der lieder, sondern
auch die des märes; darauf sei hier verwiesen. Knorr stellt, in
Übereinstimmung mit meinen ergebnissen bei der personification,
fest, dass riltertum und minne die einzigen gebiete sind, die
Ulrichs bildsinn anregen; dass seine bilder einfach und ungelehrt
sind (das einzige bild , bei dem er s. 76 zweifelt : Schouwet wie
der husen an der Tuonouw gründe lebt des tröres süeze gar, also
1 vgl. zb. Wilmanns Leben s. 197.
2 Roethe s. 271.
3 Bock Bilder und Wörter Wolframs, abschn. i, §§ 1 — 2.
4 auch Knorr (aao. s. 72 ff) hat noch die alte mechanische auffassung
von der bildlichen rede, als ob es etwas sei, das der wirkliche dichter tun
oder lassen könnte; er spricht von den gründen, weshalb jener 'einen ver-
gleich nimmt', vom 'bildlichen schmucke', mit dem er 'die dinge umkleide'
udglm. gegenüber solchen schulmeisterten beherzige man den protest
Hugo vHofmannsthals in den Blättern f. d. kunst (auswahl, Berlin 1899, s. 91).
ULRICH VOiN LICHTENSTEIN
lebt ich uol des htftes von ir munde (T>77, 15) enthält gewig
kein gelehrtes element, Bondetn mir allgemeine anschauung);
dass seine metaphern 'selbstschöpferischer Willkür* entbehren.
Erstaunlich ist in der tat die 'verritterung' der weit, <l ie
auch aus Ulrichs bildern Bpricht; allein fast ebenso grofs dabei
sein mangel an ursprünglichkeit, gegenüber der beliebten art,
einzelne originelle bilder Dlrichs (zb. bei Uliland aao.) wie andrer
mini, dichter auszuheben, muss betont werden, dass er Originalität
gewöhnlich nur auf dem wege der geschmacklosigkeil erreicht,
bezeichnenderweise aber mehr im märe, wo er manchmal an
den rücksichtslosen Wolfram (Scherer, Litteraturgesch.3 s. 172)
erinnert, als in den liedern; hier band eine festere Bliltradition
seine in geschmacksdingen nicht* immer sichere phantasie. bilder,
die ihm ausgiebige molive liefern, liebt er freilieb auch in den
liedern zu tode zu hetzen (zb. vm, xi.i, liv).
Neben so überzeugenden vergleichen, wie dem viel angeführten
vom an fang des iv liedes:
In dem walde süeze dame
singent cleiniu vogelin,
neben so starken bildern, wie am schluss von vn:
Ali grif her, wie sdre ich brinne.
haller i
Müesle von der hilze brinnen,
diu mir an dem herzen l/t —
stehn so trockene wie das bild vom spiel 408, 33; so un-
anschauliche wie Küsseii ist der minnen rose usw. (581, 17 f.);
so schiefe wie das bild von der biene 534, 3 f., bei dem im
tertium comparationis zwei contradictorische gegensätze, trüren
und süeze, stecken; so geschmacklos deutliche wie alle die
bilder vom herzen, das aus dem leibe zur geliebten springen
will (xlii, lv, lvii; s. cap. ii schluss). hier sehen wir wider
eine grenze, die den alternden Lichtenstein vom jungen scheidet:
die Vorstufe zu diesen letzten bildern : das herz stöfst mit un-
gestümem klopfen an die brüst, vor der liebe, die in ihm pocht
(xxxn; 1233), ist für die anschauung noch nicht verletzend,
die bilder seiner Jugend sind durchweg besser, wenn auch
weniger originell, als die seiner spätzeit. Uhlands gesamturteil :
'niemals ist er gezwungen oder geschmacklos' ist jedesfalls viel
zu günstig.
94 BRECHT
Weitaus die meisten seiner bilder sind litterarisch über-
lieferte, im minnesang übliche, neu sind wol nur der wegen
seiner zarten Schönheit so berühmt gewordene vergleich:
— — ir güele,
diu mir richet min gemüele,
sam der troum den armen luot (97, 14 f),
der erwähnte husen auf der Tuonouw gründe, und allenfalls der
vielleicht heimatlicher anschauung entsprungene vergleich:
Nu vert enwer ir habedanc
— als ein mar der, den man hat
in eine lin gebunden (424, 25).
der einzige vergleich, der unzweifelhaft den gebirgsmenschen, den
Steirer verrät, steht nicht in den liedern, sondern im märe:
— daz sd uf sligel mir der muol,
reht als diu Hellte sunne tuot,
so si uf den bergen gdl (519, 26).
Den epigonen merkt man an den vielen bildern, die, ur-
sprünglich schlagkräftig oder gar 'sonderbar', jetzt gar nicht
mehr als bilder empfunden werden, hierhin gehören viele, die
Knorr (s. 90. 91. 96. 98) noch als bewuste metaphern rechnet,
so wird küneginne zwar noch als ein vergleichsweise starkes
wort empfunden (doch nicht mehr so stark, dass es nicht noch
ein synonymes epitheton brauchte), sonst würde es nicht den
pointierten schluss von xliv bilden:
sist gewallic küneginne immer über mich;
ebenso wie keiserin, das gegen schluss von xi (322, 26) an
höchster stelle einer anaphorischen , asyndetischen synonymen-
klimax steht:
min tröst, min wünne, miner scelden keiserin — ,
aber gewis nicht mehr als bild. 518, 13 heifst es ganz phrasenhaft:
vrowe, mines herzen küneginne — .
noch abgegriffener sind kröne und lercenen (zb. 521, 21; Tgl.
die stellen bei Knorr s. 90). dass tou eigentlich eine metapher
für 'tränen' war, ist vergessen ; Ulrich braucht das wort ständig
als poetischeres synonym : als ir ougen touwes vol werdent üz ir
reines herzen grünt (521, 22); noch deutlicher:
vreuden tou mir iaz des herzen grünt
kuml von dir in elliu miniu lil (536, 23).
hier ist das gesamtbild deshalb für unser gefühl so verunglückt,
weil das vom dichter nicht mehr empfundene bild vom tou in
ULRICH VON LICHTENSTEIN
ein neues bild, das vom herzen in die glieder Bteigende kraft-
behagen, einbezogen werden sollte. Lichtenslein freilich wird
vreuden tou einfach als vreude gefohlt und darum die bild-
\ermenguug garniclit bemerkt haben.
Dies sind die wesentlichen formen des poetischen ausdrucke
in Ulrichs liedern. erwagt mau die nicht übergroße zahl seiner
gedichte, so wird man linden, dass die anzahl der redeflguren
in ihnen, der arten ihres gehrauches, ferner die geschmeidigkeil,
mit der sie sich dem wechselnden gedanken der jeweilig ver-
schiedenen composilion anschmiegen, respectabel gtmug isl.
dank ihnen isl die uüance nicht der letzte vorzug seiner lyrik.
Das wird erreicht, ohwol Ulrich die bemerkenswerte neigung
zeigt, ein kunstmittel, wenn er es einmal verwant hat, in
demselben gedieht gleich noch ein oder mehrere male anzubringen,
daher zb. im xvi liede die vielen Synonyma, der grund ligt
hier im Strophen- und reimschema , wie man überhaupt bei
Ulrich noch auffallend gut sehen kann, wie der reim zunächst
den verwanten begriff hervorlockt1.
Nicht minder charakteristisch als die vorhandenen redeformen
sind für einen dichter die fehlenden, bei Ulrich sucht man
vergebens alle stilmittel gewollter oder ungewollter incorreclheit:
anakoluth, aposiopese, formlose polysyndeta. für indirecte rede
ist er zu lebhaft, für die revocatio zu unbekümmert2, hyperbeln
(eine ganz obligate 447, 19) würden sicher mehr hervortreten,
wäre der höfisch-lyrische stil ihnen überhaupt günstiger; sie
gehören mehr in die spruchdichtung und ins volksepos. am
markantesten bezeichnet den sentimentalen pathetiker der gänz-
liche mangel an ironie und humor.
Weitere ergebnisse verspar ich bis zur endgiltigen
Charakteristik.
1 andere fülle auffälliger widerholung de9 Btilmittels : in xvm die
recapitulation mit dem demonstrativpronomen, mit dem die vielen relaliv-
pronomina und die conjunetion daz effectvoll zusammenklingen, in xxxvn
die affirmation und negation und die anrufung Gottes in jeder der beiden
ersten Strophen, das spielen mit verschiedenen ableitungcn gleichen Stammes
in XXXU.
2 einziges beispiel 401, 9 f. beliebte form der revocatio (neind, frowe)
ohne ihren sinn 397, 10.
96 BRECHT
VIERTES CAP1TEL.
ULRICHS LITTERARGESCHICHTLICHE STELLUNG
UND SEIN DICHTERISCHER CHARAKTER.
Bevor die gewonnenen ergebnisse zu einer Charakteristik
des dichters zusammengefasst werden, erscheint es vorteilhaft,
ihn zur vorläufigen Orientierung mit den hauptsächlichen seiner
dichtenden Zeitgenossen kurz zu vergleichen.
Einzelne stellen in Ulrichs liedern und im FD überhaupt
sind oft mit stellen anderer dichter parallelisiert worden. Erich
Schmidt hat Ulrich mit Reinmar dem Alten und Walther ver-
glichen, daneben einige parallelen mit Morungen, Hausen, Rugge
angemerkt (Reinmar von Hagenau und Heinrich von Rugge
s. 116 ff.), Knorr seine bekanntschaft mit lyrikern und besonders
mit epikern und didaktikern, wie den Verfassern des König Tirol
und des Winsbeken, mit Walther, Spervogel, Thomasin, Eilhart1,
Wolfram, Hartmann, Ulrich von Zatzikhoven festzustellen gesucht
(s. 21 — 48). Wilmanns hat Ulrichs lieder häufig zur erklärung
Walthers herangezogen, sowol in seinem 'Leben Walthers' als in
seiner ausgäbe, Roethe gegenseitige anspielungen bei Ulrich und
Reinmar von Zweter (s. 112. 168. 217. 231. 579. 583), Burdach
nachahmung Reinmars des Alten durch Ulrich (Reinmar d. A. und
Walther v. d. Vogelweide s. 74) constatiert.
Blofse parallelstellen — und manches angeführte namentlich
bei Knorr ist nicht mehr — liefsen sich beliebig häufen, aber
wenn es nicht besonders viele und ähnliche sind, die den dichter
einem andern nähern, was würden sie, bei der bekannten natur
des minnesingerlichen motivschatzes, besagen?2
1 mit recht stellt Knorr (s. 28 — 32) fest, dass die art, wie U. Tristramen
und Ysalde 394, 27 nennt, auf bekanntschaft mit der Eilhartschen fassung
der sage schliefsen lässt. — 394, 27 hat JY1 Tristramen (so Lachmann),
AC* iristranden, G tristanden, 465, 24 haben alle hss. Tristram; an beiden
stellen im innern des verses. 488, 2. 20; 489, 27 bieten alle hss. Tristram
in unreinen reimen (: Gdwdn, : län, : gewan), 503,1 aber Tristran : man.
da unreine reime jedoch im FD ganz gewöhnlich sind, glaub ich 503, 1 an
reimbesserung nur durch den Schreiber, und halte 488, 2. 20 und 489, 27
an Tristram fest, da endlich die Gottfriedische namensform Tristan nur
in jener vereinzelten la. von C vorkommt, halt ich eine bekanntschaft U.s
mit dem gedichte Gottfrieds nur aus den namensformen nicht für erweislich.
5 vgl. Rurdach s. 54.
ULRICH VON LICHTENSTEIN 97
Man vergleiche zb:
Utiniicli von ftforungen Ulrich von Lichtenstein
MFr. 130, l. Ml FD 412, Uli
Sin hiez mir nie widersagen, — da* « mich höhet mmtet äne
- — — — — — — — widersagen beheri
trau »i wil ie uodi — — — — — — — —
eliiit lant beheren als ein roubwrin. Si rouberinne usw.
ich gl.mbe nicht, dass ans diesem zusammentreffen topisch ge-
wordener Wendungen irgend welcher einlluss .Morungens auf
Ulrich zu erschließen ist. am eude einer lyrischen hlilteperiode
ligt dergleichen in der lull.
Ich unterlasse daher die mitteilung weilerer parallelstelleu
und suche nur das Verhältnis L.s zu seinen unbezweifellen haupl-
meisteru, Heinmar dem Allen und Walther, klarer zu macheu.
An folgenden stellen hat ESchmidt einlluss Reinmars auf
Ulrich festgestellt:
Reinmar: 19S, 351 = Lichtenstein 113, 13 f, 428, 2f
15S, 31 = 54,22
17«), 15 f = 56, 15 1
17<i.21 = 56,23
i 61, 20
199, 20fT =^ J 121, 30
l<»57, 4
176, 5 = 383, 15
176, 11 = 105, 10
159. 37 = 387. 15
179, 16 = 55, 10
179, 181T = 55, 15
178, 2S = 3S7, 12
162, 34 = 105, 1 f
178.1 = 47, 171 ,b;.chle>
ditecte
178, 14 = 50
", 171"
.2 /ö
bernalmi>
Wechselredeu zwischen d. mannl 136,20; 136,27; 324,7; 350,8;
oder der frau und dem boten j 357, 18. 20 U. a.
169,11 — 555,21
155,5 = 30,8
Knorr (s. 44) hat hinzugefügt:
194, 22 = 281, 21
199, 8 = 432, 2 11
199, 11 — 429, 21
164, 1 fvgl. 177, 21) = 227, 21 { ^gj^1« '
Z. F. D. A. XLIX. N. F. XXXVI). 7
98 BRECHT
Meiner naehprüfung haben sich folgende ähnlichkeiten im
einzelnen ergeben.
Das schwanken Reinmars, ob er seine dame verlassen solle,
nebst der folgenden selbstbeglückwünschung zu seinem ausharren
159, 19 ff erinnert im gedankengang an die gleichen reflexionen
Ulrichs 401, 9; 403,6 und das dreifache wol mich 406, 19 f (zb.
wol mich daz ich nie gebrach mine stcete an ir! daz tuot mir wol).
die Versicherung des dienstes, zu dem er geboren sei, 159,251,
findet sich ähnlich oft bei L., zb. 58, 8. 15; 105, 10 ff.
Reinmar : 159, 37 und ist daz mirs min scelde gan vgl.
Lichtenstein 387, 15 (in Büchlein) : — des ich, ob mirs min
celde gan. —
Reinmars hastig unterdrückter wünsch sich eine andere
dame zu suchen 160, 35 f erinnert lebhaft an den gleichen Vor-
gang bei L. 401, 9 f. beide male ein optativischer ausruf in zwei
versen, dessen inhalt durch den folgenden vers schroff abgelehnt
wird. R.s — jö ist si so guot hat aufserdem bei anderer, ähn-
licher gelegenheit L. im ohr gelegen : — ir sit doch guot 32*2, 7.
R. 161, 38 f : innerhalb der tür hdt [fehlt synonym für gendde
161, 32] leider sich verborgen — vgl. L. bei ähnlicher gelegen-
heit der minneallegorie 448, 13 f : ir vil luter liebe slöz diu
minne etc. — innerhalp ir herzen tür : dd rigelt sich diu
stcete für.
R. 162, 16 f : War umbe vüeget diu mir leit, von der ich höhe
solde tragen den muot? vgl. L. 399, 13 (u. ö.) : Si nimt mir
vreude, diu mich sorgen solde machen vri.
R. 163, 23 : Mich hoehet — , daz ich nie wip mit rede ver-
los, sprach in anders ieman danne wol, daz was ein schult diech
nie verkös — vgl. L. 571, 25 Hdn ich iender missetdn gegen den
guoten [seil, vrowen], de'st mir leit etc.
Reinmars selbstvorwürfe, dass ihm in der langersehnten
gegenwart seiner dame der mund verschlossen geblieben sei (im
liede 164, 3 ff, bes. 164, 21 f), erinnern an das würkliche be-
nehmen Ulrichs bei gleichem anlass, und seine klagen über sich
selbst FD 36, 17—39, 17.
Güete und gebeerde der dame (R. 167, 3) spielen überall
auch bei Ulrich eine grofse rolle, ein beispiel statt vieler : guot
gebeerde vrowen schöne stdt. wol ir diu bi scheene güete hdt
560, 23.
ULRICH VON LICHTK.NSTEIN 99
R. 168, 35: — hoher muot, der mich niht innen Idt —
diese gegendberstellung dos höhen muotea mit dem truren ist
vollends in allen möglichen formen des ausdrucks so gewöhnlich
bei L. , dass citate wol unnötig sind, vgl, .uicli ir guet mich
zürnen niht enldt 429, 10.
Der schlagenden parallele im natureingang R, 169, 911=
L. 555, 21 (beiden ist der herbst gleichgiltig : Waz dar umbe?)
schliefs ich noch L. 507, Hfl' an : auch hier, im eingang von
\xxix, tröstet er sich über den schwindenden sommer — der
nächste mai bringt ihn wider (507, 16 f vgl. 555,23).
R. 169, 27 : Wol den ougen dm so welen künden und dem
herzen duz mi>- riet — vgl. L. 406, 19 f: Wol mich daz ichs ie
gesach etc., ferner besonders:
Wol mich der sinne, die mir ie gerieten die lere,
daz ich si minne — (394, 16 f)
und Min herze gibt mir wisen rät — 58, 5, dö riet mir daz
herze min 58, 13 u. o.
R, 172, 15 : ir gewaltes wird ich grd — vgl. L. 395, 9 : Ich
wünsche, ich dinge, des einen daz vor grdwem hdre mir da ge-
linge baz dann ir gen d de gebdre — .
lt. 172, 3<» ff : Swer dienet dd mans niht verstdt, der verliuset
al sin arebeit — ein gedanke, der oft bei L. widerkehrt : 412, 17,
xxi 427, 1. arebeit bei L. im gleichen specialsinne zb. 58, 27.
Der verbissene vorsatz, der berrin trotz aller abweisung un-
beirrt treu zu bleiben, R. zb. 173, 9 f, findet sich bei L. überall
in den liedern der ersten minne.
R. 175, 16 wan des einen dd man lönen sol — vgl. L. 581, 22
wan daz eine des man nennen niht ensol.
R. 175, 24 we war umbe — vgl. L, 113, 13 We war umbe
sul wir sorgen?
R. 175, 33 si was endelichen guot — vgl. L. 415, 15 Si was
endelichen guot — .
R. 182, 14: Höhe alsam diu sunne stet daz herze min —
vgl. L. 437, 18 : des muot muoz geliche stdn Hoch der sunne.
R. 184, 38: Ich wil bi den wolgemuoten sin — vgl. L. 399, 9:
Oice daz ich bi den wol gemuolen also lange muoz beliben un-
gemuot — .
Reinmar werden vorwürfe gemacht wegen seines beständigen
trauerns : si sagent mir alle, trüren ste mir jeemerlichen an
100 BRECHT
185, 32; ebenso geht es L. : Ich hdn geklaget so sere miniu leit,
daz manic tumber lip die langen klage mir ze guot niht gar
vertat etc. (402, 20, xv). R. will sich selben guoten tröst geben
185, 29. L. vermisst mehrfach den tröst seiner dame und spricht
mit den frauen von dem rat, den ich mir selben hdn gegeben
403, 13 (xv).
si hat tugent und e're R. 190, 18 : das gleiche rühmt L. von
seiner zweiten dame ; Wol mich, wol mich iemer mere des daz si hdt
tugent und ere — 449,21 ; erenbernde spü mit den tugenden 515,21.
Das hausen im herzen des anderen, als Reinmarsches bild
194, 18 ff von Burdach s. 113 ff ausführlich besprochen, hat sich
bei L., wie oben mehrfach gezeigt worden, reich und zuletzt ins
absurde entwickelt; vgl. die vielen von Rnorr s. 95 aufgezählten
stellen (auch Burdach s. 116). besonders in den zwei auf-
einanderfolgenden liedern xli und xlii hat L. das motiv verwertet,
der von Burdach citierten parallelstelle Parz. 433, 1 tuot uf etc.
vergleicht sich L. 515, 24 ff (xli) Tuo uf : ich klopf an etc. das
motiv B.s 194, 31 f min herze — ez sohle sin bi mir; nust ez
bi dir wird von L. 518, 29 ff (xlii, vgl. lvi) nur als hoffnung
ausgesprochen, xlii zeigt die ergänzende Situation zu R.s gedicbt:
R. wehrt sich vers 26 f nur noch schwach gegen den einfall der
herrin in sein herz; von dieser besitzergreifung geht Ulrich be-
reits aus. die behaudlung des motivs ist bei ihm noch spinti-
sierender als bei R. zeigt dies schon den epigonenhaften zug L.s,
so noch mehr die talsache, dass das bild bei ihm schon so zur
phrase geworden ist, dass die ursprünglich sehr notwendig hinein
gehörenden ougen, durch die die geliebte in sein herz dringt,
ganz in Vergessenheit geraten sind, die enge des herzens (R. u.
'»Yolfram, vgl. Burdach aao.) fehlt übrigens auch bei ihm. —
ein minneclichez wunder dö geschach R. 194, 21 : ein solches
lounder hat auch L., 582, 15; ein minnewunder mir geschach
FD 119, 22.
Reinmars Strophe 195, 3ff mag Ulrich im ohr geklungen
haben, als er die erste Strophe seines vn liedes dichtete:
R. 195, 3ff L. 113, 13ff
Swem von wiben liep ge- We war umbe sul wir sorgen?
schiht, vreud ist guot.
der hat aller scelde wol den Von den wiben sol man borgen
besten teil. höhen muot.
ULRICH VON LICHTENSTEIN 101
!!. 195, 3 IT L. 113, 130
wd sack ie man so guotes ihtl Wol im der in Man ge-
a n in lit iler wer l de wunne und w innen
ouch ir heil. von in! der st ein scelir
wol im, erst ein swlic man man.
der wol an in erwirb et p/liht fr ende sol man durch si
der fr ö i d e n minnen :
der ir gürte wunder geben kan. wan dd lit vil eren an.
Einen ähnlichen anfaog wie dies R.sche lied : Der mir gäbe
sinen rät! hat Ulrichs xxi\ :
0 ue der so scvlic wcere, der uns künde geben rät .'
R. (doch vgl. die mini. MFr.« 313) 201, 16: dd ich
herzeswcne trage, mere denne ich ieman sage — vgl. L. 412, 19
Xoch lide ich von ir leides mere dan ich iemen sage. — .
R. 202, 6 : ich hoere sagen daz si [seil, diu wip] niht alle
haben einen muot bat vielleicht riehen Walther 5S, 35 f L.s lied
xxn, das die guoten wip von den Ixxsen scheidet (der ausilruck
418,1), heeinflusst. directe Übernahme im Frauenhuch(Fß)615,26:
j'l hob wir all niht einen muot, sagt die dame.
Desgleichen uia,- der bei L. so häufige gedanke : der dichter
will alle guten frauen der seinen wegen ehren, zb. 515,27 durch
si e're ich elliu wip etc., durch ähnliche äufserungen R.s, wie zb.
202, 35 und e're gerne guoliu wip, durch die einen etc. mit be-
stimmt worden sein. —
Ich glaube nun nicht, dass Ulrich irgend eine der ange-
rührten stellen bewust kopiert hat. vielmehr hat er oll'eubar
gerade Reinmars, des im Südosten bekannten dichters, lieder so
im gedächtnis gehabt, dass er unwillkürlich auf Wendungen in
ihnen verfiel, oder sie doch streifte, auch ausdrücke, die im
minnesang allgemein üblich waren, — absichtlich hab ich solche
mit notiert — mögen ihm vorzugsweise aus dieser hauptquelle
höfischer kunstsprache, vielleicht schon in früher Jugend (vgl.
FD 3, 5 IV; Schönbach Biogr. blätler n 17), zugeflossen sein, leider
erzählt Ulrich nicht, nach welchen muslern ihn markgraf Heinrich
von Istrien in der dichtkunst unterrichtete (FD 9,13 ff j ; auch
von dem lehrer selbst ist nichts erhallen.
Reinmars einwürkung auf Ulrich kann mit äufseren eiuzel-
parallelen nicht eingeholt werden, auch wenn man die Unter-
suchung, was sehr nötig wäre, auf composition, syntax, vers-
102 BRECHT
kunst ausdehnte, von Reinmar stammt Ulrichs ga.nze miune-
auffassung, sie beherscht die lieder und namentlich die büchlein
seines ersten minneverhältnisses : aber nicht ohne beträchtlich
umgeformt zu werden.
Die elemente in Ulrichs natur, die hierzu beitrugen, liegen
nach derselben seite, die der kunst Walthers einfluss auf ihn
gestaltete, auch hier reicht es nicht aus, einzelne stellen zu
vergleichen.
Parallelen Ulrichs und Walthers hat widerum Schmidt ge-
sammelt; er betont mit recht, wieviel geringer hier der nach-
weisbare einfluss ist.
FD 240, 17 ff : Ir sült sprechen willekomen (citat von 6 versen).
Walther 42, 6 : ohne negation FD 51, 29 (Wilmanns)
8, 12 vgl. FD 587, 27 fT
8, 15 vgl. . FD 587, 31
Knorr fügte folgendes hinzu:
Walther 20, 25 ff vgl. FD 589, 3 ff
46, 10—12 |
46, 15— 17(27, 17ff)/ T«L L' 18' S~ ll" 16- 1T
. 26, 10 vgl. L. 399, 11 taber ,mÜ ^^7-
gesetzter antwonj
42, 31 ff vgl. L. 556, 4 ff
- fzlll] 'gl- L.418,lff(vgl.FB615,24;616,5f.8f)
47, 1 ff [bes. 5] vgl. L. 59, 1 ff
48, 38 ff vgl. L. 566, 10-23 (FD 564, 17—
565, 20)
Knorr bemerkt selbst, nicht überall sei entlehnung sicher, ich
möchte auch hier am liebsten unbewuste eriunerung annehmen,
die 'entlehnung' wird überhaupt bei einem dichter, der nicht
lesen kann (FD 60, lf), meist auf dem wege des gedächtnisses
vor sich gehn, besonders bei einem lyriker, der unter umständen
auch im sattel dichtete.
Von solchen anklängen an Wallher hat eine sorgfältige nach-
lese folgende ergeben:
Wallher 63, 20:
Friundin unde frowen in einer wate
wolle ich an dir einer gerne sehen —
UL11K II V(»N LICHTENSTEIN L03
vgl. 566, 17:
Wip und frowen in einer wate
sol man gerne schouwen —
Schon Wilmanns (Wallher1 159) bat die parallel« _• in .
W. 69, I •• Saget mir ieman, wetz ist minne? mit L. 134,26:
Rerre, saget mir, waz ist minne? ohne bei der 'beliebtheil des
ihemas' direclen eiofluss anzuDebmeo.
Aoaphorische Spielereien gerade mit stiete, wie sie Walther
'.»7. 1—11 enthalt, liebt auch L., zb. 430,7—13.
Die ougen des herzen 5S2, 17 (s. o.) bat Ulrich vielleicht
von W. 99, '22 mtnes herzen ougen und 99, 27. — die stelle
Wolframs 5, 18 (Bock s. 35 aiim. 1) bietet nicht die charakte-
ristische kürzeste form der metapher.
Walther 102, 12 iuwer minneclichez ja = L. 401, 2 ir vil
minneclichez jd.
Walthers, nach Wilmanns1 125 vielleicht von Hartmann MFr.
215, 14 beeinflusster, liedanfang : Wol mich der stunde, daz ich
si erkande 110, 13 mag L.s liedanfang Wol mich der sinne, die
mir ie gerieteji die lere, daz ich si minne 394, 16 mit hervor-
gerufen haben.
Das gleiche gilt von einein andern liedanfang Walthers:
Got gebe ir iemer guoten tac (119, 17),
der mit L.s liedanfang 518, 1 zu vergleichen ist:
Vroioe min, got gebe dir guoten morgen,
guoten tac, vil freude riche naht.
zeigt die hybride ausgestaltung mit ihren auf einmal eigentlich
sinnlosen drei wünschen den nachahmer?
Nachahmung, absichtliche oder unabsichtliche, lit:t jedes-
falls vor gegenüber einem der bekanntesten motive Walthers:
W. 53, 35 IT:
got hat ir wengel höhen ßiz,
er streich so tiure varwe dar (rot und weifs) —
vgl. L. 536, 25:
got hat sinen vliz an dich geleit —
u. a. die färben weifs, braun, rot (536, 27 f).
Eine ähnliche Vorstellung zeigt 576, 20 : an daz herze hdt
geleit got so minneclichen lip (Wilmanns1 s. 141, anm. z. st. \
gleicht die früher Heinzelin zugeschriebene Minnelehre 639 ff).
104 BRECHT
Dagegen ist wol nur zufällige berührung bei ähnlichem au-
lass die gedankenparallele:
W. 53, 17 ff: L. 397, 19 ff (vgl. oben s.7):
Miner frowen darf niht wesen leit, Ob ich niht geniezen kan
daz ich rite und frage in frömediu diner güete und der langen stcete
lant min,
von den wiben die mit werdekeit So Id mich vil senenden man
lebent. der ist vil mengiu mir der geniezen, den ich durch den
erkant — willen din
Vgl. auch W. 49, 16 ff: Sol und muoz gedienen vil.
Swd ich niht verdienen kan daz sint elliu guotiu wip — .
einen gruoz mit mime sänge etc.
Allerdings ist die vergleichung
insofern nicht genau, als er hier
nicht von seiner dame spricht,
sondern von allen spröden frauen.
Einen vollbewusten anschluss Ulrichs an Walther erblicke
ich nur in seinen dialogen. es handelt sich um Walthers
dialoge 100, 24ff und 85, 34ff, mit denen Ulrichs x, xxx,
xxxiii lied zu vergleichen ist.
Alle drei dialoge Ulrichs schneiden die letzte Strophe in zwei
teile für die gesprächspartner, während sie ihnen vorher Strophe
um Strophe abwechselnd zuteilen : ganz ebenso macht es W. in
den angeführten liedern (vgl. auch Wilmanns1 144 anm. zu v. 37).
Walthers lied 100, 24 ff ist ein gespräch des dichters mit
Frö Welt, Ulrichs 134, 5 ff (x) eines mit der frau Minne, in
beiden beklagt sich der dichter, die angeredete sucht ihn mit
gründen zu beschwichtigen, der ausgang freilich ist verschieden:
Walther sagt mistrauisch der frau gutenacht und vert ze herberge,
Ulrich lässt sich zu neuer begeisterung entflammen.
Viel weiter geht die Übereinstimmung zwischen W. 85,3411
und L. 434, 19 ff (xxx). beide male ein gespräch zwischen dem
dichter und einer dame. beide male verhält sich die dame spröde,
und der dichter gibt minnigliche lehre, in beiden liedern von der
dritten Strophe an, auf ersuchen der dame (W. 86, 13 lert mich
— Frowe, daz wil ich iuch leren 86, 15, L. 435, 2 saget an —
Vrowe, ich wil iu von ir me're Sagen — 435, 20). bei Ulrich
ist von vornherein von minne die rede, bei Walther gibt erst der
herr dem thema die verfängliche spitze, dafür geht W. sogleich
ULRICH VON LICHTENSTEIN LOS
in der mionelehre der dritte d Btrophe, der Ulriche dritte Strophe
im inhalt entspricht, stärker aufs persönliche los und bringt schon
hier den effect, den Ulrichs raffinierterer Bpätlingsverstand Ins
zum sclduss aufspart : der herr bezeichnet sich selbst als ge-
eignetes object für die soeben vorgetragenen minnevorschriften :
froice, wollet ir den mtnen,
den gceb ich um ein so schiene wtp,
worauf die dame ihn nur als redegesellen gelten lassen will, der
herr wagt noch einen vorstofs und wird erst dann von der dame
zierlich und schnippisch abgefertigt, wahrend W, so mit uider-
holungsmotiv und klimax wilikl, sucht Ulrich seine stärke in der
ausdehnung des immer verfänglicher werdenden gesprächs, das
bei ihm noch doppelt so viele (kürzere) Strophen zählt als bei W.
hei ihm kommt der herr erst zu beginn der letzten Strophe, von
der dame fast provociert, mit seinem antrage heraus, dann aller-
dings kurz und bestimmt: Vrowe, da soltu mich meinen etc.
noch kürzer, dabei schnippischer als hei W. und schärfer, ist die
antwort. — bei Ulrich ist alles logischer, pointierter, eleganter,
weniger gutmütig : in dieser üherschärfung des tones glaub ich,
wie in der der motive, wider den copisten zu erkennen, pedan-
terie des uachahmers ist wol auch die ergänzung der bei vV.
fehlenden Herre zu beginn der frauenstrophen. bei W. gehl die
dame im scherz auf die befürchlung ein, ihre minne werde den
ritter toten (86, 29); bei Ulrich fürchtet sie sich selbst vor dem
minnekummer (435, 27f), ebenso schalkhaft, aber mit erkünstelterer
naivetät. die gesellschaftliche haltung, der leicht frivole salonton,
ansteigen und abbrechen des gesprächs ist in beiden liedern
ganz gleich.
Die Ähnlichkeit des Waltherschen liedes mit dem xxx des
Lichtensteiners besteht in der gleichen anläge, die hier auch die-
selbe strophenzahl hervorgebracht hat, und in der parallehtät
der eingänge. Strophe 1 bei \V. entspricht durchaus der ersten
Strophe bei L. 443, 1 ff, ankündigung der neigung des ritters
(Frowe'n lät iuch niht verdriezen Miner rede Wizzet
daz ir schaene sit — vgl. Wizzet, frowe wolgetdn, etc.). was W.s
dame schon in ihrer ersten rede ausspricht (86, 7 f ) :
Ich wil iu ze redenne gunnen,
(sprechent swaz ir xceli), obe ich niht tobe.
106 BRECHT
daz hat ir mir an gewunnen
mit dem iuwern mitinec/ichen lobe,
dies uiotiv hat L. wider zum pointierten abschluss aufgehoben,
verschärft und negiert, seine dame verbittet sich gerade die
übertriebenen complimenle (443, 26), und als der ritter uoeb
nicht aufbort, wird sie empfindlich und bricht das gespräch ab
(444, 5-7).
Affinitäten im ton begegnen häufig, so klingen das xxviii
und das xxxi lied Ulrichs sehr waltheriscb iu ihrer einfachen
natürlichkeit und frische, mit ihrer klaren naluranschauung, ihrer
leicht sentenziösen spräche, ihrem sich dem metrum anschmiegen-
den satzbau (vgl. zb. W. 51, 13 ff), xxxi schliefst mit einem
bildchen, wie Walther es liebt:
Swd ein werdez wip anlachet
einen minnegernden man
Und ir munt ze küssen machd — .
kurz vorher (437, 14) steht: alles guotes Überguide, vgl. W. 8, 17:
der zweier Überguide; lieblingsworte \Y.s, wie gedinge, gern, sind
auch bei Ulrich nicht selten, unter Walthers liedern erinnern
109, 1 ff; 110, 13ff; 110, 26 ff am meisten an Lichtenstein. —
Geschichtlich folgt Ulrich auf Walther, den
schüler Reinmars, in seiner kunst steht er zwischen
beiden, auch er ist nicht bei R.s ton geblieben, aber er war
weit entfernt von Walthers bewuster und radicaler abkehr. die
wendung zur natur, zur 'niederen minne', war bei ihm undenkbar,
der Reinmarische ausschnitt W.s bleibt seine Sphäre,
i Die dialektische disposition, den gespreizten ernst, die humor-
, losigkeit teilt Ulrich mit Reinmar, aber nicht seine schwere und
seine oft zaghafte baltung. er könne von wiben niht übel reden,
erklärt Reinmar (171, 3); so weit versteigt sich Ulrich nicht: er
verstand sich auch auf scheltlieder.
Ulrich hat mehr natur, mehr sinne als Reinmar, er schaut
nicht nur in sich, auch in die ritterliche weit, er zeigt sich als
unverbesserlichen Sanguiniker, als ein kind das nur im augen-
blicke lebt : in all dem erinnert er lebhaft an Walther. nur dass
die natur bei ihm eine viel geringere rolle spielt; Reinmar igno-
riert sie, Ulrich sieht mehr den ritter, Walther sind natur und
mensch gleich vertraut.
ULRICH VON LICHTENSTEIN 107
Ulrichs naturell mag Walther ähnlicher gewesen Bein;
vielleicht gerade darum hat Reinmar spürbarer, wenn auch nicht
tiefer, aul ihn gewttrkt. wie reinmarisch sind die wdnwl
;ils conception, aber wie gani unreinmarisch, in ihr« r vorwiegen
den munterkeit, isl die ausführungl bei ihnen wird es am
klarsten : der einfiuss Reinmars aul Ulrich war Urin mensch-
licher, vielmehr nur ein litterarischer, gerade wie er es bei
Wallher gewesen war.
Irgendwie beträchtliche einwürkungen anderer erscheinen
ausgeschlossen, geringfügige reminiscenzen ;ms Wolframs dich-
lungen — »leren liefe Ulrich sicher nicht verstand — hat Knorr
s. 13 notiert, ich halte nur die erste von ihnen für erwiesen:
und müht ich dich bergen in den ougen min 512, 21 (n tagelied)
vgl. Wolfram 8, 4. die stark sinnlichen tagelieder (wxvi, xi.)
stehen natürlich auf der von Wolfram ausgehnden linie. im
einzelnen hat Roelhe (Anz. xvi 96) 14S, 3«> : mit armen und
leinen lac geflöhten usw. als 'wttrkliche nachahmung' W.s (4, 1 f )
angesprochen; vielleicht ist auch näher unde näher, bazundabei
haz -Km), 1 1 ixiv), vgl. Wolfr. 5, 11 urloup nah und näher baz — .
hierher zu rechnen, endlich der anfang des xi.wi liedes:
Nu hilf, ic i hes gilete.
mir ist not der helfe din.
lässt an Wolfr. 7, 24 denken : — güetlich wip : nu hilf, sit helfe
ist worden not. aber der ausdruck ligt allgemein nahe. —
Überall folgt Ulrich der strengen höfischen tradition. natur
und leben legten ihm dies nahe, sein meister Reinmar ist höfisch
par excelleuce; und die andersartigen demente Walthers ver-
schmäht er. nur an zwei stellen scheint mir ein unhöfischer
ton leise anzuklingen : in zwei tanzweisen, dem frühlingsliede
xxxiv und namentlich in dem winterliede xxxv (beide nach 12:
Der eingang des ersten liedes weist sorge und angest von
der strdze : strichet von dem lande, sam der winder, von uns hin
— er spricht im uamen aller, auch noch in der nächsten Strophe:
es klingt wie Neidharts nalureiugänge vor seinen sommer-
liedern. sie haben dieselbe tendenz, häufig auch zwei Strophen
läuüe. strichen isl ein, nicht ilbermäfsig höfisches, lieblingswort
.Neidharts (vgl. 12, 18; 13, 21; IS, 15; 19, 1; 22, 20).
Sehr viel grofser ist die Ähnlichkeit im zweiten liede. Warnet
iuch gar, Junge und aide, gegen dem winder — (44i>, l f). junge
108 BRECHT
und alte (bei Ulrich aufserdem 555, 28 ; 565, 29) : der typische
gegensatz bei Neidhart; in derselben Zusammenfassung 8, 12;
41, 34, beide male ebenfalls im liedanfang. — am ende der ersten
und in der zweiten Strophe gibt Ulrich vorsichtsmafsregeln gegen
den wiuter : Sit iu selben kleider milde — weit ir vor im sin
behuot, so sult ir diu hiuser spisen — . ratschlage gegen die
winterkälte gibt auch Neidhart iu einem winterliede : beidiu vinger
unde zehen sol ein ieslich man vor disen winden wol bewarn etc-,
(76, 21 f). — in der dritten Strophe kommt Ulrich auf seine
pauacee : Für sin stürmen sul wir in die Stuben wichen,
da mit wiben wesen vrö — vgl. Neidhart zb. wir müezen in die
stuben 60, 9; Winder, uns wil din gewalt in die Stuben dringen
35, 1, vgl. auch 35, 20. es ist die den winterliedern zu gründe
liegende Situation; und das vrö wesen mit iciben ist auch hier die
hauptsache, wenn auch in anderer form.
Auch ein singulärer liedanfang, wie Ulrichs
Alle die in hohem muote wellen sin,
den %dü ich daz rdten bi den triwen min — (426, 12)
stammt wol aus neidhartscher Sphäre. Neidharts lied 16, 38
beginnt:
Alle die den sumer lobeliche weint enphdhen,
die Idzen in ze guote mine lere niht versmdhen.
ich rate daz — .
Natürlich mein ich nicht, dass Ulrich sich gerade au die
angeführten stellen angeschlossen habe, aber dass er Neidhartsche
lieder gekannt hat, ist sicher, hielt sich doch Neidhart selbst einige
zeit in der Steiermark auf; war er doch der bevorzugte dichter
am Wiener hofe unter herzog Friedrich dem Streitbaren, Ulrichs
lehnsherrn. bei Ulrichs aufenthalte in Wien, im winler 1227
auf 28 — damals regierte noch Leopold vn — war Neidhart zwar
schwerlich schon dort (HMS iv 437 f) ; aber dass er ihn später
nicht kennen gelernt haben sollte, ist kaum denkbar (vgl. Roethe
s. 35 und 36). wie dem auch sei, ein leichter anflug Neid-
hartscher drastik kann den Verehrer des hohen stils damals sehr
wol betroffen haben, die tendenz zum realismus lag iu der
luft, im märe zeigt Ulrich sie selbst deutlich genug, niemand
kann sich seiner zeit ganz entziehen *. —
1 die gleichheit eines tones bei Ulrich (xxvi) und Rubin (xiii), bei
Ulrich ixxx) und Walther (im kreuzlied 14, 35 ff), halt ich mit Bechslein
ULRICH VON LICHTENSTEIN 109
Von [einer Qachwürkung Lichtenstein s kann man nur
in seiner engeren beimat reden. Kummer (Die poetischen Er-
zählungen des Herrand von Wildonie und die kleinen inner-
Österreichischen minnesingei i hat zahlreich elemente Ulrichscher
lynk bei dem ihm eng befreundeten Wildonie (vgl. s. 23 f.
47 — 52. 99f) m hinsieht auf metrik und Wortschatz festgestellt,
Um dem von Suneck (s. 1 05 f) in einzelnen ausdrucksparallelen,
bei dem von S lad eck auch im metrischen hau eines liedes
(Stadeck m = Ulrich v; s. 1101). die meiste Ähnlichkeit mit
Lichtenstein, mich syntaktisch, zeigen die drei lieder Sunecks.
Eines der schönsten bilder Ulrichs, vom herzen, das wie ein
kleines kind weint nach der huhl Aev geliebten (149, 7, ir büch-
lein), hat Hadamar von Laber nachgeahmt (str. 2:5,3; Bur-
dach s. 26).
Eine gewisse Ähnlichkeit mancher Sittenschilderungen des sogen.
Seifried Helblrng mit Ulrichs frauenbuch und den schluss-
partieen des FD, die Knorr auffiel (s. 21 anm.), beruht wol nur
auf der verwantschaft des slofTes und der örtlichen und zeitlichen
nähe. Seemüller (Studien zum kleinen Lucidarius, Wiener sitziu
berichte cu 661 f, Seifr. Helhl. xxxiii) hat 'keine deutliche spur'
gefunden.
Die lieder Hugos von Moni (ort und Oswalds von
Wolkenstein hab ich auf Lichtensteinische einflösse hin unter-
sucht, jedoch vergeblich.
In den ersten drei capiteln hatte die Untersuchung folgen-
des ergehen, die motive der lyrik Ulrichs waren an zahl gering.
uur sehr wenige von ihnen entnahm er dem leben, die meisten
der hofischen tradition, die er zt. durch übersteigern, combi-
nieren, rationalistische neuerungen l epigonenhaft weiterbildete,
sein produetiver kunstverstand entfaltete sich vorzüglich in der
composition , in der vielfach eine dialektische Veranlagung des
geistes zu tage trat, sein formsinn im einzelnen bewies seine
kraft hauptsächlich in kunstvollen widerholungen, parallelismen,
synonymen, Variationen; vorwaltende Orientierung seiner phan-
lasie nach aufsen verriet die ausgeprägte neigung zur anrede.
s. xvf für zufall. zum daenediep war Ulrich zu reich an erfindung. vgl.
Lachmann zu Waltbei IG, 35, Liliencron Zs. 6, 86, Kummer s. 74 anm., Bei b-
slein s. 147 anm. und s. 156 anm. ' vgl. auch Burdach s. 116.
HO BRECHT
Als was lassen diese eigeuschaften den dichter erkennen?
der geringe gedankengehalt; das vorwiegen der form; die Sicher-
heit in allem technischen des aufbaus und der ausführung; die
liebe zu Stilmitteln, die mehr als alle andern geläufige kenntnis
des wortreichtums, heherschung aller ausdrucksmöglichkeiten einer
gehildeten dichtersprache voraussetzen : alles erweist den vir^
tuosen am ende einer lyrischen blüteperiode.
Einen virtuosen, dessen lehhaftigkeit zuhörer nicht entbehren
kann, apostrophe ist die seele seiner dichtung. er ist nie mit
sich allein, das unterscheidet ihn am meisten von Reinmar. er
steht immer vor leuten, denen er vorsingt, seine lyrik ist laut,
es ist immer geslus dahinter.
Der vortragende hört sich reden, man merkt Ulrichs Worten
au, dass sie alle ajiljwi^rkung hin ausgewählt sind, namentlich
am anfang der lieder1. ostentative mitteilung, die imponieren
soll, ist seine ganze poesie. er ist eitel auf sein Seelenleben.
Er weils, dass es adelich ist. nicht umsonst reizt ihn immer
wider die Vorstellung des hohen2, erfüllen ihn hochgespannte
ideale von e're, werdekeit, tugent und dergleichen, darum ist es
ein kleiner kreis, au den er sich wendet; der aristokrat weifs,
dass er nur von seinesgleichen verstanden wird 3.
Als mitglied der ritterlichen gesellschaft fühlt sich Lichten-
siein vor allem, in der dichtung nicht anders als auf dem turnier-
1 die anfange sind ausnahmslos gut, voller elan; die schlösse, auf die
der moderne virtuose besondern wert legen würde, fast durchgängig matt.
2 hoher muot, hochgeniiiete überall, hohgedinge zb. 30, 3. diu
hohe minne 59, 3. minnet ho 457, 7. min gemüete stdl ho 400, 3 ; 556, 21,
desgl. 410, 25; 566, 13 (muot). diu herze stigent ho 423, 12. stet min
herze unho 110, 16. junge und aide hebt unhohe 566, 1. mir muoz ho
an ir gelingen 425, 25. des muoz min muot hohe sweben 534, 12. des
muot muoz geliche stdn Hoch der sunne 437, 18, und vieles andre dgl.
3 dass ritterlich höfische art die einzige ist, die in betracht kommt,
ist L. überall selbstverständlich, bei seinem aufenthalte als trau Venus in
Wien 1227 sind die bürger gut genug, um die ritler in quartier zu nehmen
(charakteristischer ausdruck 250, 28); die Wienerinnen werden als deco-
ratives strafsenpublicum angenehm empfunden (251, 26). — unterschied
zwischen edeler art und geburen art 509, 26 ff, bes. 510, 5 f. — andere
charakteristische lieblingsworte : herze, minne, dienen, dienest, freude,
Irüren, wünsch, wdn, wip, vrowe, rät, wunder, enget, rose, vro, guol,
sueze, fruole, lachen und munl der geliebten, das absonderliche kleinvel-
hitzeröl (vgl. Knorr s. 82). an der geliebten sieht er, wie wol die meisten
mhd. lyriker, ausschliefslich die färbe, nicht die form.
ULRICB VON LICHTENSTEIN 111
platz, vornehmer sport ist das eine wie das andere, dass ihm
der sport des minnedienstes zum notwendigen pbantasiebedQrfnis
uird, ist das Verhängnis Beines cbaraktei
Den forderungen der höfischen Gesellschaft ist sein stil
völlig angemessen, als gesellschaftlichen dichter zeigl ihn
Bchon die grofse neigung zur apostrophe. wesentlich von ihr
stammt der eindruck der lebbaftigkeit, den seine poesie von jeher
gemacht bat (zb. Uhland b. 236). seine natur ist nicht übermäfeig
ursprünglich ; hergebrachte minnedialeklik hat er genug — trotzdem
wflrkl er lebendig und Irisch, die apostrophe macht alles mindestens
erträglich, neben der pointierten diction, dem reichtum an rede-
ßguren, »lern öberlegten satzbau trägt sie das meiste bei zu dem
declamatoriscben Charakter seiner lyrik.
Wer sich immer an die gesellscbaft wendet, bei dem isi
ungewöhnliche tiefe der empfindung und des gedankens von vorn-
herein ausgeschlossen, aber reichtum an abwechselung und eine
gewisse Urbanität, eleganzund geistreiche einfalle werden geradezu
verlaugt, mit alledem konnte Ulrich dienen.
Die gesellscbaft verlangt mafsvolle munterkeit : er dichtet
muntere Lieder '. die gesellschaft kokettiert im stillen mit der
leidenschaft : er dichtet leidenschaftliche lieder. ein wenig Sinn-
lichkeit erlaubt sie : er macht sinnliche, die er gerade au der
grenze desseD halten lässt, was erlaubt ist — und gefällt2, sie hat
Verständnis für schwierige kunstgedichte : er verfertigt prunk-
stflcke3. schmachtende Sentimentalität ist ihr interessant: davon
hat er überfluss. und die minnigliche verstiegenheit wird, solange
sie nicht lästig fällt, von dem mafsgebenden, weiblichen teile der
Gesellschaft nur als schmeichelhafte consequenz empfunden.
Gelegentlich verrät Ulrich den her gang bei seinem
dichten oder äufsert sich in einer art von räsonnement über
poetische fragen, psychologisch lässt sich manches aus diesen
bemerkungen gewinnen, die naiv bleiben, auch wo sie rationa-
listisch werden.
Die antriebe zum dichten sind bei ihm sehr verschieden.
manchmal folgt er sichtlich dem augenblicklichen bedürfnis, er
dichtet im sattel (109, 29 f), auf dem wege (131, 29), in der nol
1 zb. IV. VIII. XII. XIX. XXVIII. XXXI. XXXV. XLVIII. L.
1 Zb. XXIX. XXXVI. XL. XLI. LVI. LVII. /
S Zb. XIV. XVIII. XXV. XXX. XXXII. XXXIII. XXXIV. XI.II. M.III. LI.
112 BRECHT
des kerkers (545, 1). viel häufiger setzt er sich in positur. aber
bereit ist er immer : der virtuose versagt nie. er kann auch
würklich sehr viel, das zeigt sich glänzend, als er krank in Bozen
ligt, und eine dame ihm eine welsche melodie schickt, mit der
bitte, ihr einen deutschen text unterzulegen (1225, FD 112, 22 ff),
er willfahrt sofort; und gerade dieses lied ist vortrefflich : sehr
lebendig, feurig, im ausdruck das schwierige metrum der drei-
teiligen Strophe aufs gewanteste verwertend.
Ein innerlich wahrer ausdruck für den unmittelbaren drang
zu dichten, äufserungen wie Zehant ich tihten dö began, als mir
min senedez herze riet (104, 6) — min zornic herze mir dö riet,
ze singen disiu sioinden liet (416, 26) — in dirre not min herze
riet mir ze singen disiu liet (545, 1) sind dem entsprechend selten,
der virtuos ist gewöhnt, die poesie zu commandieren. die Situation
lässt es ihm einmal vorteilhaft erscheinen, seiner ersten herrin
möglichst bald wider ein lied zu senden, er sagt dies seinem
boten. Alzehant dö huob ich an, von herzen tihten ich began liet
sd von der vrowen min (318, 5 f). unterdessen wartet der böte,
kaum ist das lied aufgeschrieben, reitet er mit ihm ab. und
dies lied (xi) ist nicht schlecht, es hat keinen leichten strophen-
bau, doppelte eingangsapostrophe, anaphern, parallelismen.
Ähnlich ad hoc dichtet er bald darauf das xii, überaus kunst-
volle lied und das m büchlein.
Da mit ich von dem boten schiet
und tiht zehant guot niuwiu liet
und ouch ein kleinez büechelin — —
diu liet und büechel wart bereit,
al zehant min böte reit — . (381, 5)
Leistet Ulrich in der tat viel, so ist er auch stolz auf seine
geschicklichkeit :
nie buoch so tninneclichen wart
getihtet so daz büechelin,
daz ich dö tiht — (381, 10).
schon der junge dichter betont die Originalität der melodie, die
Schönheit und gefühlswahrheit des textes:
diu wise ist niuwe und höchgemuot,
diu wort sint süeze und dar zuo wir (98, 24),
und das letzte empfinden wir bei diesem liede (iv) heute noch.
'■diu wort sint guot, diu wise niu , lässt er seinen boten von
ULRICH Vi».\ LICHTENSTEIN ll .,
seinem vir: liede sagen (125, 13) '. dies Bind nur «* i 1 1 1 _ . - proben
seines selbslbewustseins. virtuosen pflegen ruhmredig eu sein.
Nicht selten misversteht der auf die tecbnik eingeschworene
routinier den Klassischen Stil, und wähnt ihn durch kleinliche
Schnörkel zu verbessern, so negiert Lichtenstein in seiner ein-
zigen gröTseren ästhetischen argumenlation 509, 6 IT den bisherigen
stil «les tageliedes mit naturalistischen gründen, wie sie dem
epigonen naheliegen, nur um diese theoretische erwägung zu
illustrieren, dichtet er, nach seiner angäbe, seine beiden tage-
lieder. der blofse vorsatz, wider einmal etwas effectvoll-origi-
nelles zu machen, ist das primäre.
— min herze mir <I6 riet
singen aber niuwen sin.
ich ddhte her, ich ddhte hin:
ich (Iaht an der minncBre klage —
damit leitet er seioe rationalistischen erwägungen ein.
Wäre die gesellschaft, für die Lichtenstein sang, noch so
gewesen, wie er sie sich vorstellte, noch dieselbe, dereu letzte
blute er in seiner ersten Jugend noch miterlebt hatte, so halle
er viel mehr beifall linden müssen, als es geschehen zu seiu
scheint'2. denn er erfüllte in seiner dichtuug eigentlich alle
ausprilche, die man an das ideal des rein höfischen miunesanges
stellen konnte, ohne dass er irgend welche ausprilche stellte,
die über das geistige vermögen des guten durchschnitts hinaus-
gingen, was Gottfried als epiker, bedeutete er als lyriker : das
getreue Spiegelbild der anschauungen seiner kreise.
Das ritterliche elemen t im höfischen ideal tritt so mächtig
bei ihm hervor, dass man nur darauf hinzuweisen braucht, die
ethik des schildesamtes ist die einzige, die er kennt, das turnier
ist fast eine heilige angelegenheit (vgl. die beiden üzreisen). im
übrigen ist er der mann der Convention, der Verehrer der zuht
(xx), der es fertig bringt, sogar die huote und die merker zu
1 die musikalische composition scheint seine starke seite gewesen zu
sein, auch ohne bemerkungen wie die erwähnten könnten wir dies aus
dem kunstvollen bau seiner sehr verschiedenen Strophen udgl. schliefsen.
vgl. Scherer Deutsche Studien i 48 anm. 1.
2 und doch war gerade die Steiermark schon sehr früh der nährboden
einer ausgebildeten ritterlichen gesellschaft gewesen, vgl. Schönbach Die
anfange des deutschen minnesanges s. SO ff.
Z. F. D. A. XLIX. N. F. XXXVII. S
114 BRECHT
preisen *. verlieren diese begriffe bei seiner spielenden Um-
formung auch ihren alten sinn, so ist der neue, den er ihnen
unterlegt, erst recht ein Zugeständnis an die zuht, und, wie man
zugeben muss, eine art Vertiefung der tbeorie von der huote
(xvm). praktisch verhält er sich gelegentlich ganz anders,
ohne sich aber irgendwie eines Widerspruchs bewust zu werden,
prachtvoll naiv wie er ist. äufserlich von mehr als standes-
gemäßer frömmigkeit, macht es ihm doch gar nichts aus, in
seiner frauenverkleidung mit dem friedenskuss bei der messe
schnödes spiel zu treiben (179, 1 f). er preist allen segen der
kreuzfahrt — und bleibt zu hause.
Das element des frauendien stes war im höfischen
ideal dem ritterlichen so eng verbunden, dass es praktisch kaum
zu scheiden war. nach dieser seite hin ist erst recht nichts zu
denken, was über Ulrichs leistung hätte hinausgehn können,
die fraueuverehrung als sittliche tat war so oft von den dichtem
empfohlen, die idealgestalten der heldenromane so nachdrücklich
als muster aufgestellt worden 2, dass man sich gar nicht wundern
kann, wenn endlich einem phantastischen köpfe die grenzen
zwischen poesie uud würklichkeit verschwammen; zumal wenn
er wie Ulrich von klein auf die luft der chevalerie geatmet
hatte 3.
"Wie weit hatte doch die deutsche lyrik weggeführt von jener
naiv-gesunden auffassung der geschlechter, wie sie beim Küren-
berger begegnet 1 jener hatte lieber 'das land räumen' wollen,
als sich von der vrouwe minnen lassen, jetzt erklärt der Lichten-
steiner:
Der diene ich also miniu j'dr —
swaz so ir an mir missehaget,
dem ist von mir gar widersaget.
geviel ir niht min zeswiu hant,
ich slüeg si ab bi got zehant.
ich wil davon niht sprechen vil — (27, 13f).
Was er in würklichkeit ihretwegen abschneidet, ist der kleine
finger der linken hand, der doch unbrauchbar geworden war.
1 vgl. Scherer Littgesch. s. 211.
2 zb. Thomasin Welscher gast 1041. 773. 1029. 6325. vgl. Scherer
aao. s. 223.
3 vgl. Schönbach in den Biograph. Blättern u 33 ff.
L'LHICll VON LICHTENSTEIN US
auch dies ist schon verstiegen genug. m) selben Btil Bind Be
übrigen Laien für seine dame.
Man kann deutlich erkennen, wie die kokett abweisende
baltung der dame , der widerstand der anders gewordeoea w «U
ihn auf der betretenen bahn nur um so energischer vorwärta-
treibt. ein normaler mensch wäre er nur im reiche des kön
Artus gewesen; in einer noch ganz höfischen gesellschaft wl
er immerhin nicht so unterscheidend aufgefallen; der umstand,
dass er zwei, drei Jahrzehnte zu spät auf die weit gekommen,
macht ihn zum rom antiker, zwar hat er, wie sich aus seiner
aufserdichlerischeu täligkeit ergibt, das handelnde leben nie aus
deu äugen verloren; im privalleben aber wird der naive versuch
gemacht, poesie und würklichkeit zu verschmelzen.
Hierbei kommt es in der tat zu einer argen verbiegung der
psyclie. die germanische mafslosigkeil macht den minneapostel
zum pedantischen doctrinär. der rein egoistische kern seiner
minne indessen und sein doch nicht zu ertötender gesunder
menschenverstand bewahren ihu vor dem blindesten fanatismus:
von der versprochenen kreuzfahrt, durch die ihn seine dame nur
los werden will, weifs er sich in der artigsten weise zu drücken,
winkt aber nur die leiseste hoffnung auf erfolg, so fasst er die
abenteuerlichsten entschlösse ohne weitere Überlegung, ohne jeden
seelischen kämpf (zb. 138, 25 f. 328, 1 t). das beständige be-
dürfnis pathetischer Steigerung des lebens ermöglicht alles, schickt
ihm die dame einen brief mit der unzweideutigsten absage, so
bringt ihn das nur zu noch trotzigerer selbstqual : nu dar! nu dar!
nu dar! swie mir diu reine süeze tuot, daz muoz von rehl mich
dünken guot (61, 4 ff), über das geringste, zweifelhafteste zeichen
von huld gerät er in unnatürliche freude (zb. 156, G IT), die
einzige ideale lebensmacht, die er kennt, ersetzt alles andere, er
bringt sie mit dem höchsten in Verbindung : Got hdt mich in ir
dienert brüht, so begründet er seine Venusl'ahrt (156, 29); Gott
will den minnedienst (379, 21— 30) K
1 die anrufung Gottes spielt bei L. die gröste rolle, von der nichts-
sagenden redensart angefangen bis zum poetischen wünsch und zur naiven
Überzeugung, nu helf mir got, daz ich ir tuo den dienest schin 58, 17.
daz wetz got wol 105, 11; Got weiz wol 585, 7. got vor sorgen mich
oehüele 421, 14; vor ir zürnen mich behüete got 446, 27. Got füege
mirz ze guole 422, 21. 449, 25. got den grozen kumber wende 555, 29.
116 BRECHT
Wahres und falsches gefühl gehen scliliefslich ununlerscheid-
bar durcheinander, selten ist die empfindung so unzweifelhaft
echt wie bei der erzählung, wie er im kerker zum letzten male
den leib des herrn nimmt (543, 27 f).
Reminiscenzen an Situationen hotischer romane spielen so
häufig auch an nebensächlichen stellen in die erzählung des FD
hinein, dass ich es für verfehlt halte, überall absichtliche fälschung
zu wittern, der versuch des hyperkritischen Becker, hier 'Wahr-
heit und dichtung' scheiden zu wollen, war einer so phantasie-
vollen natur gegenüber von vornherein aussichtslos, auch waren
die romane in vieler beziehuug ja nur verklärte Spiegelbilder des
würklichen ritlerlebens, das für uns genug sonderbares enthält:
wer will da genaue grenzen ziehen?1
Am rätselhaftesten bleibt für uns das Verhältnis L.s zu seiner
gatlin. man hat oft anstofs daran genommen, wie nebensäch-
lich er von ihrer existenz künde gibt, indem er bei erzählung
der Venusfahrt auch den zweitägigen besuch bei ihr erwähnt
got in [den hohen muot] uns behüete 566, 6 ; got beMiete mir ir lip usw.
567, 10. Din er hab got in siner pßege 131, 25. Got geb daz ich si
noch vinde 422, 6f. got gehe dir guolen morgen 518, 1. got der hat
mich wol beddht mit so reinem siiezen wibe 449, 16. got hat sinen vliz
an dich geleit 536, 25, ähnlich 576, 20. das stärkste : Got si mir als ich
ir s({!) 406, 25 f.
1 hat zb. Ulrich bei erzählung der lehren, die ihm markgraf Heinrich
von Istrien gibt (9, 13 ff), an den edeln Gurnemanz gedacht oder nicht? —
Das zuverlässigste sind immer die lieder. es lässt sich bemerken, dass er
auch die Charaktere der erzählung im sinne der lieder färbt. 374,23(1,
nach dem burgabenteuer, legt er seiner ersten dame seine eigenste an-
schauung in den mund:
Ich weiz daz wol, sivie lump ich bin,
daz trüriges rillers lip
erwirbet nimmer werdez wip.
sivelch wip ir Iwt ertrüren an
ir minn, dest vasle misseldn.
vgl. zb. 428, 13 ff (xxvn):
Wie sol ein ungemuoler man
erwerben höchgemuoles wibes habedanc?
wil er ir daz ertrüren an,
daz si in minne, so ist sin lumber wdn vil kraric.
ir höchgemuoles herzen rät
sin trüren hat für misseldt usw.
ÜLItlt II VMN LH'in i:\SH. L\ l 17
(222, 1 11' j. nicht laoge danach kommt er auf zeho tage wider
zu ihr:
Zuo der vil lieben honen min.
diu künd mir lieber nilit yesin,
swie ich doch hei ilbr minen Up
ze vrowen du ein ander wip (318, 25 f).
wie s.di es eigentlich in ihm aus? es müssen zwei ganz ver-
schiedene gefühle gewesen sein, die er in sich nii^. denn wir
haben gar keinen grund, der widerholten Versicherung seiner
galtenliebe zu mistrauen (die zwei eisten verse schon bei dem
ersten besuch), noch einmal kommt er bei der erzählung seiner
gefangennebmung auf seiner eignen bürg kurz auf diu guote zu
sprechen. Freytag (Bilder a. d. deutschen vergangenheil5 u 30)
hat ihm sehr verdacht, dass er in der ludesangst des kerk
an seine dame ein lied dichtet, wahrend seine Trau das llilcht-
lingsbrot verzehren muss. in der tat spricht er von ihr mit
keinem worte; dass er ihrer nicht gedacht habe, wird dadurch
iu keiner weise erwiesen, hier ist eine der vielen stellen des
Fl», wo die macht des höfischen Stiles in anschlag ge-
bracht werden muss. die gedanken an die gattin sind unhöGsch;
darum hat er keinerlei Veranlassung, sie hier mitzuteilen, ebenso
nie er überhaupt von seinem eheleben schweigt, wie er im
ganzen FD nur die höfische seile seines reichen lebens dar-
stellt, zu leicht ist moderne Vorstellung geneigt, seine von
strengem Stilgefühl dictierte aus wähl als vollständige memoiren
aufzufassen.
Aber gesetzt auch, es wäre kein herzliches Verhältnis ge-
wesen was er verschweigt : so ist es doch wider nur modern,
daran anslofs zu nehmen, auch Freytag ist hier einer uu-
historischen aulfassuug erlegen, er, der uns gerade das wesen
der mittelalterlichen ehe und ihre Vertiefung durch die reformatio!»
so schon auseinandergesetzt hat. neben einer miuniglichen
Schwärmerei kann bei Ulrich sehr wol eine ehrliche neigung
zu seiner hausfrau hergegangen sein, übrigens ist seine theorie
consequent genug, der frau, die sich schlecht behandelt (nicht
etwa 'ungeliebt') fühlt, den ehebruch zu erlauben, falls sie es
nicht lieber um Gottes willen lässl iFil 623, 5 ff).
Unter dem einflusse seines ideals und seiner eignen dich-
terischen tätigkeit entwickelt sich Lichtenstein immer mehr zum
HS BRECHT
artisten, der erlebt um zu dichten, er leistet alles was der
stil des liebesromans von ihm verlangt, in der lyrik wie im
leben, wahrend des ersten Verhältnisses singt er muntere und.
ernste, hoffende, schmachtende, ängstliche lieder, alle mehr oder
minder von gesellschaftlicher hallnng. nachdem die dame ihn
endgiltig abgewiesen, benutzt er das Unglück gleich zu einer
reihe obligater schell- und klagelieder; während seiner erotischen
vacanz nimmt er die gelegenheit zu wdnwisen wahr, beim ein-
zug der neuen herzenskonigin darf das begrüfsungsgedicht (xxxn)
nicht fehlen, gespräche mit ihr werden sofort lyrisch verwertet
(s. o.). kleine huldbeweise der dame, ein wort von ihr, ihr
lachen dürfen nicht unbedichtet bleiben, das kerkerlied, bei ein-
fallender gelegenheit, versieht sich fast von selbst, als im laufe
der jähre das neue Verhältnis mit seiner frische auch seine an-
regende kraft allmählich einbüfst, muss es zu minnedidaktischen
belrachtungen und litterarischen experimenten (tagelieder) her-
halten, ihm verdanken wir schliefslich — wenn Ulrich anders
keine fiction vorbringt — die abfassung seiner beiden bücher.
Auf was es bei alledem schliefslich ankam, sagt er selbst
deutlich genug:
Min minne gernder höher muot —
er machet mir die teile unlanc (515, 4f).
die grundlage dieser auffassung ist schon früh vorhanden, be-
reits i. j. 1225 betont er, wie gleichgiltig es ihm sei, ob ihn
die herrin gut oder schlecht behandle (129, 1 f ). er gibt sich
damit den anschein uneigennütziger treue : in würklichkeit ist
— man denke an die scheltlieder — seine 'minne' durchaus
egoistisch.
Denn von vornherein war, aller pathetischen beteuerungen
ungeachtet, seine minne ein spiel gewesen, ein sport der ritter-
lichen phantasie. er macht sich frei, als er die Unmöglichkeit
einsieht, das recht sinnlich gedachte ziel zu erreichen, unter-
dessen aber war ihm die ausfüllung des innern durch ein minne-
verhältnis — ob eingebildet oder nicht — zum bedürfnis, die
von der minnetheorie fast geforderte verstiegenheit zur natur ge-
worden, er ist so glücklich eine zweite dame zu finden, im
laufe des jahrzehntelangen, offenbar ganz platonischen Verhält-
nisses entwickelt sich sein verstiegener idealismus allmählich zur
harmlosen schrulle, die von den unhöfisch gewordenen zeit-
ULB1CU VON LICHTENSTEIN
lossen gewis viel belachl worden ist, wie schon seine Jugend-
streiche l.
Ks ist leicht, Ulrich einen narren eu schelten; Beine kraft
das leben zu stilisieren ist bewundernswürdig. Bein minne-
leben ist recht ein beweis för den ungeheuren culturwerl der
mini, poesie. auch in der absurden Qbertreibung verleugne! Bich
die beneidenswerte gescblossenheil der höfischen Weltanschauung
nicht, wie unbeschränkt muste ihre macht sein, wenn sie einen
formbegabten menschen am ende ihrer blötezeil so beherrschen
konnte, dass er wie selbstverständlich sein lebensgeföhl nach ihr
einstellte; wie grofs der wert, den ihre Vorstellung vom vornehmen
menschen, <lie sich in <ler litteratur ihren ausdruck und ihr Werk-
zeug geschaffen, 1'iir eine einheitliche lebensauffassung besafs2.
Es ist sitte geworden, Lichtenstein den mittelhochdeutschen
Don Quichote zu nennen; aber der naheliegende vergleich be-
zeichnet nur eine seile seines wesens. seine hohe eultur und
sein strenger stil kommen darin nicht genügend zum ausdruck.
Noch viel weniger aber seine politische persönlichkeit.
sein uns wolbekanntes wflrken zeigt ihn als das gegenteil eines Don
Quichote, als einen realpolitiker von gefährlicher Verschlagenheit3.
Wie ist das möglich? der rubrer (\cs frondierenden stei-
rischen ' adels, tler landesbauptmann und oberste landriebter die-
selbe persönlichkeit wie der fast pathologisch zu nennende phan-
tastische minnesinger? verschiedene antworten auf diese fr
sind versucht worden. Falke meinte (aao. s. 58) : 'das phan-
tastische rilterlum bildet die erste halfte seines lebens, das prak-
tische die zweite, und der dichter ligt allenfalls dazwischen',
wie wenig diese erklärung zutrifft, hat Becker gezeigt, indem <t
(Wahrheit und dichtung etc. s. 102) darauf hinwies, dass die an-
fange von Ulrichs politischer täligkeit schon in seine Jugend
lallen, ferner lä'sst sich Ulrichs dichtung keineswegs nur auf
eine Zwischenperiode seines lebens beschränken; die lieder der
/weiten minne fallen grofsenteils gerade in politisch sehr be-
wegte jähre, ebenso die abfassung seiner beiden grofseren werke.
Beckers eigene erklärung freilich bietet noch weniger einen aus-
1 vgl. Roethe s. 36 nebst anm. 72. 2 wieviele dichter sind im
19jh. bei un9 am mangel solcher einheitlichen eultur zu gründe gegangen!
3 vgl. vFalke Geschichte des fürstl. hauses Liechtenstein i, abschn. ii;
Schönbach Biograph. Blätter ii; Walther vdVogel weide s. 44.
120 BRECHT
weg; das 'bild des überspannten minnetoren' einfach für eiu
'reines phantasiegebilde, ersonnen zu scherzhafter (!) Unterhaltung'
zu erklären, heifst einen starken psychologischen irrtum begehn.
wo bleibt dabei allein das von Becker (s. 95, 96) selbst für un-
verdächtig erklärte Zeugnis der lieder?
Ich glaube, die lösung oder richtiger die aufhebung des
problems ligt in zwei von mir bereits hervorgehobenen momenten.
Das eine ist die intensität der litterarischen cultur,
die Ulrich als ein erbe der zu ende gelinden blüteperiode vor-
fand, ihre gewaltige würkung im einzelnen haben wir gesehen,
culturwerte um die der grofsvater gerungen, erleichtern dem
eukel das leben ohne dass er es merkt, als Ulrich zu dichten
begann, lag die formenweit der höfischen lyrik um ihn herum
zum gebrauch fertig da; war die dichtersprache durch vielfältige
Übung so ausgebildet, dass sie, ähnlich wie am ende des goelhi-
schen Zeitalters, fast selber für den poeten dichtete, war der
poet gar ein formtalent von der stärke Lichlensteins, so ist es
klar, dass zur hervorbringung einer lyrik wie der seinigen keine
aufwühlung des gesamten innenlebens nötig war, die alle seelen-
kräfte absorbierte, dergleichen konnte nebenher gemacht werden.
Hier greift als zweites der begriff des vornehmen Sportes
ein. dies ist nicht so zu verstehn, als ob nicht ein teil von
Ulrichs seele an diesem sport gehangen hätte; aber sport ist
nicht die haupttätigkeit im leben eines ernsthaften manues.
Lichtenstein dichtete seine verse — die ihm , wie wir gesehen
haben, so leicht wurden — , weil es vom höfischen standpunct
aus für einen ritter neben dem turuieren die standesgemäfs vor-
nehmste beschäftigung war. wer es irgend vermochte, für den
war es nur anständig.
Dem philologen, der von allen taten Lichlensteins nur noch
den Frauendienst greifbar vor sich sieht, ligt die Versuchung
nahe, seinen Verfasser ausschliefslich oder doch in erster linie
als dichter aufzufassen, dies entspricht aber keinesfalls der würk-
lichkeit. unsere Vorstellung vom künstler der nur künstler ist,
ist dem mittelalter fremd; sie stammt aus der renaissance, in
ihrer modernen panegyrischen auspräguug gar erst aus der genie-
zeit1. Ulrich war ein grand seigueur, der feudale Standespolitik
trieb und sich in ernsten und nichtigen fehdeu herumschlug
1 vgl. auch Burdach s. 27 f.
ULRICH VON LICHTEINSTEIIS 121
wie jeder seiner Bundesgenossen, von denen <■!• sich kaum unter-
schieden gefühlt haben wird; liehen den geschälten dichtete er
seine zierlichen lieder, aus privater liebhaberei, auch liier als
vornehmer herr, der weil entfernt ist , dergleichen für seine wich-
tigste tätigkeit zu halten, dass er in seiner Jugend mehr mufse
und Inst dazu halte als später, ist nur natürlich, immerhin kann,
wer so verschiedene Lätigkeilen so lebensvoll zu vereinigen ver-
stand, kein unbedeutender mensch gewesen sein.
Ohne das gefilhl eines inneren Zwiespaltes, freilich in ganz
anderer richtung, ist auch diese unbekümmerte nalur nicht ge-
blieben, schon den 55 jahrigen mann packt, wie die schluss-
partien des FD (589, 19 — 591, 2, ähnlich auch im FB) zeigen,
die reue des mittelalterlichen menschen über sein verfehltes
weltliches leben, eine folge des schroffen dualistischen supra-
uaturalismus der kirche l. die merkwürdigen bekenntnisse kliugen
zu überzeugend in ihrer naivetat, als dass sie nur für litterarische
bescheidenheitsphraseu gellen könnten, er spricht von den mafs-
losen, die alle vier guter zusammen haben wollen, yotes hulde,
ire, gemach und yuot , und damit nur das fünfte erwerben —
daz versümte leben : derselben bin ich einer gar. und er klagl
über sein schrankenlos wünschendes heiz, er halte wol recht
sich so zu beurteilen.
Aber er setzt auch das geständnis hinzu:
der selbe wdn mich triuget noch,
und bin dd mit geeffet doch,
er fühlt, dass er vom höfischen ideal nicht mehr loskommen
wird, und in der tat ist das zwei jähre spater gedichtete Frauen-
buch wider voll davon.
Hier fällt uns wüiklich Don Quichole ein, aber als widerspiel,
nicht als analogou. den kastilischen miuneriller lässt Cervantes
vor dem tode, nach einer schweren, läuternden krankheit, die
nichtigkeit aller ideale einsehen, denen er sein leben geweiht hat.
1 Freytag hat (aao.) bei seiner entgegengesetzten behauplung diese
confessionen übersehen, seine lebendige Charakteristik (in bd i u. n) wird
Liehtenstein überhaupt nicht ganz gerecht, wenn sie auch längst nicht so
einseitig ist wie die ganz verunglückte von Gervinus (Gesch. d. poet.
nationalütt.8 i 342iTj. — zu obigem vgl. i. allg. vEicken Gesch. u. System
der mittelalterlichen Weltanschauung, jene typischen reuezustände als folgen
des von ihm so consequent dargestellten dualismus hat vEicken übersehen. —
Lichtensteins weltliche auffassung der kreuzfahrt weist er s. 71011' treffend nach.
122 BRECHT ULRICH VON LICHTENSTEIN
Der vollkommenste gegensatz dazu ist Casanova, der be-
rühmte frauenverehrer des ancien regime, in rein erotischer
sphäre vielleicht der vollkommenste ausdruck des achtzehnten
Jahrhunderts (1725 — 1798). er stirbt als der der er gewesen.
völlig versteint, verhöhnt von den kindern einer von grund aus
veränderten weit.
Zwischen beiden steht Ulrich von Lichtenstein.
INHALTSVERZEICHNIS.
Einleitung 1
Erstes capitel : motive.
i Lieder der ersten minne 2
II wdnwisen 13
in Lieder der zweiten minne 16
Gruppen aufeinanderfolgender lieder : xxxiv — xxxvn s. 18. lie-
beslieder sinnlicher färbung s. 22. hoher mwoMieder s. 23.
lieder von der gefangenschaft s. 25. lieder über schaene —
giiete s. 27. sinnliche lieder s. 29.
Ergebnis 31
Zweites capitel : composition.
A. Lieder mit gleichmäßiger structur 34
B. Sich steigernde oder zuspitzende lieder 35
C. Lieder, die allgemeines und persönliches zusammenstellen . . 36
a. Minnelehre und Ulrichs persönliche minne 37
b. Zustand der natur oder menschenweit und Ulrichs persön-
licher zustand 40
D. Symmetrisch gebaute lieder 41
a. Dreiteilige lieder 42
b. Vierteilige lieder 49
c. Fünfteilige lieder 52
E. Episch-lyrische lieder 58
Ergebnis 60
Drittes capitel : Stil des poetischen ausdrucks.
Anapher 64
Epipher 70
Antithese 71
Häufung, synonyme, asyndeton 72
Breite 76
Allitteration und assonanz 78
Lebhaftigkeit der rede 79
Voranstellung u. parenthese s. 79. ausruf s. 81. frage s. 83.
apostrophe s. 85.
Personification 91
Bilder 92
Ergebnis 95
Viertes capitel : Ulrichs litterargeschichtliche Stellung
und sein dichterischer character.
Ulr.s litterargeschichtl. Stellung s. 96, Verhältnis insbes. zu Reinmar
s. 97, zu Walther s. 102, zu andern s. 107. nachwürkung s. 109.
Charakteristik 109
Göttingen, im sommer 1906. WALTHER BRECHT.
TÜBINGEN PARZIVALBRUCHSTUCK.
i EINLEITI NG.
Unser bruchstück füllt ein pergamenldoppelblatt. die höhe des
Itlatles ist 23'/„ cm, die breite I.V.. cm. die seile ist zweispaltig
geschrieben mit regelmd/sig 40 abgesetzten versen in der spalte, die
verse steh» zwischen linien. je in der linken spulte siml die ini-
tialen durch senkrechte linien von den folgenden buchstaben getrennt
und hiezu etwas abgerückt, die initialen sind rot bei ">7, 29;
58, 27; 59, 27; 60, 27; Gl, 29; 62, 29; 63, 27; 64, 27;
65, 2'.»: 67, 5. das fragment stammt aus dem an fang des \\ j'h.s,
ist gut erhalten und deutlich geschrieben, es war eingehlebt auf
die innenseite des hinteren deckeis einer folioausgabe der Sermoues
de tempore des Jacobus de Voragine, s. I. e. a., vermutlich aus dem
anfang des 16 jh.s. dort wurde es von stud. Benz aufgefunden
und sorgfältig losgelöst, der decket zeigt noch reichlichen al>-
klatsch. der foliant gehurt heute der bibliothek des k. (kath. theol.)
Wilhelmsstifts in Tübingen (Signatur : Gb 676) und war laut ver-
merk auf dem titelblatt früher im besitz des Carmeliterklosters in
Heilbronn, dessen bibliothek muss einmal recht beträchtlich gewesen
stin (s. Phil. With. Gerekens reisen durch Schwaben, 178'!, i 31).
ihre bände sind an mächtigen schwarz umrandeten initialen auf dem
rücken kenntlich, teile der bibliothek sind heute der k. landes-
bibliothek in Stuttgart, der Universitätsbibliothek und der bibliothek
des Wilhelmsstifts in Tübingen einverleibt, in keinem der dort
befindlichen bände war aber ein weiteres stück unserer Handschrift
aufzufinden, die blätler gehören auch mit keinem der in Martins
ausgäbe beschriebene)! bruchstücke zusammen.
Da der lext von einer hälfte des doppelblatts zur anderen fort-
läuft, so war dieses das innerste einer läge, waren die voraus-
gehnden blätler in gleicher iceise beschrieben, so verteilten sich die
vorausgehenden 1684 verse auf 10 blau (1600 v.) -f- 1 volle
seile (80 v.) -4- 1 seile mit 4 versen, also 1 1 blatt. zusammen
mit dem ersten blatt des bruchslücks ergeben sich 12 blatt , die
läge enthielt somit 8 blatt = 4 doppelblatt.
Zur Orthographie und lau tlehre.
1) Zum rocalismus. ii ist als a geschrieben : harmin 64.29,
massenie 65, 13 gegen e in hermen 59, 8, mernere 58, 24. —
se erscheint durchweg als e : were 58, 19, queme 61, 21, swere
62, 13, mere 60, 18. 62, 14 usw. — statt ie mehrfach i :
124 BOHNENBERGER UND BENZ
iglich 59, 7; 61, 25; 04, 30, banir : fir 59, 7, wi 59, 21,
idoch 03, 7, tloytiren 63, 8, schire 03, 30, lichten 04, 4, tyr :
soldir 64, 19, licht 64, 29, lichte 65, 14. umgekehrt ie vereinzelt
für j, I : geziembret 65, 1, Hardiez : fliez 65, 5. — statt üu regel-
mäßig oi : toifeo 57, 7, froide 57, 10, soymer 60, 4; Gl, 14.
hierzu auch hoibz 03, 22, zoiber 00, 4. — ou erscheint als ou,
ü, o — uo ist in der regel als ü oder mit weglassung des über-
geschriebenen Zeichens als u geschrieben, letztere Schreibung überwigt
beträchtlich (58, 6. 11. 12. 15. 16. 21; 59, 30; 61, 2. 9. 14. 20 usw.).
umgekehrt mehrmals ü für u : wünders 57, 17, kümt 02, 26, Ga-
uiüret 64, 15, je 1 mal üe und o für uo : mtiemen 64, 22, armote
62, 24. ob beeinßussung der ausspräche durch den benachbarten
nasal oder nur nachlässige Schreibung vorligt, ist nicht zu ent-
scheidend üe als ue (64, 27. 28; 66, 14) häufiger als u (63, 23;
64, 15. 25; 65, 28; 66, 22), dafür ü : snüre 61, 17. — iu, alter
diphthong, meist als iu (liuteu 59, 17 usw.) ; u (du 57, 19, uch
59, 26). auch der timlaut von ü einmal als u : truden 59, 18.
— ei aus egi Amol: geiu 66, 12. 13, seile 58, 20; 62, 17 {aber
sagete 02,15; 64,1; 60,21, legete 63,13. vgl. dazu Zwierzina
Zs. 44, 355).
Totale der nebensilben, synhope und apokope. die
ursprünglichen Verhältnisse sind vielfach durch Umbildungen aus ana-
logie gestört, darüber nachher bei der declination. vortoniges e ist
unterdrückt in glich 60,13, bleip 64,17. im verbum ist die apokope
bewahrt in verkur : verlur 58, 9, synkope in geuarn 61, 28, gegen
gerent : werent 67, 3. fälschlich steht e in trüge 58, 21. neben
ec erscheint vielfach ic, vorhersehend in manic (manegen 60, 12;
65, 29), dagegen öfter kuuec als kunic und durchweg kunegin.
adjeelivisches en < in : sideu 58, 5, hermeu 59, 8 gegen barmio
64,29. im Substantiv nur 1 mal kunegeo 61,29 gegen Amal
kunegin 57, 19; 60, 9; 62, 25; 64, 12 und dazu kuueginue 61, 3;
67, 10, kuneginnen 04, 5. — vortoniges i in inein 57, 17 und
irkande 58, 28, sonst : ubir 03, 6, zobil 63, 24. an sonstigen
vocalen a in btrival 63, 15 und mit neuer anlehnung an mau
nieman 62, 2. statt agelsler wie auch anderwärts ageleisler 57, 27.
— mit ze wechselt zu.
2) Zum consonantismus. t und d sind in der mehrheit
der fälle richtig geschieden, aber auch mehrfach verwechselt : turtel-
[r der g rund ist die graphische Jiachbarschaft eines nasals! Seh.]
TÜBINGER PARZIVALBRÜCHSTÜI K
dube 57, 11, dateo 58, 4; 60, 23; 61, 7: irudeü 5'.). 18, beiden
05, 20, dochter 66, 9, lach 60, 0. i«./ 03, 3, ton 03. 7. legen
63, 13; 04,7; lach 63,22. — I'. pf, g, k sind im «miaut
und infaiit nach ostfrdnkischer weise behandelt, im auslaut ist
forlis regel. «loch erscheinen einige l> statt p ■. lil» 57, 5; 63, 19;
65, 3, gab 63, 24, wib 00, 8. unter <lm consonantengruppen wird
ulirl. Il nh ll geschrieben, nt meist als ml, nur mantel 63, 23 und
bei ursprünglich doppeltem i gante 59,20, sanier 05, 11. — mbr
aus mr : geziembrel 65, 1. — h zwischen vocalen : frühe 66, 22.
Zu den namen und fremd Wörtern.
Gabmurel regelmä/sig ohne h : Gamuret. Belacane mit ch -.
Belachane 58, S; Gl, 12. Brabanl mit p und u : Prauanl 07, 23.
ili in Pathelamunt 04, 17, Cilhegast 07, 15. — au in paulun
regelmdfsig (59, 25; 02, 18; 05, 10). — oi, oy in Logroys :
Ponturtoys 07, 15, tournoy 00, 11, kurloys : franzoys 02, 3,
avoy 02, 18; 05, 2, Qoytiren 03, 8. — weiter notier ich Fereßez
57.22, Kauoleis 59,24, Razaliges 64, 10, Britun 05,29, Nor-
man 05, 12, Gawen 66, 15. in zost für tjost (57. 24; 05,9)
könnte z für li lese/eitler sein, es ist aber wahrscheinlicher, dass
/n>t den anderwärts belegten formen schust, tsebusehl entspricht.
Zur flexion sie Inc.
Substantiv, im nominaliv des Singulars ist <• hinter nach-
tonigem er stets entfernt (ritter 03, 28; 04, 18. 21 ; 07, 5) außer
in der correclur ritlere 05, 24. neben herre 59, 29; 63, 11 ein-
mal her 00, 1. — dative ohne e zu ebensolchen nominativen auch
nach haupltoniger silbe verschiedener Quantität beliebigen auslaut s :
got 57,17, plan (ace.) : wao (dat.) 59, 20, Gamuret 04,15,
iar : uorwar 60. 7, lor 00, 29, auch bei 6-stamm !»et (: Gamuret)
64, 10 gegen mernere 58,24. — genetiv mit e : speres 59, 12,
aber hinter nachtonigem er ohne e : ritters 00, 23; 06, 21, wumlers
57, 17, wazzers 00, 28, sonst hoibz 03, 22. — im plural für
nominativ und aecusativ hinter nachtonigem er formen ohne e die
regel : anker 59, S (acc), soymer 00, 4 (acc), 61, 14 (nom.), ritter
05,27 (nom.), entsprechend striual 63, 15 (acc), aber mit e videlere
03. 12 (nom.). genetiv rilter 05, 28, dativ ven Stern 01, 4 und
unmittelbar hinter dem ton spern 00, 8 gegen speren 59, 5; Gl, 24.
00, 24. — bei den femininen \-st. die genetiv-, dativ- und aecusativ-
formen zt. vermengt, genetiv mit e: botschefte 58, 19; dativ mit e:
rilterschefte 57, 13; 06, 10, bende 57, 24, sigenunfte 58, 2 usw.,
126 BOHNENBERGEB UND BENZ
aber auch rilterscbaft 59, 1, flust 60, 21, hant 60, 14, craft
67, 4 wie bat : slat (dat.) 60, 2; 67, 9. accusaliv mit e : ritter-
schei'ie 66, 17. bei den femininen auf in : inne erscheint als nomi-
nativ des Singulars aufserhalb des reims einmal kunegiune 67, 10
wie kuneginne : inne 61, 3, dreimal in : kunegin 57, 19; 60, 9,
kunegin: wirtin 64,12 wie kunegin : drin 62,25. ebenso wechselnd
daliv kune^innen 64, 5 und kunegen 61, 29. zu frouwe vor dem
eigennamen als accusativ virn 58, 8.
Pronomen, diu ist in der mehrheit der fälle bewahrt, mehr-
fach dafür auch die (58, 16; 64, 9 als nom. s. fem., 67, 5 als
neutr. pl.). sie stets in dieser form, nie siu oder si. — ir ist als
possessivum ßectiert in im, acc. s. 62, 27. e? und es sind mehr-
fach verwechselt (59, 7. 26; 60, 14. 19; 64, 1; 65, 4; 67, 3).
Adjectiv. die endung -iu ist überall durch -e ersetzt. —
Zahlwörter : zwo 58, 13, zwene 63, 5, zwei als masc. 63, 15,
drie 59, 8 gegen dri 64, 29.
Verbum. 1 phir. vor pronomen -e : ensule wir 63, 10, heize
wir 66, 27. — 3 pl. ind. praes. vorhersehend -ent, vereinzelt -en :
jenen 62, 11. zu komen praeter Hol formen ausschlief slich mit qu :
quam 61, 28, queme (conj. praet.) 61, 21. im ablaut u statt o
unvergulten 61, 10. — regelmäßig -ond statt -und in konde
(59,19), begonde (61,6; 62,29; 64,2). zu hän ind. praet.
baten 61, 8 gegen hete 57, 12; 58, 8; 59, 7 usw., zu wellen,
3 pl. ind. praes. wollent 66, 28.
W ort formen.
selih 60, 20; 63, 29 — nit durchweg — oft do für da, auch
swo 60, 13.
Die heimat des bruchstücks.
Dem bruchstück fehlen alle oberdeutschen merkmale. es enthält
auch keine ausgesprochen rheinfränkische form, die Verwechslung
von t und d geht nicht über das im ost fränkischen des 14 jh.s
übliche mafs hinaus, zum ostfränkischen und südlichen
thüringischen stimmt auch der übrige lautbestand und die be-
handlung der flexion. bemerkenswert ist nur oi < öu. ich kann
dies aus dem Hennebergischen urkundenbuch und den Thüringischen
geschichtsquellen fürs 14 jh. nachweisen, so koyfen 1357 (Abt
vBreitungen Henn. ÜB. m 10), vorkoyfen, widerkoyfen 1357 (Herr
vBreitungen Henn. ÜB. m 8), verkoifTen, vorkoitTeu (mehrmals),
gekoyft 1352. 1362 (Arnstadt Thür. geschichtsquellen iv 156. 163).
TÜBINGER PARZ1VALBRUCHSTÜCK 12/
Ahst ii in in im ij und tex lij est alt.
Der texi gehörl zur reich vertretenen tippe (1. bei dem ttand
unserer ausgaben ist aber weder die Stellung des bruchstücks um
halb der sippe zu erweisen noch über die Herkunft und die Ver-
wendung der einzelnen lesarten befriedigendes zu sagen, ich ver-
zichte darauf die Variantenliste, die ich schon hergestellt halte, neben
dem text des bruchstücks selbst auch nach ausdrücklich zum abdruck
zu bringen.
Tübingen. K. BOHNENBERGER.
ii TEXT.
1 seile, 1 spalte.
.">7, 5 Immer (wiegen minen lib.
Si nein gote ze eren sprach daz wip
Gerne ich mich loifen solle
Vn leben swie er wolte.
Der iamer ^ap ir herzen wie
10 Ir fluide uant den dürren /wie
Alse noch die turteldube im
Sie hete hie den seilten müt
Swenne ir an ritterschefte gebrast
lr triwe kos den dunen ast,
15 Div frowe an rechter zit genas
Eines sunes der zweier uarwe' was.
An dem got wünders wart in ein
Wiz vh swarz an uarwe er schein.
Du kunegin kuste in suuder twal
20 Vil dicke an sine hlauke mal.
Div müter hiez ir kindelin
Ferefiez Anscheuin.
Der wart eiu walt swende
Die zost zu siner hende
25 Vil manic sper zehrachen
Die schilte durkel stachen.
Als ein Ageleisler wart geuar
Sin har vu ouch sin uel vil gar.
Nv was ez ouch über des iares eil
Daz Gamuret gepriset uil
58, 1 Was uon den uon zazamauc
128 BOHNENBERGER UND BENZ
Sin haut ze sigenunfte ranc.
Dannoch swebeter uf dem se
Die snellen winde im daten we
5 Einen siden segel sacb er roten
Den truc ein kocke. vn boten
Die uon schotten (Tridebrant
Virn Belachanen hete gesant.
Er bat sie daz sie nf in verkur
10 Swie er den mac durch sie verlur
Daz sie uon im gesuchet was.
Do fürten sie den Adamas
Ein swert. einen halsperc. zwo hosen.
Hie muget ir groz wunder losen
1 s., 2 sp. 15 Daz im der kocke widerfur.
Als mir die Auentivre swur
Sie gabens im do lop vn er.
Sin munt der botschefte wer
Were er so wider komen zu ir.
20 Sie schieden sich : man seite mir
Daz mer trüge in in eine habe
Zu Sibilien kerte er abe.
Mit golde galt der kuene man
Sinem mernere san
25 Vil harte wol sin arbeit
Sie schieden sich daz was dem leit.
Zv Spanie in dem lande [n buch]
Den kunec er irkande
Daz was sin neue kaylet
Nach dem kerter zu Dolet.
59, 1 Der was nach ritterschaft geuarn
Do man nit schilte dorfte sparn.
Do hiez ouch er bereiten sich
Sus weret div auentivre mich
5 Mit speren wol genialen.
Von gfuenen zindalen
Igliches hete ein banir
Drie hermen anker so fir
Daz man ir iach vor riche[rt]
10 Sie waren lanc vn breit
TÜBINGER PARZIVALBRÜCHSTOCK 120
Vn reichten miste uf die hanl
So in. ms zu Bperee isen baut
[in oidertalb eine spanne.
Der wart dem kuenen manne
15 Hundert do bereitet
Vü will hin nach geleitet
Von siih's neuen livten.
Eren vn truden
Konden sie in mil werdekeit
20 Daz was ir herren nit zeleit.
Er streich in ich enweiz wi lauge nach
Ynz er geste herherge sach
In dem lande zu waleis.
Di» was geslageo uor Kauoleis
2 s., 1 sp. 25 Manie paulun uf den |dan
Ich sages uch nit uo[nJ wan.
Gehietet ir so ist ez war
Sin volc hiez uf halten gar.
Der herre saute uor[h]iu in
Den clugen meister knappen sin.
60, 1 Er wolte als in sin her bat
Herberge uemen inder stat
Do was im snelliche gach
Man zoch im soymer nach
5 Sin ouge nirgen hus da sach
Schilte waren sin ander tach
Vn wende alsam behängen.
Mit spern gar vmbe uangen
Div kunegin uon Waleys
tO Gesprochen bete zu Kanuoleys
Einen turnoy also gezilt
Des manegen zagen noch beuilt
Swo er dem glich werben siebt
Von siner haut ez nit geschieht.
15 Sie was ein maget nit ein wip
Div bot zwei lant vü ir lip
Swer den pris bezalte.
. . . mere manigen valte
. . . ders ors uf den samen.
Z. F. D. A. XLIX. N. F. XXWII. 9
130 BENZ UND BOHNENBERGER
20 Die selich gevelle namen
Der schanz ze flust wart gesaget
Des pflagen hekle vnuerzaget
Si daten ritters eilen scliin.
Mit hurteclicher rabiu
25 Wart do manic ors ersprenget
Vn swerte vil erclenget.
Ein schifbrucke an einen plan
Gienc über eines wazzers trän
Mit einem tor beslozzen
Ein knappe vuuerdrozzen
61, 1 Tet ez uf als im ze mute was
Do über stunt der palas
Da saz div kuneginne
Zu den venstern dar inne
2 s„ 2 sp. 5 Mit maniger werden frowen.
Die begonden schoweu
Waz dise knappen daten.
Sie baten sich beraten
Vii slugen uf ein gezelt
10 Vmbe vnuergulteu minnen gelt
Wart ez ein kunec ane
Des twanc in Beiachane.
Mit arbeite was uf geslagen
Daz drizec soymer musteu tragen
15 Ein gezelt das erzeigete ricbeit
Do was der plan wol so breit
Daz sich die snüre wol stracten dran.
Gamuret der werde man
Die selbe zit dort vze enbeiz
20 Dar nach uil sere er sich fleiz
Wie er houeliche queme geriten
Des enwart do langer nit gebiten.
Sine knappen anden stunden
Ir sper zesamene bunden
25 Iglicher fivnue an ein bant
Daz sechste furter ander hant
Mit einer baniere
Sus quam geuarn der fiere.
TÜBINGER PARZIVALBRUCHSTÜCK 131
Von «1er kunegea warl vernomeo
Wie ein gast do solte komea
62, 1 Vz gar uerrem lande
Den oieman erkande.
Sin uolc daz ist kurtoys
Beide lieideD8ch vfi rranzoys.
5 Etlicher mac ein Anscheuin
Mit siner spräche vil wol sin.
Ir mut ist stolz ir wat ist dar
Wol gesniten al nur war.
Ich was sinen knappen bi
in Die sint non missewende fri.
Vn ielien swer habe geruche
Ob der ir berren suche
Den scheide er non swere
Von in Iragete ich der mere
3 "J. 1 gp. Do sageten sie mir sunder wanc
16 Ez were der kunic nun Zazamaoc
Dise mere seite ein garznn.
Auoy welch ein paulun
Iwer crone vli iwer lant
20 Weren d[er]fur nit balbez pfant
Du solt mir ez so loben nicht
Min munt hin wider dir des gichU
Ez mac wol sin eines werden man
Der nit mit armote kan.
25 Also sprach div kunegin
Owe wanne körnt er drin
Irn garzun sie des fragen bat.
Houeliche durch die stat
Der helt begonde treken
Die slafenden wecken. •
63, 1 Vil schilte sach er schinen
Die hellen businen
Vor im mit crache gaben toz.
Von würfen vn uon siegen groz
5 Zwene tamburre gaben schal
Der galm nbir al die stat erhal.
Der ton idoch gemischet wart
132 BENZ UND BOHNENBERGER
Mit floytiren uf der vart.
Eine reisen sie Miesen.
10 Kv ensule wir nit Verliesen
Wie ir herre komen si
Dem riten videlere bi.
Do legete der legen wert
Ein beiu für sich uf daz pfert
15 Zwei striual über bloze bein.
Sin munt als ein rubin schein
Vor roete als ob er brunne
Er enwas ze dicke noch zedunne.
Sin üb was allentalben clar
20 Sieht reitelechte was sin har.
Swaz man uor dem hüte sach
Daz was ein tivr hoibz tach.
Grüne samit was der mantel sin
Ein zobil da uor gab swarzen schin
3 s. 2 sp. 25 Ober einem hemde daz was blanc
Von schowen wart da groz gedranc.
AI dicke do gefragei wart
Wer were der ritter ane bart.
Er fürte al selich richeit
Vil schire wart daz mere breit.
CA, 1 Si sagetens im uor vngelogen.
Do begonden sie über die bruke zogen
Ander uolc vrf daz sine.
Von dem lichten schine
5 Der uon der kuneginnen schein
Er zucte neben sich daz bein
Vfrichte sich der tegen wert.
Rechte alse ein uederspil daz gert.
Die herberge duchte in gut
10 Also stunt des heldes mut.
Sie dolle ouch wol div wirtin
Von waleis div kunegin.
Nv friesch der kunec uon Spanie
Daz uf der Lewe plauie
15 Stunt ein gezelt daz Gamüret
Durch des kuneges kazaliges bet
TÜBINGER PARZ1VALBRUCUST0CK 133
Bleip iini Patbelamunl
I),i/. ict hu ein ritter kunl.
Do lur er springende als eio i > r
20 Vn was der frowen Boldir.
Der Belbe rilter aber sprach
Iwer müemen sud ich sach
Kornea als er was fier.
Ez miii hundert baoier
25 Zi einem 6chilte uf grüne uell
Gestochen für sin hoch gezell
Die sint ouch alle gruene
Ouch hat der hell kuene
Dri barmin anker licht gemal
Vi iglicheu zimlal
65, l Ist geziembret hie.
Auoy nu sol man schoweo wie
Sin lib den poynder irrel
Wie fers mit hurte wirrel
1 s, ; 5 Der stolze kunic Hardiez
Her hat mit zorne sinen Qiez
Nv lauge uaste an mich gewant.
Den sol hie Gamuretes bant
Mit siner zu>ii neigen.
lo .AI in selde ist nit der ueigen.
Sine boten santer sau
Do Gatschier der Norman
Mit grozer massenie lac
Vn der lichte Killiriakac
15 Die waren da durch sine bet.
Zem paulune sie mit Kaylet
Füren mit geselleschnft
Do enpuengen sie durli liebe craft
Den weiden kunic uou Zazamanc
20 Sie duchte ein beiden gar zelanc
Daz sie in e nit sahen
Des sie mit triwen iahen.
Do fragete er sie der inere
Wer der ritter(e) ' were.
1 -e später angefügt.
134 BENZ UND BOHNENBERGER
25 Do sprach siner mümen kint
Vz uerrcn landen hie sint
Ritter die div minne iaget.
Vil kuuer ritter vnuerzaget.
Sie1 hat mauegeu britUD
Roys Vterpandraguu.
66, 1 Ein mere in suchet als ein dorn
Daz er siü wip hat nerlorn
Div Artuses müler was.
Ein pfaffe der zoiher las
5 Mit dem div frowe ist hin gewant
Dem ist Artus nach gerant.
Ez ist in dem dritten iar
Daz er sun vü wib verlos uorwar.
Hie ist ouch siner dochter man
10 Der wol mit ritterschefle kan.
Lot uor Norwege
Gein valscheit der trege
Vn der snelle gein dem prise.
Der kuene helt wise
4 s., 2 sp. 15 Hie ist ouch Gawen des sun
So cranc. daz er nit mac getuu
Ritterschefte deheine.
Er was bi mir der deine
Vn gicht mochter einen schaft
20 Zebrechen. tröste in des sin craft
Er wurchte gerne ritters tat.
Vil frühe sin ger begunnen hat.
Hie hat der kunic Patrigalt
Von speren einen grozeu walt
25 Des füre ist wider den ein wint.
Die uon Portigal hie sint
Die heize wir die frechen
Sie wollent durch schilte siechen.
Sie2 hant die Prouenzale
Schilte wol gemale.
67, 1 Hie sint die waleise
1 jüngere hand setzt auf dem rande neben dem roten S mit schwarzer
tinte bei : H 2 wie bei 65, 2'J.
II ULM, Kl; PARZlVALBRUCHSTl CK 135
Daz sie behabent ir reise
Durch den poynder >\\a siz gerenl
Vod der craft irlandes sie des werent.
5 Bie ist iii.iiiic ritter darcfa die \\i|»
\u> int erkennen mac min lip
W.iii die ich dir benennet han.
Wir ligeo mit warheil sunder wan
Mil grozen fureu in der stat
10 Als viis div kuneginne bat.
Ii li sage dir swer zu uelde liget
Die unser wer vil deine wigel
Der werde kunec uon Ascalun
Vn der Freche uon Arragun.
l ;. Do ist Cilhegast uon Logroys
Vn" der kunic uon Ponturtoys
Der heizet Brandlidelin.
Do ist der kune Lehelin
Da ist Moidli uon liiani
20 Der bricbel ms abe gebe plant.
Da ligent ul dem plaue
Die stolzen Alimane
Der herzöge uon Prauant
Der ist gestrichen in diz lant.
Tübingen. JOS. BENZ.
EIN WINSBEKE-FRAGMENT
DER UNIVERSITÄTSBIBLIOTHEK MÜNSTER.
Als wir im herbst d. j. mit der münsterischen Universitäts-
bibliothek in ein neues heim übersiedelten, kam beim transport
ausgeschiedener dubletten ganz durch zufall ein alter quartband
aus dem kluster W'edinghausen bei Arnsberg in meine hände, gegen
dessen vorderdeckel ein pergamentblatl mit mittelhochdeutschen versen
geklebt icar, in denen ich an dem beginne sämtlicher vorliegenden
Strophen mit dem worte Suu auf den ersten blick ein fragment
des Winsbeken erkannte, der band selbst enthält eine beliebte
klosterhclüre, Jakob Others lateinische ausgäbe von Geiler von
Kaisersbergs predigten über Sebastian Brants JS'arrenschiff (Navicula
sive speculum fatuomm Johannis Geyler Keysersbergii. Argentorati
136 BÖMER
1511). auf dem oberen rande des titelblaüs steht von alter, gleich-
zeitiger hand geschrieben: Liber Monasterii Wediochusen. das
21 cm lange und 14'/2C»t breite per gament stück ist ein ausein-
ander gefaltetes octavdoppelblalt , von dessen zweitem teile fast
die hälfte in senkrechter richlung abgeschnitten ist. ich habe das
fragment sorgfältig vom decket abgelöst, gründlich gereinigt und
mit gallustinctur behandelt, so dass die abgeblasste schrift wider
durchgängig lesbar geworden ist. die ränder der blätter sind stark
beschnitten, doch ist der text hier unversehrt geblieben, die grö/se
des ersten vollständigen octavblatts, wie es vorligt, beträgt l43/.i:
13 cm, die des schrift feldes 133/4 : 10 cm; die grö'fse des zweiten,
defecten 143/4 : lil2cm, die des schrift feldes 133/4 : 6V2 cm. jede
seite weist 28 Zeilen auf. die nicht besonders sorgfältige, kleine
aber kräftige cursivschrift gehört der 1 hälfte des 14 Jahrhunderts
an. die verse sind nicht abgesetzt, aber in üblicher weise durch
puncte getrennt, die anfange der Strophen sind durch ein rotes
paragraphenzeichen kenntlich gemacht, ihr erster buchstabe zeigt
strichelung. von abkürzungen hat der Schreiber spärlichen gebrauch
gemacht; sie beschränken sich auf den strich über einzelnen bnch-
staben, ein häkchen für er und hohes t für et. das i hat in
gewissen Verbindungen, die es nötig erscheinen liefsen, einen strich
erhalten, blatt 1 beginnt mit dem 9 verse der 2 Strophe und endet
im 3 verse der 14 Strophe des Hauptschen textes. die Vorderseite hat
2 verse -j- 4 ganze Strophen {von 10 versen) -\- 6 verse, die rück-
seite 4 vv. -\- 4 strr. + 2^2 vv. bl. n hebt an mit dem 4 verse
der 33 Strophe und schliefst mit dem 6 verse der 49 Strophe.
auf der vorderen seite stehn hier 7 vv. + 3 strr. -f- 8V2 vv., auf
der hinteren 1 1/i vv. -f- 4 strr. -(- 6 vv. zu der textbestimmung des
fragments muss bemerkt werden, dass die Strophenfolge der münste-
rischen handschrift, die ich fortan mit M bezeichne, von der aller
anderen hss. wesentlich abxceicht, und die stücke, welche zwischen
den angegebenen anfangen und Schlüssen der beiden textpartieen
stehen , sich keineswegs mit denen der gewöhnlichen Überlieferung
decken, es darf angenommen werden, dass die lücke zwischen den
beiden teilen des fragments 19 — 20 Strophen betragen hat. für
diese zahl spricht auch der umstand, dass rund 20 Strophen gerade
ein doppelblatt gefüllt hätten, da das fragment mit dem 9 verse
der 2 Strophe beginnt, also vorne nur 1 Strophe und 8 verse
fehlen, muss das gedieht auf der rückseite des vorhergehenden
EIN WINSBEKE-FRAGMEN1 137
blattes ziemlich unten angefangen haben M ist demnach wol, wie
die übrigen Handschriften in denen der Winsbekt Überliefert ist,
eine tammeJhandschrift gewesen.
Die oberdeutsche spräche des Originals ist in M ins mitteldeutsche
übertragen, das md. charakterisiert sich durch die Vorliebe /ür
o gegen u (do statt du, im, holden Logen l), durch die abneigung
gegen uo für u, her statt er, iz statt ez, das mehrfach fehlend*
aushiut - 1, bot a&n '///er </m/t/< das i stall e in den endsilben
(andir, gutin, vorcbtin, lebist, ^'otis, recbür, beydir, scheydin
usw.). die hochdeutsche lautversehiebung ist durchgeführt, wenn
Arnsberg auch schon dem niederdeutschen Sprachgebiet augehörte, so
lag es doch immerhin in dessen südlichstem teile, nahe der hoch-
deutschen grenze, der schreiber von M konnte das md. seiner vor-
läge entnommen haben; es konnte ihm von einem frühem aufenthaits-
orte her geläufig sein ; er mochte geflissentlich die gebildetere hoch-
deutsche sprachform wählen, die spräche der handchrift würde also
eine anfertigung im kloster Wedinghausen wol nicht direct aus-
seidie/'sen; aber wahrscheinlich itt sie nicht grade.
Das beste kriterium für die bestimmung des Verhältnisses
zweier hss. zu einander bildet bei dem Winsbeken die zahl und
anordnung der Strophen, schon nach dieser richtung hin steht M
völlig selbständig da. ich beschränke mich darauf, zum vergleich
ihre Strophenfolge und die <les Bauptschen textes nebeneinander
zu stellen, wobei ich annehme, dass die Strophe, in welcher unser
fragment beginnt, auch würklich die zweite der hs. gewesen ist.
für die erste Strophe des 2 blattes von M setz ich die zahl 33 an,
da die Strophe bei Haupt diese nummer trägt, die wievielte sie
tatsächlich gexcesen ist, lässt sich mit Sicherheit nicht bestimmen,
doch dürfte die zahl 33 ziemlich zutreffen.
Blatt i.
M: 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Haupt: 2 4 3 5 6 7 S 11 12 13 14
Blatt n.
M: 33 34 35 36 37 3S 39 40 41 42
Haupt: 33 42 43 27 45 46 47 48 51 49
icir sehen, die abweichungen sind sehr beträchtlich, auf sei de\
spätem Gothaer hs. (g) entfernt sich keine der andern hss.1 so weit
1 in betracht kommen die bekarmten liederhss. ß und (', die Berliner
^ibelungenhs. I und die h'olmnrer liederstvnmlung A.
13S BÖMER
von der gewöhnlichen Überlieferung, oder sagen wir genauer von B
tmd I, die in diesem puncte bis zur 58 Strophe völlig überein-
stimmen, es erhebt sich nun die frage, worauf sich die ab-
weichungen von M gründen, versehen des Schreibers scheinen mir
ausgeschlossen, es müssen also bewuste änderungen vorliegen.
Besonders bemerkenswert scheint mir die auslassung der Strophen
9 und 10 in M. sie fehlen in keiner anderen hs. in BCIK
stehn sie an derselben stelle, nur in g sind sie, getrennt von ein-
ander, viel weiter unten eingereiht, mit der 8 Strophe beginnen
die auf den frauendienst bezüglichen mahnungen : ivem Gott ein
weih gegeben, der soll ihr allzeit in treuen anhängen. Strophe 11
verallgemeinert den frauendienst : nicht nur sein ehliches weib.
sondern alle guten frauen soll man ehren und lieben, sie sind die
engel der erde, die Gott zugleich mit denen des himmels geschaffen,
dazwischen stehn in Strophe 9 und 10 mahnungen, keinen ver-
ständnislosen in das liebesgeheimnis einzuweihen, sich vom weine
nicht übermannen zu lassen, nichts auf die Schwätzer zu geben,
keinem beim erzählen in die rede zu fallen, sich der bekümmerten
zu erbarmen und endlich sich allen frauen gegenüber schöner reden
zu beßeifsigen : denn möge auch einmal eine weniger wolgeartete
darunter sein, so stünden ihr tausend tugendsame gegenüber, welche
bedenken können die auslassung veranlasst haben? wider drängt sich
die frage auf, ob die hs. im kloster Wedinghausen , wo sich das
fragment befunden hat, geschrieben und hinterher, als das interesse
an dem stücke geschwunden, zerschnitten und zum einbinden neuer
bücher verwendet sei1, vor einiger zeit hob ich bereits in einem
gleichfalls aus Wedinghausen stammenden bände das bruchstück einer
deutschen poetischen Übersetzung des Boethius aus dem anfang des
15 jh.s gefunden, sollten die manche des klosters würklich neben der
lateinischen auch die heimische dichtung in ehren gehalten, vielleicht
gar die ihnen zur erziehung anvertraute Jugend in sie eingeführt
haben? beim Boethius wird uns dieser gedanke nicht schwer, aber
wird im kloster auch eine statte für lehren des frauen- und ritter-
dienstes gewesen sein?"1 das in der zweiten hälfte des 12 jh.s ge-
1 gegen den hinter decket unseres Landes ist ein stück eines latei-
nischen Schulbuchs geklebt, der schluss eines '■Scriptum super Aoianum'.
2 in dem gedieht 'Des Teufels JSetz' aus der 1 hälfte des 15 jh.s
wird klage darüber geführt, dass manche geistlichen in den alten deut-
schen mären beschlage?ier wären als in den episleln und evangelien, und
EIN WINSBEKE-FRAGMENT 139
gründete kloster Wedinghausen vom eine niederlastung de» I
monstratenserordens. die NorbertinermOnehe haben auch der
jugendbildumj ihr interesse zugewant, und man nimmt an,
dass in Wedinghausen bereits zu anfang des 14 jh.s eine ort
von höherer schule bestanden hat (Feaux de Lacroix Geschichte
Arnsberg» \ lb'.)5] 8.1 1 1). es ist eine notiz erhalten : 'Karl von Alinck-
bofen aul Laer bei Bfeuden geboren 1314, gestorben 132G zu
Arnsberg auf der Schule.' dieser junge adliche wird für einen Zög-
ling des klosters Wedinghausen gehalten, wenn die manche aber
nicht nur geistliche herangebildet haben, sondern überhaupt als Jugend-
erzielter tatig gewesen sind, könnte vielleicht bei ihnen ebensogut
wie auf anderen schulen neben lateinischen silten- und anstands-
lehren, neben dem Calo und Schriften dieser art, auch ein didak-
tisches hochdeutsches gedieht wie der Winsbeke in revidierter gestalt
beim Unterricht verwendet sein, es wäre dann nicht unmöglich,
dass die Strophen 9 und lo pädagogischen bedenken zum opfer
fiele)!, etwa wegen der mahnung zum geheimhalten der liebe,
wer freilich so engherzig die ihm anvertraute Jugend gehütet hätte,
würde wol auch noch manche andere stelle ausgemerzt haben die
in M zu lesen ist, ja er hätte vielleicht den ganzen frauendienst
gestrichen, da obendrein die Herkunft aus Wedinghausen sehr
zwei/elha/t und eine blofse Umstellung der beiden strr. (wie in g)
möglich ist, so lässt sich eine entscheidung nicht treffen.
In der fassung des lextes steh' M deutlich der gruppe Clg
nahe, besonders oft der hs. g (zb. gleich 2, 9), und häufiger stellt
es sich zu C als zu I, das doch 9 (11), 8 allein zu M stimmt,
daneben hat M aber auch ganz ihm eigne Varianten : in klein ig -
keiten weicht es auf schritt und tritt von den andeien hss. ab,
34 (42), 8 — 10 sogar 3 ganze verse hindurch, wo es freilich nicht
im rechte sein wird, wie M denn besondere Sorgfalt nicht verrät:
Schreibfehler und metrische härten sind häufig.
Bei der grofsen zahl von abweichenden lesarlen in M hielt
ich es für ratsam, einen vollständigen abdruck des fragments zu
geben, fehlerhafte stellen sind nicht berichtigt, sondern durch ein
ausrufungszeichen gekennzeichnet, doch sind lücken des lextes auf
dass sie solche dinge auf der schule lernten [vgl. Mitteilungen d.
ges. f. deutsche erz. u. schnlgesch. 16, :i7ü /*). wo aber die deutsche
heldensa^v ein gegenständ des Unterrichts war, da konnte sehr wol auch
ein höfisches gedieht mit den schillern vorgenommen werden.
140 BÖMER
dem 1 blatte (wo sie auf einem versehen beruhen), ebenso nach der
Hauptschen ausgäbe ausgefüllt, wie auf dem 2 defecten blatte, eckige
klammern und cursiver druck heben die zufügungen gegen den
text von M ab. beim einsetzen des Hauptschen textes wurde von
dem versuche, den Originaltext dem dialekte von M anzupassen, ab-
gesehen. 35, 9. 10 ist nach I ergänzt, 41, 7 nach C, da dieses hier
mit M übereingestimmt zu haben scheint, wo M ganz eigene wege
geht, muste ich bei den fehlenden stücken von bl. ii puncte machen.
Text nach .)/.
[bl. i'] 2 (2).
9 der ir noch willen volgen wil,
daz ist libes unde der sele tot.
3 (4).
Sun, gip im der dir hat gegeben
und an der gäbe hat gewalt :
her gipt noch eyn immerleben
und andir gäbe manicvalt,
5 [me danne loubes hat der walt.]
wiltu no koufen synen hurt,
in sinen hulden dich behalt
unde sende gute boten vor,
di dir durt vahen gulin rum,
er daz der wirt vorsla di dor.
4 (3).
Sun, merke wi daz kertzenliech,
di wile is brinnet, is swindet gar :
no gloube, daz dir sam geschit
von tage tzu tage ; ich sage dir war.
5 dez nym in dinen sinnen war
unde richte hi din leben also,
daz durt di sele wol gevar.
äwi hoch an gute wirt din nam,
so wirt dir nicht wan also vil,
eyn linin thuch vor dine schäm.
5 (5).
Sun, alle wiseyt ist eyn wicht,
di hertzen sin irtrachte kan,
EIN WINSBEKE-FRAGMEN1 1 m
bat er izu gote myone nicht
und sihel in Dicht mit vorchtin ao.
is sprach hir vor eyn wiser man.
daz «Iure werlde wysheil si
vor gut»' eyn torlieyt Blinder wan :
do tzn so richte « 1 i 11**11 sin,
daz do in einen holdi-n lebist,
und la dich aller dinge an in.
6 (6).
Sun, geyslich leben in ere habe :
daz wirt dir gut unde ist ein sin.
dez willen kume durch niman abe,
bieugen tzu diner gruben hin:
5 is wirt an Salden din gewin.
enruche, wi di phaffen leben:
do salt dini'ii gote an in.
sint gut ir wort, ir werc tzu crump,
so volge do den worte nach,
irn werken nicht, oder do bist tump.
-> (7).
Sun, is waz ie der leyen sete,
daz si den p hallen trugen haz :
do suude si sit sere mitte,
ich kau nicht wiszen umme waz.
5 ich wil dir raten verre baz :
do salt im [!] holt mit trüben sin
[6/. iv] und sprich suu schone, tustu daz,
so mac din eude werde gut
unde wirt tzu lone dir beschert
gotis licham unde siu reynez blut.
8 (6).
Sun, so dir got gefuget eyn wip
noch syme lobe tzu rechtir e,
di saltu haben als dinen lip,
unde fuges, daz is also ste,
daz uer beydir wille irge
itz eyme hertzen unde drin.
142
BÖMEH
waz wiltu denne wunne nie,
ob tas geschit in truer phlege?
sehet abir di werre iren samen dar,
so muzen scheydin sich di wege.
9 (11).
Sun, wiltu tziren dinen lip,
so daz her si unvugen gram,
so mynne unde ere gute wip :
ir togent uuz ie von sorgen nam.
5 si sint eyn wunnenbernder stam,
do von wir alle sint geborn.
her hat nicht tzucht noch rechten schäm,
der daz nicht irkennet an in,
her muz der thoren eynir sin,
unde helle her Salomonis sin.
10 (12).
Sun, si sint der wunne eyn berndez licht
an eren unde an wirdekeit,
der werlde vrouden tzuvorsich :
ni wiser man daz widerstreit.
5 ir nam der eren cronen treit :
die ist gemezzin unde gewurcht
mit togenden ho wit unde breit,
genada got an unz begie,
do her im eugele durt geschuf,
daz her si gap vor engil hi.
11 (13).
Sun, du [mäht] noch nicht wizzen wol,
waz eren anden wiben lit.
ob iz dir salde vugen sol,
daz do gelebiz di liebe tzit,
5 daz dir ir gute vroude gip,
[so] mac dir immer baz gesehen
zu dirre werlde sunder strit.
do salt in holt mit truen sin
sprich in wol : tustu dez nicht,
so muz ich mich getrosten din.
EIN WINSBEKE-FRAGMENT | 13
12 (14).
Sun wiltn artzedye nemyn,
ich wil dich leren eynin tranc ;
lezet ||
["■ nr| 33 (33).
der mochte deste wera d.
5 d/ir ist der visen lop] vortzigen,
willu izu gahes mutia [sin]
[an allen rat und] unvortzigen [l 1 ;
so kumit dir gar d[az Sprichwort icol.J
[dazj mutis altzu gaher man
vel \[raegen esel riten sol.]
34 (42).
Sun, wilm liebin gut gemach,
[so muost du eren dich] bewegin :
an iungem inaun/"e ich nie gesachj
[diu] tzwey in glicbir wagen wegen.
5 wa/a tone ein junger] liep vorlegen
der ungemach im,/;/ liden kau)
[noch] sinneclich noch eren Stegen ?
der is
waz her unvrouden vor im sieht
vrouden hat irkorn.
35 (43).
Sun, \shi[est daz Verlegenheit]
isl gar eym jungen man eyn slac.
[ez si dir offenlich gejsait,
daz oimant eren haben inac
5 [noch herzeliebe] sundir slac [!]
gar ane kummir untle [an not.]
[der louch gat] so nicht in dez [!] sac.
der sich v<»r seb [anden wil bevriden,]
der mac geborgen nicht dem h[bej
[noch dem gut] noch den liden
36 (27).
Sun, merke reßte, wie daz rot]
daz isen vulet unde den stal :
144 I5ÜMER
also [tiiot unbescheiden] spot
der manues hertzen sundir qua/7y.
5 fez ist ein sföl/denvluchtik mal
und suchet umme [und umbe entwerj
von deine tzu deme alz eyn swal.
s[un, da solt du dich] hüten vor :
do macht nicht samft/e von im komenj
ab her dich brengit in sinen spor.
37 (45).
[Sun, beidiu luoder] uude spil
sint libes unde der sele [ein val,J
[der anej mase in volgin wil,
si machin im [breite huoben] smal.
5 swer lebit an ere an vrie/r wal,[
[der wirt] der werlde schir unwert
unde [huset in dem] affeutal.
der also vorlusit sine h[abe]
/mit disen swachen vuoren zwei][bl. ny]n
der lege baz in eyme grabe.
38 (46).
Sun, swen sin sin vejileylel so,
[daz er unrehte im selben tuotj
ist her bi wysen luten [vro,]
[da sol man kieseja toreu [muojt.
5 di ruwe ist noch der [schulde guot,]
[ob si vo]ü hertzen rechte verth.
eyn vole uz [einer wilden stuot]
ende uzgevangen [!] wirt e tzam,
e [daz ein ungeraten] lip
gewinne eyn herlze daz sich schäm,
39 (47).
[Sun, twinc des dineja vrien mut [!],
daz do tzu huze richtist [dich.]
[ein teil ich wn/gereysic bin;
man tut uud lazet un[vil durch mich.]
5 [dem] armen snide unde brich
mit willen [diner reinen hab]e :
EIN W1NSBEKE-FR AG MEIST 1 1:,
ob allen raten rate daz icb.
iz [ist dir guot und »/irl oucb nur :
ich habe in eren her [geleitet;/
fze husj werfe ich den slegil dir.
10 (48).
[Sun, ob ich ungerüejmel wol
und .in ungufuge sprecbin [mac,/
/mit liebe ich] dich bescheynde /.'/ sol :
sint ich von [erste huses phlajc,
5 <la von ich nacht unrie tac [!].
[min umbescezen wizzjen wol
\\i min wert in eren lac.
[ich hete no/ch vil guten mut
und willic hertze, [wan daz mir]
daz aldir grozen schaden tut.
41 (öl).
[Sun, husere ist[ eyn wirdekeyt,
di hi den hoeslen [lugenden vert;]
[swer si] mit schonen siten treit,
wi wol [sich der in eren] nert.
'■> daz gut wirt rnineclich vorfzert,]
[daz niht eiju schade gebeyszen mac.
und lz\ve[n from sint da] von beschert,
gotis Ion, der werl/fe habedanc:]
[der d]\ twey wol halden kan,
den rieh et [wol sin ackerganc]
42 (49).
Sun, swer daz huz wol habin [teil,]
[der muoz driu di]nc tzu sture han,
milde demut true
[i]sl her da by eyn vrolich man,
5 der/s wol den Hüten biete]n kan,
so tut sin brot den nemyndin [wol]
Münster i.W. A. BÖMER.
Z. F. D. A. XL1X. N. F. XXXVII. 10
EIN ULFILAS-STEMPEL.
Der broncestempel, den unsere figur 1 und 2 in natürlicher
gröfse widergibt, befindet sich im besitze des herrn ESchlum-
berger, membre de l'lnstitut in Paris, wurde von ihm in der
silzung vom 17 juli 1878 der Socißte nationale des antiquaires
de France vorgelegt und im Bulletin desselben Jahres s. I82fmit
einigen bemerkungen veröffentlicht, er neunt ihn 'un grand
sceau ou cachet . . en bronce, de l'epoque byzantine' . . und be-
merkt über die inschrift 'La legende circulaire, preced6e d'une
croix initiale, nous donne le nom du proprieHaire : OYP0IAA,
evidemment pour OYAcplAA, Ulfila, Ulfilas, nom goth'. im
übrigen ist das denkmal völlig unbeachtet geblieben, da es für
Fig. 1.
■B
die germauisten noch ein besonderes interesse hat, wird ein er-
neuter hinweis darauf in einer facbzeitschrift am platze sein,
nachdem ich durch die gute des herrn Schlumberger es hier in
Strafsburg selber habe untersuchen können.
Nach einer brieflichen mitleilung des besilzers hat er den
Stempel im jähre 1875 von einem bändler in Korfu erworben,
woher dieser ihn hatte, ist unbekannt, über die echtheit des
Stückes kann kein zweifei sein, mit ausnähme einer ausge-
sprungenen raudstelle und einiger kleiner Verletzungen ist es
wolerhalten. die runde platte hat einen horizontaldurchmesser
von fast 84 mm. und ohne den nach unten übergreifenden
rand eine dicke von 3,5 mm. um den rand herum sind oben
als Verzierung fünf gröfsere knöpfe angebracht, ein sechster wird
an der ausgesprungenen stelle verloren gegangen sein, zwischen
dem tiere und dem rande sind etwa in der höhe der beiue vier
kleine concentrische kreise eingraviert, als handgriff diente ein
HENNING EIN ULF1LAS-STEMPI l
1 1:
vierfOfsiges tier mit gestrecktem leib, bis buI den boden herab-
hängendem schwänz und einem köpf mil kurzen emporslehnden
ohren und langer spitzer schnauze, durch eine Verletzung, deren
riss im nackeu klafft, kann die kopfsteliung nur unbedeutend
verändert sein, der schwänz und die pföteo bSngen mit der
platte zusammen, während die schnauze sie knapp berührt nb-
wol in der ganzen haltung eine gewisse realistische aufTassung
I
Fig. 2.
nicht zu verkennen ist, lässt sich das tier doch schwer ideutiü-
cieren. die auffallend lange spitze schnauze ist in jedem falle
übertrieben, da sie hei keinem liere, das zur vergleichung heran-
gezogen werden kann, so vorkommt, die Stilisierungen ägyp-
tischer tiere (etwa des ichueumons oder des schakals) lassen
ähnliche übertreihungen zu. bei unserem Stempel erklärt sie
sich besonders leicht, da der griff dabei auch vorne nach dem
boden hin eine stütze erhielt. Schlumberger nennt das tier einen
kleinen hund, und wie mir von zoologischer seile bemerkt wird,
soll 66 wol auch ein canide sein, aber kein haushund, sondern
10*
14S
HENNING
ein wildes tier, uud zwar der dicken beine etc. halber am ehesten
ein junges, diese ansieht wurde mir voo dem herrn collegen
sjeäufsert, bevor ich ihm den auf der riiekseite stehnden
nameu sagte, so könnte wol ein wildhund oder ein schakal
(canis, lupus aureus) gemeint sein, bei dem die schnauze 'spitzer
als die des wolfes, aber stumpfer als die des fuchses' ist und
dessen schwänz bis zum »ersengelenk herabhängt (Brehm 2, s. 41),
Fig. 3.
vielleicht auch ein fuchs, da der besitzer unseres stempeis aber
'Wölfle' hiefs, wird man eher noch an einen ebensogut mög-
lichen jungen wolf zu denken geneigt sein.
Auf der rückseite des stempeis, die unsere flg. 2 in ihrer
wirklichen form, flg. 3 im Spiegelbild widergibt, stehn die er-
habenen zeichen, die ebenso wie der sie umschliefsende rand
eine höhe von etwa 4 mm erreichen, die oberste stelle über
dem monogramm nimmt das christliche kreuz ein. rechts neben
demselben beginnt, nach links sich fortsetzend, die zusammen-
hängende schrift, die im abdruck (flg. 3) also rechtsläufig heraus-
EIN ULFILAS-STEMPEL
kam. alle bucbstabeu sind griechisch und babeo die normale
Stellung, auch das letzte A steh! wo! nur etwas schief, wil
erbalten die iweifellose lesuog
OYP0IAA
OvQipt'/.a, Urfila. 'die buchslabenformen gewähren', wie ben
College Keil, der mir seine rreundlicbe Unterstützung gewahrte,
bemerkt, 'mit ihrem vulgärjungen Charakter keine zeitlichen an-
haltspuncte. die buchstaben stehen bis auf das letzte zeichen
richtig1, zu den jüngeren, der cursive näher stehndcn formen
gehören das abgerundete P und das A.
Die lautgebung Ovg<pt).a für Ov/.rpi'/.a ist gleichfalls vulgär,
aber gerade für den namen des Golenbischofs bezeugt, der
Arianer Philostorgius ans Kleinasien, der wichtigste unter den
griechischen herichterslallern, schlich um 440 nach dem auszugt
des f'hotios Ovgrpi'/.ac, ebenso die Acta S. ISicetae Ovgq~>ilog.
Luft nennt das g rätselhaft >, aber der vulgärgriechische Über-
gang von /. zu g kommt nicht nur als dissimilalion , sondern
auch in Beitreibungen wie ddegcpoi für dde'/.rpoi schon in spät-
griechischen inschriften vor'2, dem namen des Golenbischofs
scheint die entstelhmg also angehaftet zu haben, und es ist sehr
merkwürdig, dass sie auf unserem Stempel gerade so widerkehrt,
germanisch ist sie nichl. wenn der besitzer des Stempels dein
vulgärgriechischen aber einen solchen einlluss gewährte, so ist
kaum anzunehmen, dass er mit Ovgcpi'/.a trotzdem die ger-
manische form Wullila widergebeu wollte, nachdem man sich
neuerdings fast übereinstimmend dahin geeint hat, den Goten-
bischof Wullila zu nennen, tritt unser Stempel der ältesten Über-
lieferung Ulfüa wider bestätigend zur seite. ja, es fragt sieb,
ob er nicht überhaupt der Stempel des Gotenbischofs gewesen ist.
Unser Stempelname ist sprachlich gotisch oder wenigstens
ostgermanisch. Oigcpi/.a-lJlfila hätte die reguläre endung des
gotischen nom. singul. da aber die antiken Stempelnamen gewöhn-
lich im genetiv stehn, bemerkt Keil iOvgrpüä ist der regel-
mäfsige genetiv zu Ovgrpi/.äg; ergänzt wird orpgctyig oder
ornuior. aber auch Ovgrpi/.äg weist auf einen gotischen nomi-
nativ Ulfila, nicht auf einen deutschen Wulfilo zurück, bezeugt
ist der uame aulser für den Gotenbischof nur noch für den feld-
1 Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung 36, 357.
2 Schulze ebendort 33, 224 ff. vgl. B. I22f.
150 HENNING
herrn des Honorius, der i. j. 411 Arles belagerte, iü der form
Ov/itpiXäg (bei Olympiodor, Sociales, Sozom.) oder Ulphula, Ulfila
(Prosper Tir. Chr. min. i 466, Frigeridus bei Gregor etc.). dieser
wird niemals OvQcpi).äg, aber auch ebensowenig wie der des
bischofs in den voritalischen quellen Wulfila geschrieben, natür-
lich können andere ebenso geheifsen haben, aber ein mann von
Stellung und ansehen hat einen solchen Stempel wie den unsern
sicher geführt, und das kreuz weist überdies in die christliche
Sphäre, aus der es seit dem zweiten Jahrhundert im Orient und
etwas später auch in Europa bezeugt ist.
Der Stempel als solcher gehört nicht zu der bekannten
abendländischen, sondern zu der mehr orientalischen gattuug.
Schlumberger nennt ihn, worauf ja auch die griechische schrift
deutet, byzantinisch, seinem ganzen habitus nach wird man ihn
kaum für älter als das vierte Jahrhundert halten, aber die byzan-
tinischen Stempel sind noch wenig beachtet und nicht unter-
sucht, die mir bekannt gewordenen bieten für den unseren hin-
reichende analogien. sie sind im allgemeinen ziemlich grofs,
rund oder länglich, gewöhnlich mit einfachem länglichen griff
und erhabenen oder vertieften buchstaben. das Kaiser-Friedrich-
museum besitzt, wie ich höre, einen solchen mit der durch
zwei kreuze getrennten, am rande herumlaufenden erhabenen
inschrift KYPlOY-f KAPllOI + und einem mittleren monogramm.
einen anderen broncestempel in sohlenlorm mit den erhöhteu
namensbuchstaben (pOlBOY aus Membidsch (Hierapolis Bombyce)
hat herr prof. Euting, einen runden broncestempel mit der er-
habenen lateinischen Umschrift BARB.\ER. und einem mittleren C
herr dr Forrer, vgl. auch Forrers Achmim -Panopolis, taf. ix,
tig. 3—6, Kraus Realencyclopädie n, tig. 236. 416 u. a. ein
tier als griff haben diese Stempel nicht, nur ein lamm habe ich
gelegentlich bemerkt, doch werden auch andere tiere schwer-
lich gefehlt haben , da sie noch im fernsten osten sich finden,
die aus China übernommenen, bis in die sassanidische zeit zurück-
reichenden japanischen Stempel — die einzigen über die mir
eine zugängliche Untersuchung bekannt ist1 — verwenden vielfach
tierfiguren aus dem Zodiacus, aber auch andere als griffe, sie
sind auch sonst zu vergleichen mit ihren am rande herum-
laufenden inschriften, den mouogrammärtigen zeichen in der mitte
1 Hans Spörry Das slempelwesen in Japan. Zürich 1901.
EIN ULFILAS-STEMPEL 151
und ihren gleichfalls erhabenen Bchriftzeicbeo, die mit roter oder
schwarzer färbe aul' den zu stempelnden gegenständ abgedrückt
wurden, die vertieften 'byzantinischen' oder rrühcbrisllichen
Stempel wurden m eine weiche masse (eucharislische broti
gedrückt, für einen speciellen cultzweck scheint unser kleiner
anide allerdings nicht gerade zu sprechen.
So haben wir als anhaltspunkte : das > i > k- k selbst, das etwa
dem vierten oder einem etwas späteren Jahrhundert entstammt,
die griechische schrifl mit dem 'vulgärjungen' Charakter, den
gotischen namen des Ulfila, die vulgäre lautgebung desselben, die
gerade so für den namen des bischofs bezeugt ist, und das christ-
liche kreuz, alles dies passt für die lebenszeii. des Gotenbischofs
und aul ihn seihst, unerorlert ist noch das monogramm in der
milie des Stempels, dass vielleicht die entscheidung bringen kann,
leider aber, wie so viele andere, gröfsere Schwierigkeit macht.
Die zeichen selbst sind deutlich, in der mitte steht ein
grofses H, an welches die anderen buchstaben angehängt sind,
oben links im abdruck (lig. 3) ein O, daneben an der anderen
seile wahrscheinlich eine ligatur von T und Y. gegen ein blofses
Y spricht die gröfse des querslriches und ein liegendes hori-
zontales K scheint gleichfalls ausgeschlossen, dagegen wird der
buchstabe in der mitte der zweiten hasta ein aufrechtes K sein,
von den beiden untern ist das zunächst folgende O erst nachträg-
lich an der einen seile ausgesprungen, im übrigen aber gesichert,
das letzte zeichen unten liuks endlich kann ein umgekehrtes P sein
von der form des unmittelbar daneben stehnden der randschrift,
doch wären über die Verwertung solcher umgekehrter zeichen noch
Untersuchungen nötig, die reguläre bleibt die aufrechte Stellung,
sodass auch au ein aufrechtes C gedacht werden kann, das seit den
ersten Jahrhunderten in Inschriften und auf münzen in der gellung
von Z häutig ist. so erhallen wir oben liuks beginnend in der
augeführten reihenfolge um das H herum die lesuug OYTKOP
oder OYTKOC. es läge nah, das letztere aus dem sonstigen
monogramm heraus zu TOYTIKOC zu ergänzen, aber wenn es ein
genetiv sein muss, passt die endung nicht, uud das H, das sicherlich
kein blofses gerüst, sondern der buchstabe ist, bliebe noch unerklärt,
die singulare geltung von C = l~ ' möcht ich nicht herbeirufen.
1 so auf einem .Menasfläschchen von Achmim mit guter schrift ACIOY
für AflOY (Forrer laf. viu 3).
152 HENNING
Doch ist natürlich auch eine andere ordnuug der buch-
staben möglich, von dem genetiv OvqcpÜM ausgehend meint
herr College Keil, dass man dazu jedesfalls eine genetivform zu
suchen habe, 'tatsächlich erscheint eine genetivendung -ov
am Schlüsse des mouogramms, natürlich im Spiegel gelesen : oben
das Y, unten das jetzt etwas ausgebrochene O. jetzt ist das O
im anfange des monogramms frei und man list : O, dann um-
gekehrtes P, das grofse H, nun von oben nach unten TK,
woran sich die schon ausgeschiedene endung OY schliefst, man
list so OPHTKOY. jetzt erkennt man, dass in der rechten
längshasta des H noch ein I zu suchen ist. also steht da OQTqriy.ov
d. i. oqs.ixiv.ov mit der gewöhnlichen späten Schreibung^ stattet.
ÖQeiTiy.ög ist einer, der zu den öqsitcci, den bergbewohnern ge-
hört, also lese ich '(Stempel des) Urfilas, des der bergbewohner'.
ich bin zu dieser lesung gekommen, ohne daran zu denken
(worüber mich allerdings vorher pro f. Henning belehrt hatte), dass
Ulfilas würkungskreis als 'in montibus' durch die älteste Über-
lieferung bezeichnet wird l. aber mir scheint', fährt Keil fort, 'dass
nun Überlieferung und lesung so einander stützen, dass an der
beziehung auf den grofsen Gotenbischof nicht gut gezweifelt
werden kann, das kreuz auf dem Stempel tritt bestätigend hinzu,
dass das adjectiv in den Wörterbüchern fehlt, kann natürlich nicht
befremden, die adjectivische bezeichnung für den würkungskreis
eines bischofs ist solenn'.
Vielleicht könnte noch jemand, des umstaudes eingedenk,
dass der Stempel auf Korfu erworben ist, KOPKYPHOY für
v.oqv.vqcüov herauslesen wollen, aber dass das monogramm hinten
in der mitte der zweiten hasta begann, ist unwahrscheinlich, die
ligatur TY müste überdies ein blofses Y mit einem übergrofseu
zierstrich sein, den das Y des namens nicht hat. aufserdem
wäre das erst später folgende O doppelt, die vorhergeheuden
P und K nur einfach gesetzt und die zeichen sprängen nach
den ersten buchstaben unnötig hin und her.
Keils erklärung 6or]Tr/.ov~ findet, wie mir scheint, noch eine
weitere stütze und die allgemeine angäbe des Auxentius 'in monti-
bus' einen bestimmteren hintergrund durch eine lat. iüschrift
vom jähre 256 n. Chr.: [burgum constitui iussit] unfde latrunculos
1 nach Auxentius. dass Ulfilas bischof von Dorostorum gewesen (Pauls
Orundriss2 n s. 7 anm. 2), ist unbezeugt, vgl. auch Vogt Anz. xxvm 213.
EIN ULFILAS-STEMPEL 15^
ojbservarent [projpter tuteiam [c]<utre(n)num et [cjivium Monta-
nmrium aus Kullovica (Ferdinandovo) am nordabhange des Balkan
zwischen Sofia und Lom am obem laufe des Ogost1, Kutlovica
war also das castrum der noch 3<) km. weiter nordöstlich nach-
weisbaren regio Monlanensium , und dieser technischen bezeicb-
DUng halber wird man hier, wo wol schon seit dem Gotensiege
des Claudius a. 269 gotische colonisten angesiedeil waren (\l»n-
maszewski s. 197), auch eher als in dem 'kleingolischen' Niko-
j)olis (Jord. 51) die heimat des Ulfilas zu suchen haben, öorii/.oi
aber wäre nichts als die griechische Übersetzung des officiellen
römischen Montanensis.
Es fragt sich noch, wie der Stempel nach Korfu gekommen
Bein kann, zufalle sind unberechenbar und Korfu war ein Stapel-
platz mittelalterlichen handeis. aber andrerseits möchte man bei
einem für den nichlkenner wertlosen stück die zufällige herkunlt
aus der ferne nicht ohne not in anspruch nehmen, in dem
gegenüberliegenden Italien ist er schwerlich angefertigt, denn die
dortigen Goten würden sich wol der lateinischen schrift und über-
dies nicht der vulgärgriechischen lautgebung bedient haben, der
Balkanhalbinsel oder dem Orient wird er also entstammen und
dann kann zeillich auch nur das 4 oder 5 Jahrhundert in frage
kommen, dass der Stempel später zufällig aus Müsien nach Korfu
verschleppt wurde, ist nicht gerade wahrscheinlich, ihn haben
wol würkliche Gotenverbindungen dahin gebracht, aber an die
heerzüge des Alarich ist schwerlich zu denken, scheinen die
Westgoten doch ganz unbeteiligt an der forlführung der ultila-
nischen Überlieferungen geblieben zu sein, diese sind vielmehr
den Ostgoten, vor allem des Theodorich zugefallen, und das hat
seine geographischen und historischen gründe, als der junge
konigssohn aus Konstantinopel zu seinen Goten zurückkehrte,
hatten diese gleichfalls in Müsien, der heimat des Ulfilas, ihre
sitze, mit Theodorich setzte sich dann die gotische volksmasse
in bewegung, an verschiedenen stellen Wohnsitze suchend, in
Macedonien und auch in Epirus. seine expedition nach Epirus
und die ansiedlungsversuche daselbst, wahrscheinlich i.j. 479/80
beschreibt eingehend Malchus2. in Epirus hatte er einen in
1 die ergänzungen und die inschrift selbst nach vDomaszewski Neue
Heidelberger Jahrbücher m (1893) s. 195 f.
2 Historici Graeci minores i s. 411 ff, vgl. Wietersheim-Dahn u 3:5111.
154 HENNING EIN ULF1LAS-STEMPEL
byzantinischen dienslen sehr begütert gewordenen vervvanten,
wo! aus dem geschlechte der Amaler, den Sidimundus, mit dem
er gemeinsame sache zu machen und Epirus an sich zu bringen
wünscht. Sidimund nimmt die Goten auf, wobei er die küsteu-
stadt Epidamnus (Dyrrhachium) für sie möglichst räumen lässt.
auch der bruder und die multer des Theodorich mit einem grofsen
gotischen tross stofsen hier zu ihm, werden aber von dem byzan-
tinischen beere besiegt und eine grolse anzabl gefangen ge-
nommen. Epirus muss er aufgeben und erhält, nachdem er 483
wider zur macht gelangt, vom kaiser das alte Niedermösien an-
gewiesen, hier wird Novae an der Donau nördlich Nikopolis (Zeuss
s. 426 f) sein hauptsitz, bis er offenbar mit seiner ganzen dispo-
nibeln macht nach Italien aufbricht, so ist er der erbe der alten
ulfilanischen traditionen geworden, von denen auf der Balkan-
halbinsel keine handschriftlichen reste erhalten sind K hierzu wird
auch die für den gottesdienst in lectionen eingeteilte gotische
bibel gehört haben, deren Codex Argenteus, wie man annimmt, in
Unteritalien unter seiner herrschaft geschrieben ist. er hat
diese traditionen gewis schon von anfang au für seine Goten
beansprucht, zu dem literarischen besitz mag aufser den Hand-
schriften auch der Stempel des bischofs gehört haben, der sehr
gut während des aufeuthalles und der wechselfälle in Epirus da-
selbst zurückgeblieben, aber auch von Koustantiuopel auf der alten
via Egnatia oder aus Unteritalien nach Korfu gelangt sein kann.
1 über die auf Tomi bezüglichen nachrichten des Walal'rid Strabo,
welche Tomaschek anzweifelte, handelt zuletzt RLoewe Die reste der Ger-
manen am Schwarzen meer s. 253 f.
Strafsburg. R. HENNING.
' D
WALTHERIANA.
1) Her Wicman. Lachm. 18, 1.
Der grobe spruch gegen einen concurreuten in Walthers
kunst ist schon von mehreren seiten Walthern abgesprochen
worden, zuletzt von Saran ßeitr. 27, 203 f. seine metrischen
gründe will ich nicht diskutieren; er hat sie mehr als neben-
sache vorgebracht, und man könnte ihnen gegenüberstellen, dass
doch die bildliche manier und vor allem der schluss des Spruchs
Walthern recht ähnlich sieht, mehr besagt der gruud, dass von
FISCHER WALTHER1ANA 155
W. in dritter person geredet wird, die von Wilmanns dafQr
ebene motifierung will mir allerdings auch nicht einleuchten,
und ein zweiter fall, wo \Y. su von sich geredet hatte, läset sich
niclii anfuhren, aber es ist doch gar kein zweifei, dass die
stroplic direct auf eine gegnerische antwortet, und am alier-
wahrscheinlichsten ist da widerum — ich glaube, man hat damit
uocli ülters zu rechnen — , ilass die replik dem angriff direcl
gefolgt ist; diese annähme würde nebenbei auch leichte metrische
mlngel erklären, da ist es denn sehr wol mOglich, dass der
angriff gegen W. in einer form gebalten war, die die rede, in
dritter person herausforderte : es dürfte ja nur ein- oder mehr-
mals von /«'/• Wallher ironisch-höflich die rede gewesen sein,
die Strophe steht in AC, ist also nicht schlecht bezeugt ' ; auch
die abweichungen der texte sind nicht erheblicher als anderswo.
Aber gegen die weitere bemerk ung Sarans inuss ich mich
wenden : "auch darf man billig bezweifeln, ob sich W. den derben
vergleich von v. 10 gestattet halle'-, ich weifs nicht, ob jener
cynismus in der feder eines andern Sängers wahrscheinlicher ist
als in der VV.s; ein cultus der cc7cÖQQt]rcc ist doch überhaupt nur in
gewissen gattungen unserer mhd. lyrik zu linden, aufserhalb deren
aber ist ein derartige.- wort bei einem berühmten dichter kein
jota unwahrscheinlicher als bei einem obscureu, der ja leicht
denken konnte : quod licet Jovi usw. der cynismus ist doch
auch sehr harmlos, in männergesellschaft noch heute geduldet,
es kommt aber dazu, dass wir hier offenbar eine anspielnng auf
etwas allgemein bekanntes vor uns haben, noch heute heilst es
schwäbisch3 : das reimt sich (passt) wie arsch und Friderich.
diese wendung ist aber schon alter, die Zimmerische Chronik1
ii 40S erzählt : Bei unsem zeiten war ain procurator am hof-
gericht . . . der wolt ainsmals seins gegentails . . . procurator die
argumenta . . . ablainen und verklainem, darumb spracht er
unverdechtlichen uf sein guet schwarzweldisch : 'Es reimpt sich
meins gegenthails furbringen gleich als salzmessen und ich waiss
nit was', damit wolt er ain grobs wort 4 haben laufen lassen, aber
1 ed. Wilmanns- 19 : die Sammlungen AC ' und AC2 enthielten noch
keine nachweislich unechten Strophen.
- rgl. Pfeifler Freie Forschung 357 f.
3 s. mein Schwäbisches Wörterbuch i 328.
4 offenbar arschlecken.
156 FISCHER
er beschul es dannost mit ainer offengabel. Es wardt sein %col
gelacht, denn es wolt sich gar nit reimen sein spruchwort . . . so
wenig, als ainest graf Heinrich von Hardeck . . . der wolt vor
kaiser Friderrichen dem dritten ein schöne redt thon, under anderm
aber Hess er sich sein gegenlhail also ufbringen, das er unverholen
sagt : 'Es reimpt sich das gar nit, so wenig als ars und Fri-
derrich'. unser dichter bat den witz der vergleichung mit dem
(voll-)mond hinzugetan, aber vorgefunden bat er eine solche
redensart gewis, und war damit doppelt entschuldigt, wenn er
sie verwante1. sie passte auch besonders gut in ein gedieht,
wo vom versemachen die rede ist. denn sie gebt ganz deutlich
von der Wahrnehmung aus, dass es auf ars keinen reim gibt,
wenigstens keinen natürlichen, bequem liegenden; das volk achtet
auf solche dinge, ich habe das für das wort bnndschuh nach-
gewiesen2.
Ich bin aber damit noch nicht zu ende, wer ist her Wic-
man, wie er in A heifst, her Volcnant nach C? man kennt
keinen minnesänger oder überhaupt dichter solchen namens, das
würde nicht hindern, dass es einen gegeben haben könnte, denn
beide namen sind um Wallhers zeit bezeugt, das auseinander-
gehn der handschriften könnte mit Wilmanns so erklärt werden,
dass der spruch einmal gegen einen Volcnant (oder, wenn C recht
hat, Wicman) henutzt wurde, oder was er auch zulässt, so, dass
eine form aus der andern verlesen wäre, zumal wenn mau etwa
ein Wicnant zu gründe legte, was es auch gibt3, aber es ist
noch eins möglich : beide namen oder der ursprüngliche davon
kann ein deckname für einen sein, den der dichter uicht direct
nennen oder dessen namen er humoristisch entstellen wollte,
wie, wenn der mann Wolfram geheißen hätte? ich gesteh
gerne, es ist ein einfall. aber dass man nichts positives dagegen
sagen kann, muss ich doch behaupten, was Walther über seinen
gegner sagt, ist sehr allgemein und passt auf jeden; der tou, in
dem die polemik zwischen Wolfram und Gottfried geführt ist, ist
nicht viel höflicher; den ars konnte gerade Wolfram kaum per-
horrescieren; dass Walther und er ihre kleinen Wortgefechte
1 Schröder citiert mir zwei verse eines couplets oder gassenhauers, ohne
ihre herkunft bestimmen zu können : lPolz himmel, arsch und wölken —
wie reimt sich das zusarnrnenP - Schwab. Wörterbuch i 1525.
[3 Klage 778 Wicnant hat D die Variante Volchnant. E. S.]
WALTHERIANA 157
gehabt habeo, wird aucb der zugeben, dem Burdachs Vermutungen1
in manchem zu weit gehn; und diese plänkeleien sind doch,
zumal wenn wir aonehmen, dass die gegner einandei io persoo
gegenüberstanden, gewis nicht tragisch zu nehmen, «In- zwischen
Wolfram und Wallher jedesfalls viel weniger als die gegen <.i»ii-
Fried. von positiven momenten aber mOcht ich doch ein paar
anführen, die namen Wictnan und Volcnant bezeichnen beide
einen kriegsmann; das passt bowoI zu Wolfram als zu den stolzen
hehlen auf der Wartburg, der iegeslieher wul ein kempfe wcere
(20, 11 I)-. dass das waz obe her Walther krache usw. (18, 61)
au das bekannte, von Wolfram und Gottfried herüber und hinüber
diene bild vom hasen (als gegenteil) gemahnt, ist wol zufällig,
denn das kriechen wird aus dem gegnerischen gediente genommen
sein, aber der leitehunt (IS, 14), der nach wdne jaget, gemahnt doch
sehr an jenen hasen hei Gottfried (Mafsm. 117, 3811); vgl. 18, 13
sfa märet er der weite spil mit G. 118, 3911' dane gdt niht (juotes
inuotes van, dane lit niht herzelustes an, ir rede ist niht also
<jevar, daz edele herze iht lache dar. doch genug; für einen
zwingenden beweis soll das nicht gelten; ex ingenio suo quisque
demal »el addat ßdem.
2) Ouch hiez der fürste durch der gemden hulde
Die malhen von den stellen leeren. Laclun. 25, 35 1.
so bietet C, welches diesen Spruch allein hat. man hat daran
anstofs genommen und ändern wollen. Haupt zu Erec 7122 las
die stelle von den malhen leeren, Pfeiffer-Bartsch die malhen sam
den stellen laren, Wilmanus1 die malhen und die stelle leeren.
aber das alles ist nicht nur nicht überliefert, sondern Wilm.a
sagt richtig : 'seltsam bleibt die erwahnuug der reisetascheu
neben den stallen', und er sowie Paul haben sich begnügt mit
einem 'was überliefert ist, gibt keinen sinn', 'unverständlich',
andere haben anderes vermutet. Schonbach Zs. 39, 346 list von
den setelen : der inhalt der satteltaschen sei zuletzt noch an-
gegriffen worden; ob mau aber wol in ihnen, wenn man nicht
unterwegs war. viel gehl und geldeswert aufbewahrt hat? Bech
Germ. 32, 1171V und A Wallner Zs. 39, 429 f nehmen den plural
1 Deutsche rundschau 113, 244 ff.
2 natürlich kann man sich auch an die graphische und lautliche ähn-
lichkeit mit Wolf'ravi halten.
158 FISCHER
von stelle, nicht von stal an; jener denkt an das gesteil, auf dem
der dem pferd abgenommene sattel ruht, wogegen dasselbe wie
gegen Schönbach zu sagen wäre; dieser an ein repositorium, auf
dem die malhen aufbewahrt worden seien.
Das alles stimmt schlecht zum Zusammenhang, es ist 29 — 34
erzählt, man habe im grösten ilberfluss gegeben, silber und riche
\cdt. darauf folgen unsere zwei verse und fernerhin : ors, als ob
ez lember waren, vil maneger dan gefüeret hdt. das ouch in z. 35
hat keinen guten sinn, wenn mit Schönbach und Wallner von
weiteren geldgaben oder ähnlichem die rede sein soll, denn das
ist schon vorher gesagt; vortrefflich aber passt es, wenn damit
auf das hergeben von pferden übergegangen werden soll : z. 36
muss ihrem ganzen inhalt nach sich darauf beziehen.
Schon Lachmaun mag das gefühlt haben, als er schrieb :
'die meinung wird sein die stelle von den märhen leeren'. Wil-
maoos hat dagegen erinnert, das sei eine änderung des über-
lieferten; aber ich kann auch märhen oder marhen nicht zugeben:
letzteres nicht, weil marc ausschliefslich ein streitross ist, ersteres
nicht, weil die erwähnung von Stuten im sinne des mittelalters
etwas verächtliches gehabt hätte und Walther nicht gehindert
war, rossen oder pferden zu schreiben, vielmehr lasse ich die
lesart zu recht bestehn und versteh unter den malhen die ein-
zelnen 'stände' des Stalles, das passt genau her und würkt mit
dem leeren zusammen höchst concret, wie wirs bei Walther ge-
wohnt sind, dass die mittelalterlichen stalle abgeteilte stände
gehabt haben müssen, ist auch dann klar, wenn sie, was ja wahr-
scheinlich ist, nirgends erwähnt sein sollten1; denn die pferde
waren damals gewis nicht minder geneigt als jetzt, sich zu beifsen
und zu schlagen.
Kann malhe diese bedeutung haben? am meisten über das
wort gibt Zarnckes Narrenschiff s. 364. die dort angeführten
lateinischen synonyma bezeichnen alle einen gröfsern sack 2 oder
dgl. für irgend welchen inhalt, das darunter erscheinende zaberna
meint eine kiste oder dgl. eine elymologie des wortes ist, so
viel ich sehe, nie versucht worden; aber sie sei welche sie wolle:
wenn aus pyxis 'buchsbaumholz, büchschen' ein engl, box wurde,
das neben allem möglichen andern auch einen reisekoffer und
1 bei Pfeiffer und bei Jahns findet sich nichts.
2 vgl. 'Sackgasse'.
WALTHERIANA L59
•■inen pferdestand im Blall bedeutet, so ist dasselbe bei malhe
auch möglich, auch engl, crib vereinigt ganz ünnliche bedeu-
luogeo. dass aber malhe in dieser bedeulung nirgends sonsl
nachzuweisen ist, wird jeder rerstehn; es würde niemand wun-
dern, «renn ein worl für fliesen begriff aus alter zeit Oberhaupt
nicht auf uns gekommen wäre, ilie eonstruclion von den stellen
braucht ja, um niemand zu bindern, blofs prägnant genommen
zu werden 'aus den stallen heran-'.
Tübingen, 20 februar 1907. HERMANN FISCHER.
ARO LS KR BRUCHSTÜCK
VOM ERSTEN BUCHE DES PASSIONALS.
Beim ordnen waldeckischer archivalien fand mein verehrter
freund G Könnecke na. ein stattliches blalt von einer hs. des Passio-
nals, das im klosier Hei ich ao. 1500 zum Umschlag einer rech nun g
verwant worden ist. das blalt ist 340 mm. hoch, 220 mm. breit,
der zweispaltig beschriebene räum entsprechend 270x174 mm.;
die einzelspalte 79 mm. breit, die 38 Zeilenanfänge slehn genau
untereinander und beginnen mit rot durchstrichener minuskel; am
beginne jeder columne steht eine majuskel mit roter arabeske. es
kommt ein capitelanfang (Hahn 180, 42) mit rotblauer initiale vor,
die durch fünf Zeilen geht, ein kleinerer blauer inilialbuchstabe
eröffnet einen abschnitt (181, 32). die hs. gehört der ersten hdlfte
des 14 jh.s an. um die Zugehörigkeit weiterer fragmente zu be-
stimmen, heb ich noch hervor, dass die vocale u, il, uo, üe, in
gleichmäßig als u geschrieben sind, wobei das kleine o mit feinerem
federzug nachträglich angebracht scheint.
Das angebot von neuen fragmenten des Passionais {und der
Weltchronik !) gehört zu den schrecken des redacteurs : zumeist frei-
lich handelt es sich dabei um bruchslücke des von Köpke heraus-
gegebenen dritten teils, wahrend die Überlieferung des ersten und
zweiten sehr viel spärlicher ist. hier haben wir den schluss des
Petrus und den anfang des Paulus aus dem ersten teile : Hahn
179,80 — 181,47; immerhin genügt die mitleilung der lesarlen,
wobei ich vom orthographischen soviel gebe als mir zur Charak-
teristik der hs. wünschenswert scheint, textkritisch wichtige Varianten
druck ich gesperrt.
160 SCHRÖDER RRUCHSTÜCK DES PASSIONALS
179,80 Da hin v. 81 vnd möge in follem friede
wesen 82 vil fehlt 83 volg immer 84 was immer
85 irhangen S6 widirwart 87 waren 88 hoübit 90 güder
lüde 91 waren aller froüden 92 yre weinende
93 vnsir irbot (so meist) 94 zu eime
180, 1 myde he 2 hatte immer 3 offenlich 5 vnde
fehlt henden schapele 6 vnd immer 8 lieplich en ir leit
wart 11 büchstaben 12 durch seh rieben 13 froüden
14 dise worte der 15 lieber herre 16 allez immer
17 an nicht 18 ane genügen wolle 19 danken liebir
20 mime 22 daz 23 myde immer 24 vnd leben 25 eme
stets froflden 30 godis giouben haden 31 raden 32 weg
34 in godis n. 36 wörtzten en 38 he (so und her abwechselnd)
werdikeit 39 grap 40 midewist vor 42 keine Überschrift
42 faz 43 vsz dem gnaden 44 eme stets 45 er were
fehlt 46 he an tzuifel 47 want en selber 48 he
49 vfz scheiden 50 vngloüben 51 an en 52 aptgode
53 bode 54 eme hatte 55 konneschafft 58 mit meister-
lichir 60 blozlich 61 vol fehlt 62 vff den 64 an
65 miteiehen] meinde iehende 66 gap da sine 67 beging
»charpen 68 dem güden 69 dem 70 da xpus gemartelet
74 zu eime boden godis 75 gebodes 76 daz w. künde] hat
daz wol 77 sichz 78 he wart vmme 80 ee dau he
S2 dem 83 eine 85 zu samene 86 gnüg 87 vorthe sie
züslüg 88 ygelicher virbarg 89 want en was noch zu starg
181, 1 hatten 2 dem 3 dar an v. 5 durch got
6 edel hüder 7 wüder 8 eme sin blintheit 9 gloübigen
10 her vmb fpflrte 11 wol fehlt 12 wise fehlt 13 nüwiu
14 giouben v. 15 virbrechin vnd beroüben 16 sin betrübete
17 he daz oüch vbete 18 he 20 swo eme 21 do hin
hüb her 22 her üff 24 iz odir 25 he 27 gefenkenüsse
28 biz 30 si] yn 31 gelouben fehlt 32 Paulus godis
33 harte spotis 34 mit] an treip 35 stede bleip v. 36
als he wol irtzoügete 37 her die güden 38 gloüben 39 zu
eimale vil her 40 he 42 verlieren 43 widir weren
44 began en 45 he ging zu 46 sagete
Göttingen.
EDWARD SCHRÖDER,
EINE VAGANTENLIEDERSAMMLUNG
DES ! I JAHRHUNDERTS
IN DER SCHL0SSBJBL10THEK ZI HEUDRINGEN (KR. ARNSBERG).
Als ich im vergangenen jähre dank drin freundlichen e»J-
gegenkommen des herrn grafen von Fürstenberg und seiner kunst-
sinnigen gemahlin die handschriftenschätze der Schlossbibliothek :n
Herdringen für du- deutsche commission der Berliner akademie de*
Wissenschaften inventarisieren durflet stieß ich in einer miscellan-
handschrift des 14 Jahrhunderts avf eine 20 nnmmern zählende
Sammlung von vaganlenliedern. der glückliche fund muste mich
umsomehr überraschen, als in dem gedruckten kataloge der biblio-
thek (h'üln 1895J der gedichte Leine erwähnung geschieht, vielmehr
nur '.\ gröfsere stücke des codex titelmäfsig aufgeführt weiden.
es ist abermals ein benedictinerkloster, dem wir die neue vaganten-
lieder-auslese zu verdanken Italien : SJacob zu Lüttich. manche
dieses Stifts hohen wahrscheinlich den ganzen band zusammen-
geschrieben, sicher gehören <lie 13 und 1-1 läge dorthin, denn
von derselben hand, welche «He stücke dieser beiden lagen auf ge-
ebnet und zahlreiche andere nummein mit Überschriften ver-
sehen hat, ist auf der rückseite des 1, nicht gezählten blatte» der
besitzvermerk von SJacob eingetragen : Liber mouaslerii saneti
incolti leodiensis. auch mitten im bände (bl. i.xviv kehrt diese
notiz noch einmal wieder, unter dem ersten vermerk steht in roter
schrift die alte Signatur : II. 104; auf dem oberen runde des 1 ge-
zählten blatls ist sie widerholt und hinzugefügt : A x 60. auj der
mneuseite des ziemlich defecten pergament Umschlags ist die Hand-
schrift im 17 oder IS Jahrhundert N. l\'-\ in .Imisiis signiert.
in der bibliolhek des l'ilrstenb ergischen Schlosses Adolfsburg [kr.
Olpe), von wo die Handschriften erst vor wenigen jähren noch dem
prächtigen Herdringen überführt siml (während die grofse druck-
schriflensammlung noch auf der Adolfsburg aufbewahrt wird), tmg
das manuscript die nummer Ms. 51. fast über den ganzen rücken
des bandes ist ein langer wei/ser zelte! geklebt mit der aufschrift :
Ms. 51. Varia. Tbomae Anglici Psalterium. Expositio Bibliac.
Egidii versus de Urinis. diese kurze Inhaltsangabe ist auch in
den gedruckten kalalog übergegangen, in dem der band unter
nr. 57 verzeichnet ist.
Z. F. D. A. NLIX. N. F. XXX Vli. 11
162 BUMER
Die erhaltung der Handschrift lässt viel zu (ethischen übrig,
das papier hat unter dem augenscheinlich sehr fleifsigen gebrauche
und dazu noch unter feuchtigkeit slaik gelitten, die heftung ist
so schadhaft geworden, dass die meisten lagen lose in dem bände
liegen, von mehreren leeren blättern sind grofse teile abgerissen»
aber auch ein beschriebenes (124) ist von einer solchen beschädignng
betroffen. 4 blätter sind ganz ausgerissen, doch war lxlvi sicher,
cxlv— cxLvii wahrscheinlich leer.
Im bände finden sich zwei alle foliierungen:
1) auf der Vorderseite der blätter mit arabischen zahlen, bis
133 reichend (das vorderste blatt nicht mitgezählt);
2) auf der rückseite der bll. mit römischen zahlen, mit dem
vierten von 4 leeren bll. zwischen SO und 52 (von denen nur
das erste [81] foliiert ist) beginnend, bis 133 (= lii) neben der
ersten herlaufend und bis clv reichend, dazu kommen am schluss
noch 2 nicht gezählte bll.
Ich gebe bis bl. 133 die erste foliierung mit arabischen, von
da ab die zweite mit römischen zahlen wider.
Die Handschrift besteht aus 23 lagen, die sich auf 9 ver-
schiedene cursivhände folgendermafsen verteilen:
1) läge 1—7 (bl. 1 — 80, [81, Sl1" 3 leer]); 2) läge 8—10
(bl. 82—103); 3) läge 11 — 12 (bl. 104—124 [125 leer]); 4) läge
13. 14 (bl. 126 [= xlv] — lxvi); 5) läge 15 (6/. lxvh — lxxviii);
6) läge 16 (bl. lxxix — lxxxv); 1) läge 17 (bl. lxxxvi — l\l\t, [lxlvv
leer, lxlvi ausgerissen, lxlvii leer]); 8) läge 18 — 22 (bl. lxlmii
— cliii); 9) läge 23 (bl. cliv, clv und 2 ungez. bll., von denen
jedoch cliv1, die rückseite des 1 ungez. und das ganze 2 ungez.
blatt bis auf eine kleine notiz leer).
Während die 8 ersten hünde in die 2 hälfte des 14 Jahr-
hunderts zu setzen sind, gehört die 9, die sich auch durch aufser-
ordent/iche ßüchtigkeit und Sorglosigkeit von den übrigen abhebt,
erst der mitte 'des 15 jahrh. an. das von ihr niedergeschriebene
niederländische stück ist das einzige nicht lateinische in dem bände,
abgesehen von einer ganz kurzen, gleichfalls nl. und gleichfalls
von dem letzten [schreiber aufgezeichneten notiz auf der Vorder-
seite des 1 nicht gez. Mattes, die vagantenlieder verdanken wir der
8 hand. sie ist steil, kräftig, in der gröfse etwas wechselnd, im
allgemeinen aber ziemlich sorgfältig und gut lesbar.
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLUNG IC
Die höhe des bände* beträgt '2 2, die breite l."> cm', die gröfu
des schriftfeldes wechselt bei den einzelnen stücken beträchtlich, bei
den vagantenliedern bewegt sich seine hohe zwischen 17 und 2<>,
seine breite zwischen 12 und I5ctn. die Zeilenzahl dei seifen
variiert hier von 28 6m 42. die einzelnen verse find um zu un-
fang des umfangreichsten gedichts über einige seiten hin abgesetzt,
gewöhnlich fafst die zeile 2, bei geringerer ausdehnung auch '■>. ja
seihst 4, meist durch einen schrägen strich von einander abgetrennte
verse. am Schlüsse der Zeilen p/legt ein punct zu stehn. bei
einigen nummem ist der erste buchstabe jedes verses rot gestrichelt,
öfter aber nur der jeder zeile. der dann in der regel als majuskel
erscheint. Strophenanfänge situ! bei den meisten liedern durch ein
rot gestricheltes paragraphenzeichen markiert, die Überschriften
sind entweder rot unterstrichen oder rot eingefasst.
Den inhalt des band/es bildet ein buntes gemisch von grofsen
und kleinen stücken der verschiedensten ort. auf der Vorderseite
iles 1 nicht gez. blatts stehn aufser der erwähnten nl. notiz
:; lateinische hexameter über die knechtschajt (servilium) und eine
schreibübung mit dem ersten der hexameter. die eigentliche hand-
schrift setzt sich aus folgenden stücken zusammen:
\j Thomas Anglicus1, Expositio psalterii.
I nt er den oben mitgeteilten besitzvermerk von S Jacob hat
dieselbe hand (4) geschrieben : Thomas anglicus [folg. wort ver-
wischt] psalterii, sed nou est nisi usque ad xxwu psalmum.
Auf dem oberen rande von bl. lr hat sie vermerkt:
Quere post 2. folium expositio Dem psalierii.
Beginn des textes (einleitung) von hand 1 bl. lr:
Nota quoniam homo non viilet viam per quam debei redire
qua vix superveuiens viam aperit . . .
2 ) Sermon es vari i. (zweispaltig.)
Auf. bl. 82r : Sermo de purificatioue beale marie virginis.
[zugefügt von hand 4:] Et plures alii sermones. teuet xxu folia.
Luce ii Cum inducereot puenim ihesum parentes eius et t'acerent
secuudum consuetudinem leiiis . . .
3) Expositio quaedam supra totam bibliam
Anf. bl. 104*: [Überschrift von hand 4 wie angeführt.]
DE prologo in geoesi q Prologus est proloqutio . . .
1 = Thomas Jorsüu {de Jort) oder ThWalleruis {Waleyt\\ vgl.
Dictionary uf nat. biography s. >•. Joyz h. WaUensit.
11"
164
BÖMER
4) Versus Egidii de urinis. mit kurzen randbemerkungen
und angehängter gfosse zu den ersten 100 »o.1. (verse abgesetzt.)
An f. bl. 126 r : [Überschrift von hand 4 wie angeführt.]
lciiur urina quoniam sit reoibus una . . .
Auf. der glosse bl. 130y [= xlix]. [Überschrift von hand 4]:
glossa super versibus egidii de urinis usque ad C. versum.
]On intellecti nulla est curatio morbi propositio est anti-
ciaudiani . . .
5) De grammatica.
Anf. bl. lix1 : De gramatica tenet sex lolia.
Orthograpbia est una pars principalis gramatiche . . .
6) Di versa medicamina. (zweispaltig.)
Anf. bl. Lxvra : Diversa medicamina
Si hu mores fervidi habundaul . . .
7) Expositio passionis Ihesu Christi. Item sermo
in adventu domini. Item expositio epistolae dominica
in passione. Item epistolae in ramis palmarum. Item
expositio epistolae in die sanctae pascae. (zweispaltig.)
Anf. Lxvnra : [Überschrift von hand 4, wie angeführt.]
principes litus et vespasianus . . .
8) Quaedam de regimine nominalivi et genitivi.
Anf. lxxix1 : [Überschrift von hand 4, wie angeführt.]
Videamus quomodo una dictio regitur ab alia . . .
9) Godefridus de Tenis-. (unvollständig.)
V. 1 — 14 mit interlinearglossen. zu an fang und ende des
sliicks am rande commenlar in kleinerer schrift, von derselben hand.
(verse abgesetzt.)
Anf. Lxxxr [Überschrift von hand 4]: Godefridus de teuis
sed non est completus.
Clirisle regis qui nos in nie sensus rege quinos.
10) Lebensregeln in versen. (zweispaltig, verse abgesetzt.)
Anf. Lxxxira;
Dogmala legitima vir mente sagax legit yma.
48 verse.
1 vgl. zb. Schum Beschreib, verz. der A m ploni anischen hss.-sammiung
zu Erfurt (1837), fol. nr 238 (1Ü) //. od. nr 62b (9); zu den glossen :
Verz. der tat. h$s. d. kgl. bibl. zu Berlin H nr 907 (2).
2 = Godefridus de At/ierüs, Carmen cui Omne punctum inscribilur.
vgl. Schum, qu. nr 49 (2i.
HERDRINGER VAGANTENLIKDKIISA.MMU X. 165
II) Cisioja » us, mit interlinearglossen.
Auf. i.xxxi'1':
circum ianui phaoia a?a li i
cisio ianus epi. s. vendicat oct. feli marcel
2 1 verse.
1 2) S chül errege In. [dreispaltig ; verse abgesetzt. )
\n/. i\wiy'1 [Überschrift von hand -\\: Rigmata.
Armes lili peclora doclrinarum iculis
1 1 1 oierxeilige ttrophen.
13.) Catonis Disticha in rythmische verse umgesetzt.
{dreispaltig; verse abgesetzt.)
An f. i.xxxiiv : llic iocipit chalo rigmale dalus
Ciini animadverterem quam plurimos errare.
130 rierzeilige Strophen.
1 h Hymnus auf S jV icolaus.
Vgl. Chevalier Repertorium hymnologicum i 254.
(bl. i.xxxvv vierspaltiij : verse abgesetzt.)
Auf. ixxxvva: de sancto oicholao
De pns miraculis . . .
1 1 Strophen.
15) Hymnus auf S Katharina.
Vgl. Chevalier Rep. hymn. u 15t>.
(verse abgesetzt.)
Auf. i.xxxvvl' [Überschrift von hand 1]: Item de saocta Kaiherina
Nove laudis studio . . .
S Strophen.
16) Rigmata de figuris grammaticae. (verse abgesetzt.)
Anf. lxxxvvc : [Überschrift von hand 4, wie angeführt.]
Methaplasmus dicitur liec prima flgura
108 verse.
17) De f leubot homiaK (verse abgesetzt. |
Anf. i.xxxvir; De fleunolhomia
Lumina clarilicat sincerat tleubolhomia.
44 verse.
IS) De septem horis canonicis.
Anf. lxxxvii1 ; De septem horis Canonicis
i Epties in die laudem dixi tibi . . .
* = ftebutomia i.e. venae seclione.
166 BÖMER
19) De quibusdam dictionibns utrum supra paennlti-
mam aut siipra antepaenultima m principalem accen-
tum debeant habere.
Anf. lxlviii1 : [Überschrift von hand 4, wie angeführt.)
Sapientis est desidie non succumbere marcessenti . . .
2<>) De monacho infortunato.
Auf. cir : De Monacho iulorlunato
De cuiusdam clausiralis vita et moribus fratres Karissimi
paiumper disserere cupiens . . .
(21-24.27— 38) Vagantenlieder, 1 teil, (nr 1—4. 5-15.)
Von 2 prosastücken (25. 26) unterbrochen.
21 (1). De vestium transformatione.
{In den ersten 10 Zeilen keine bestimmte versverteilung ; von
z. 11 an 3 verse in der zeile; zeilenanf. in rot gestr. majuskeln.)
Anf. eil* : De vestium transformatione.
q In nova fer[!j animus mutatas dicere formas Corpora.
dij ceptis | uam vos mutastis et illas
aspirate meis. Ego dixi dij estis | que dicenda sunt in festis,
quare prelermitterem?
78 Zeilen.
22 (2). Comoedia goliardorum.
(verse nicht abges.; strophenanf. rot gestr.)
Anf. ciur r : Comedia goliardorum.
Talis versus facio quäle viuum bibo | nicbil possum lacere
nisi sumpto cibo | nichil valet penitus.
7 zeilen.
23 (3). lnvectio contra sacerdotes.
(4 verse in d. z.; zeilenanf. rot gestr.)
Anf. cuiir : lnvectio contra sacerdotes.
q Sacerdotes mementote | nichil maius sacerdote | qui dotatus
sacra dote | dei servit et devote.
14 zeilen.
24 (4). lnvectio contra praelatos.
(2 verse in d. z.; zeilenanf. rot gestr.; vor jed. str. para-
graphenzeichen.)
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLl NG
Anf. «im * : q luveclio contra prelatos.
q Estuaus iotriusecus ir<« vehemeoli m amaritudine loquar
mee meoli.
Hier zunächst <i zeilen,
Daruntei : Kequire lale sign um io Polio sequeute : • s. stück 2
25J Oratio Matnelii* archiepiscopi Rothomagensit ail
b ea ta in v ii g i » t m.
Anf. ciiii T : Oratio mamelij [1] archiepiscopi rothomageusis
ad bealam virgioem mariam.
Siogularis meriti sola sine exemplo | mater t-t virgo sancta
maria . . .
26) Virtutes speculi ardentis facti ex pura materia
Lnnae et Met c u r i i.
Auf. r.v* : Incipiuot virtutes >|)«'culi ardentis . . .
27 (Forts, von 24 C4)).
Auf. cvT;q Ail lerrorem omnium verum locuturus | nichil
esl quod limeara valde sum securus.
Noch l'.t zeilen.
28 (ö). Tractatus de partu beatae virginis.
(3 verse in <i. z.; zeilenanf. rot gestr.)
Auf. iv' : q Tractatus de partu beate virginis
q Graluletur nmnis muodus | »•( festioet »><e muudus | ab
immundo crimine.
28 zeilen.
2'.» ((*>). Principium magistrale.
(3 verse in d. z.; zeilenanf. rot gestr.)
Anf. cvir : q Priocipium magistrale
q l»»>ctur ave flos docturum | preces audi puerorum tibi
supplicantinm.
20 zeilen.
3<> (7j. Rhythmus goliardorum.
(2 verse in d.z.; zeilenanf. rot gestr.; vor jed. str. par.-z.)
Anf. cviT : q Ritmus goliardorum
q Tempus acceplabile tempus est salutis | tempus est excu-
tere jugum servitutis.
26 zeilen.
1 wut statt Maurilii, lo55 — 67.
168
BUMEK
31 (S). Evangelium de illo qui incidit in latrones.
(2 verse in d. z.; zeilenanf. rot gestr.; vor jed. str. par.-z.)
An/. cviir : q Ewangelium de illo, qui incidit in latrones
q Lettin sancti ewangelii secundum lucam | ut vice pres-
bileri nescientes ducam.
40 zeilen.
32 (9). Altercatio vini et cerevisiae.
(2 verse in d. z. ; zeilenanf. rot. gestr. ; vor jed. str. par.-z.)
An f. cvuv : q Altercalio vini et cervisie
q Lmlens ludis miscebo seria | ne l'atiseant mentes per ledia.
31 zeilen.
33 (10). Principium magistrale.
(2 verse in d. z. ; auf. jed. v. rot geslr.; vor jed. str. par.-z.)
An f. c v 1 1 1 r : q Principium magistrale.
q Summe »lator munerum dominans in celo | ad le salus
pauperum tumidus anhelo.
4(3 zeilen.
34 (11). Castigatio presbyterorum.
(2 verse in d. z.; an f. jed. v. rot gestr.; vor. jed. str. par.-z.)
An f. ux1 : Castigatio presbiterorum.
q Viri beatissimi sacerdoles dej piecones altissimi lu-
cerue die].
34 zeilen.
35 (12). Versus Primatis contra praelalos et clericos.
(2 yer.se in d. z.; an f. jed. v. rot gestr.)
An f. cix¥ : q Versus primatis contra prelalos et clericos.
q Cur ultra studeam probus esse probusque videri. Aul
inier socios i'amam cum laude mereri.
56 zeilen.
36 (13). De victoria Parmensi.
(2 verse in d. z. ; auf. jed. v. rot gestr. ; vor jed. str. par.-z.)
An f. cxv : De victoria parmensi.
q Cum ad verum veutuin est veros per rumores | papa paler
dominum laudes et bonores
70 zeilen.
37 (14). Conquestio Primatis expulsi de domo lepro-
s o r n m.
(meistens 3 verse in d. z.; zeilenanf. rot gestr.; vor jed. str. par.-z.)
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMU NG 169
Auf. cxi" : Conquestio primaria expulai de domo leproaorum.
q Dives eram el dilectua | Inter parea preelectua | i lo
curvat me seoeclua |
15 teilen.
38 (15). Petitio Primatis porrecta papae pro beneficio
obtinen do.
(4 oder -\ verse in d. s.; xeilenanf. rot geslr.; vor fedet
str. par.'Z.)
\nf. i \n r : Petitio primatis porrecta pnp«; pro beneficio ob-
tinendo.
q Tanto viro locuturi sludeamus esse puri sed el loqiii
sobrie. Carinii decet veoerari.
56 Zeilen.
!'.») Hymnus : Dulcis Jesu memoria [gew.: Jesu dulcis
memoria |.
Vgl. Chevalier Repertorium hymnologicum i 294.
Auf. cxm1 : q De booilate «lei [zugeschr. von band 4 :J est
melodia sancii Beroardi sed qod est Im- compleia
q Dulcis ibesu memoria . . .
6 Zeilen.
Jih Allerlei kurze med icin ische rat schlage, recepte etc.
Auf. cxm1 : q l>*' regimine sanitatis.
q All regendum sanitalem corporis scieodura quod «liyestio
per desiderium mullura iuvatur . . .
62 zeilen. (forts. : nr 49.)
41 — 45) Vagantenlleder. 2 teil (nr 10— 20).
41 (16). Apocalypsis Goliar dorum.
a) Die 30 ersten Strophen des gedicktes.
dreispaltig; jeder vers abgesetzt; keine rote strichelung. die 6 ersten
und in letzten der 30 Strophen in einer der bücherschrift sich
nähernden cursive.)
Anf. cxiui™ : Apocalipsis Galiardorum [1]
A Tauro torriila lampade cinlhii
1*20 verse.
■ \iiii v leer.
I>) das ganze gedieht.
(bl. cxv- : dreispaltig; cxv*, cxvi" : zweispaltig, hier die ein-
zelnen verse abgesetzt. — cxui" : einspaltig. 2 verse in der zeile.
I7i)
130MEK
die 33 ersten slrophen wie anfang und ende von a) in einer aer
bücherschrifl nahe kommenden cursive. — zeilenanf. rot gestr.,
vor jeder str. par.-z.)
Auf. cxvra : In nomine domiui nostri ibesu christi amen.
A Tauro torrida lampade cinthii
108 Strophen.
42 (17). Principium magistrale.
(2 verse in d. z.; cxviur die anf. der zeilen, cx\myf. die
anf. der verse rot gestr. ; vor jed. str. par.-z.)
Anf. cxviiir:q Principium magistrale
cj Cunctipotens genitor princeps maiestatis | occultorum cog-
nitor ime deitatis.
70 zeilen.
43 (18). De transfretantibus.
(2 verse in d. z.; zeilenanf. rot gestr.; vor jed. str. par.-z.)
Anf. cxixT: cj De transfretantibus.
cj Amore summj judicis crucem debemus tollere | atque rerum
opificis uomine derelinquere.
16 zeilen.
44 (19). Comoedia de adventu Antichristi.
(2 verse in d. z.; zeilenanf. rot gestr.; vor jed. str. par.-z.)
Anf. cxix" : q Comedia de adventu anticristi.
c) Dum contemplor animo seculi tenorem reproborum
gaudia proborum merorem.
54 zeilen.
45 (20). Comoedia magistralis redarguens vitia.
(2 verse in d. z.; anf. der verse rot gestr.; vor Jed. str. par.-z.)
Anf. cxxv : q Comedia magistralis redarguens vitia.
q Elicouis rivulo modice respersus | vereor ne pondere
sim verborum pressus.
60 zeilen.
46) Die unter Alkuins nanien gelinden rechenrütsel
(Propositiones ad acuendos juvenes).
(Weichen vom dem druck in Alcuini Opera ed. Frobenius ii,
440 ff sowol in der reihenfolge der stücke als auch in einzel-
heiten ab.)
HERDRINGER VAGANTENL1EDERSAMMLI NG 171
Im/", cxxii [übenchr. von hand 1 : aduinaliooes [/] per mo-
iliiiu Imli.
q Questio <lt* limace.
q Limax fuil ab hirundioe invilalus ad praodium . . .
17 *> /'/ 0 ji n s 1 1 io n
17.
\n/. i \x\ii :
q Propositio ad inveuieodum quanlum quis proposueril
aoimo mim se velle habere.
q Assumatur numerus quilibet at Lriplicetur . . .
39 zeih' n.
18.
Auf. cxxviii' : lit'in aliter.
Quomodo divioandum sil qua feria septimane quilibet homo
rem quamlibet fecisset.
12 Zeilen.
üxxviu' oben ist noch eine Quaestio von 3 Zeilen nachgeholt.
19) Forts, der in edici ni sehen ratschlage, stück 40.
Anf. cxwiii :
q Albertus. Qui habueril dolorem deolium et posuerit dentem
leporis io loco doloris auferet dolorem . . .
5<») Belehrung über heilkraut er, heilsame getränke etc.
Anf. cxxx' ; De Menta.
Meuta est calida et sicca . . .
51) Oratio St. Augustini.
Anf. cxxxn1 : Oratio beati augustini. quam scripsit dietaute
angelo.
q Domioe deus omnipotens qui trinus et uinis . . .
18 zeilen.
■ wxiii leer.
52) Gesundheitsregeln in versen.
Anf. cxxxiv' : Si vioum rubrum oimium quaudoque bibatui
4S zeilen.
53) Regt tuen sanitalis. Das bekannte, häufig gedruckte lehr-
gedicht der schule von Salerno.
Auf. cxxxvr [überschr. von hand 4]:
De regimine et conservalione sauitatis jdures versus
172
BÖMER
Beginn des texies:
Si vis incolumem si vis te reddere sanum . . .
cxlv — vii ausgeschnitten.
~)A\ Disputatio inter daemones et genus humanuni.
An f. cxLvmr [unten auf dem rand des blattes von hand 4j :
Disputatio inter demones et genus humanuni.
Beginn des texies:
NUstis karissimi qualiter salhanas subiectus viscera lüde
procurnvit . . .
55) Erzählung von einem Verehrer der Jungfrau
M aria.
Anf. cliv : Relatum fuit aurelianis a quodam fratre in die
purificationis beatissime virginis marie quod quidam fuit sedulus
in servicio beate virginis peccalor lamen . . .
28 zeilen.
56) Brief des evangelisten Lukas an Galenus mit ein-
leitung.
Anf. clit : Galienus summus medicus petiit a sancto luca ewan-
gelista. quatenus inluitu pietatis et amore summe divinitatis totius
corporis et anime sanitatem in epistola brevissima ei scribere
non dedignaretur . . .
13 zeilen.
57) Bemerkenswerte ausspräche von Augustinus,
Sokrates, Heraklit, Pythagoras uaa.
Anf. cur : Augustinus. Ebrittas aufert memoriam . . .
54 zeilen.
5S) De natura apium.
Anf. cliiv : Apes unitissima quedam volatilia sunt. . .
22 zeilen.
59) De atomis.
Anf. cLiir [überschr. von hand 4] : De athomis
Athomorum genera sunt quinque . . .
7 zeilen.
60) Ausspräche von Augustinus.
Dicit tibi cristus. Da mihi
ex eo quod dedi tibi . . .
8 zeilen.
Anf. clih
Augustinus ad avarum.
HERDRINGER VAGANTEN LIED ERSAMMLI NG 17:;
61/2). Vadu mori. '1 gedichte in verschiedenen netren
61.
Auf. i i.in" : Vado mori dives | aurum vel copia rerum
(17 Zeilen.
62.
.1/'/. ei in : Sequilar de eodem ;ili;i Bpecies metri.
Vado mori | 1 1 ii. Hur'' cedo i ecedo
l l teilen.
63) De avaro.
An/. cLin,b : De avaro. fbrluna avaro.
Pone modum | pooaro | pele quid vi- . . .
4 Zeilen.
CLilii ' leer.
6 1) Brief des papstes Pins n medicin. inhalts. in nd.
übersetz ung.
In/, cliiii' : Dil eeu epislel des paus pius ghenoeml « 1 i * -
iwt-ili' |im> medecyu iheglieu der.... unleserliches wort.
Unterzeichnet : Ini iaer ons heren duseot vierhonderl enn xlvj
Amen '.
clv1 ii. i i.\-r leer.
* i.\ - ton späterer band kurze lateinische notizen.
Misse saneli Gregorii
Di* Siincla liinitale ii]
9 Zeilen.
Die Vagantenliede. / s " //' m I u n <j .
Von den 20 in der beschriebenen hs. vereinigten vaganlen-
liedern sind (.l meines wissens bislang noch nicht gedruckt: nr 1.
4. 6. & — 10. 13. 17. 1^. der ausdruck vagantenlieder ist hier im
weitesten sinne zu verstehen, insofern als einige der stücke zwai
sicher nicht aus dem kreise der fahi enden hervorgegangen sein werden,
aber ganz im tone der vagantenpoesie gedichtet sind und deshalb
auch in der vorliegenden Sammlung mitten zwischen eckten Vertretern
dieses litteraturzweiges platz gefunden haben, zwei der ungedruckten
gedichte, nr 13 und IS, beziehen sich auf historische ereignisse und
1 Aeneas Siloiut bestieg 145*5 den päpstlichen stuhl, da er hier
schon papst Pius li genannt wird, fällt die kaum lesbare, lliich
niederschrift des sli/ckes nach 14ö->.
174 HUMER
lassen sich zeitlich ziemlich genau filieren, nr 13 hesinyt den
siey der Stadt Parma über das belayerunysheer kaiser Friedrichs u
im jähre 1248 und ist offenbar kurz nach der glänzenden waffen-
tat gedichtet, nr 18 ist ein werbelied für den unglücklichen kr euz-
zug des französischen königs Ludwig des Heiligen, der gleichfalls
124S unternommen wurde, die beiden gedichte gehören also schon
der zeit des niederganges der vagantenpoesie an. als ein späteres
erzeugnis verrät sich durch die aufser gewöhnlich grofse menge ein-
gemischter nationalsprachlicher Sätze und Satzteile vielleicht auch nr l,
eine klage über den geiz der reichen, der sich in mannigfaltigen Ver-
änderungen aller kleidunysstücke offenbare, die heimatliche spräche
des dichters ist die französische, toie bei ihm die form, so weist
bei dem Verfasser des krenzzugsliedes der inhalt seines sanges nach
Frankreich, drei stücke, nr 6, 10 n. 17, sind Principia magistralia.
Principium hiefs ein feierlicher act, der auf der Universität Paris
zur erlangung der doctorwürde im gebrauch war. unsere principia
haben wir uns als vortrage von magister-candidaten zu denken,
bei nr 10 u. 17 tritt dieser Charakter ganz deutlich hervor, in
10 entwickelt der dichter die grnndsätze, nach denen er das magister-
amt zu verwalten gedenkt, während er in 17 erzählt, wie er dazu
gekommen ist, sich um die würde zu bewerben, beide neulinge
berufen sich auf Weisungen, die ihnen in Visionen zuteil geworden
sind, in nr 6 ist von dem ursprünglichen charakler des principium
nichts mehr zu bemerken, das wort führt hier gar nicht der magist er
selbst, sondern schüler eines lehrers, die urlaub für das bevor-
stehnde weihnachtsfest begehren. nr 8 ist theologischer natur :
die versißcierung eines beliebten evangelienlextes. nr 9 gehört in
die während des mittelalters besonders beliebte und auch von den
vaganten eifrig gepflegte gattung der Wettstreite, hier sind es bier
und wein, die mit einander concurrieren. nr 4 endlich ist dem
gegenstände gewidmet, mit dem sich fast sämtliche bereits gedruckten
lieder der Herdringer sammhing befassen : der Verderbnis der weit,
die sich, wie in einem stücke ausgeführt wird, in dem tief stände
der sitten als reif für den Antichrist erweise, die vaganten fassten
natürlich zunächst bei den Verhältnissen an, die sie aus eigener
er fahrung am genausten kannten : den kirchlichen, die demoralisation
des clerns mit all ihren gro/sen und kleinen charakteristischen
Merkzeichen ist der mütelpunct ihrer invectiven. sie haben das
thema in den mannigfaltigsten Variationen behandelt, ohne aber
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLl NG 175
jemals irgend einer lehre oder einriehtung ihrer kirehe zu nahe
irrten, die kritik, zu der sie sich als sachkundige Vertreter dei Offent-
lichen meinung berufen fühlten, galt immer nur unwürdigen \
sonen bezw. classen von personen, dem papst und der römischen
eurie, prälaten, manchen und priestern, niemals aber der sache,
die ihnen heilig war. in die nulluni/ dieser satirischen gedichte
gehören nicht weniger als 10 der Herdringer handschrift, aufsei der
erwähnten nr 1 : 3. 7. 11. 12. 14—16. 19. i<>. weil die klagen,
welche im 12 und 1". jh. erhöhen waren, auch im II und 1 .">
jh. noch ihre berechtigung hatten, wurden die wirkungsvollen
stücke, als die vaganten seihst längst nicht mehr durch die
lande ziehend ihre warnende stimme erhohen, noch uniua widei
abgeschrieben und verbreitet, jetzt aber meistens fern dem getriebe
dei weit in einsamer klosterzelle. so hat sie denn muh dei Lüttichei
henedictinermünch seiner bunten anthologie einverleiht. solche
sauren wurden besonders gern an den namen des Schutzheiligen
der vaganten, des seiner bedeutung nach vielumstrittenen 'Colins
geknüpft, als dessen jünger die fahrenden selbst sich 'Goli-
arden' miauten. zwei dei Herdringer gedichte führen letztere
collectivbezeichnung, während sie in anderen Handschriften untei
dem namen des 'Golias' geh», meistens mit dem zusatz ponlit'ex
oder episcopus : nr 7 (Tempus acceptabile) überschnellen -. Kit-
mus goliardorum und nr 16 (A tauro torrida) betitelt : Apo-
calipsis goliardorum. ein gedieht trägt im IIa dringer codex diesen
namen, das keinesicegs satirischer natur ist, vielmehr die wunder-
bare kraft des weins besingt, ein ausschnitt aus der berühmten
'Generalbeichte', nr 2 : Comedia goliardorum (Tales versus facio).
tnnklieder finden sich aufser diesem und dem rangstreite zwischen
hier und wein sonst nicht in der handschrift. minnelieder fehlen
■tanz, der manch, dem wir die stücke verdanken, hat eben mn
solche aufgezeichnet, die für ihn und seine milbrüder in ihrem
etlichen stunde passend erschienen, das trifft auch auf das au
5 stelle stehende weihnachtslied zu. woher der schreibet- seine anlüge
hatte, darüber sind natürlich nur Vermutungen möglich, da die
lütticher gegend viel von den fahrenden aufgesucht worden ist,
so viel, dass die geistlichen 12S7 durch ein synodalstatut dam,
gewarnt werden musten, das leben der Goliarden mitzumachen
(vgl. Giesebrecht in der Allg. monalschrift. IS53, 33 j, ist es seht
wahrscheinlich, dass dort damals auch die lieder der vaganten auf-
176 BÖMEK
gezeichnet sind, aus einer Lütticher hs. hat ja auch Mone (An-
zeiger v [1836] 447) zwei lateinische minnelieder mitgeteilt.
Die meisten der bereits bekannten stücke haben schon wider-
holte druck legung erfahren, acht von ihnen sind von Wright nach
englischen hss. veröffentlicht , sechs von Haureau , vier von
Müldener und eines von Fierville nach Pariser vorlagen, eines
endlich von J Grimm nach einer Brüsseler, von Schindler nach
der Münchener und von Werner nach einer Züricher hs. unter
vergleichung von zwei valicanischen. in der Züricher ist außer-
dem auch noch der an fang einer anderen nummer überliefert.
Haureau stand in einem falle neben den Parisern gleichfalls ein
vaticanischer codex von hohem alter zur Verfügung, mehrere der
gedickte sind auch in den Sammlungen von Flacius lllyricus, Wolf und
Eccard, eines bei Leyser und ein anderes in einer der Du Meril-
schen yublicationen gedruckt.
Das Herdringer manuscript bestätigt die alte erfahrung, die
noch jedesmal nach dem funde einer vagantenliederhandschrift
gemacht xcorden ist : dass bei diesem beweglichen kleingute der litte-
ratur jede neu entdeckte aufzeichnung eines Stückes geioissermalsen
eine neue recension desselben repräsentiert, sicher nur bei wenigen
schriftstellerischen erzeugnissen hat die mit- und nachweit so xoenig
fremdes eigenlum respecliert, icie bei diesen gedickten, die größten-
teils ohne den namen ihres Urhebers als herrenloses out im kreise
der fahrenden umliefen, gleichwie die Volkslieder unter der grofsen
nii'nge des volkes. iveit. bald keine)- mehr wüste, icem ein stück
angehörte und in welcher fassung es von ihm ausgegangen war,
fühlten vortragende, Schreiber und wer sonst die lieder verbreitete,
sich berechtigt, mit den texten nach belieben zu schallen, dh. nicht
nur wenn eine stelle aus irgend einem gründe einer änderung
bedurfte, bessernde hatid atizulegen, sondern auch ganz einwand-
freie worle, ausdrücke und salze mit anderen zu vertauschen, die
mehr nach ihrem geschmacke waren, bei besonders beliebten stücken
ligt eine fülle von Varianten vor, und wer vor die aufgäbe gestellt
ist, zu entscheiden, welches die ursprüngliche lesart gewesen, wird
öfter vergebens zu ermitteln versuchen als zu einem sicheren
lesultate kommen.
H — so soll die Herdringer niederschrift fortan bezeichnet
werden — zeigt mit keiner der bislang ausgenutzten hss., soweit
die drucke und ihr apparat eine controlle gestalten, eine besonders
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLI NG 177
mihi- verwantschaft. wol scheint sie sich das eine oder </»/*''
nuil cm •paar Strophen hindurch einer bestimmten von unseren vor-
lagen anzuschliefsen, aber gleich darauf weicht sie von dieser toi
ab und stimmt m/t einer anderen gegen die erste überein odei
ganz eigene woge, das gilt sowol im grofsen von der auslassung
und zufügung ganzei Strophen und ihm anordnung, wie im kleinen
von der Stellung der reis? und der gestaltung des textet im einseh
Der wert der Überlieferung von II ist bei den einzelnen
dichten ein ganx verschiedener, ihr Schreiber dürfte dafür kaum
verantwortlich zu machen sein, denn es ist nicht einzusehen, wes-
halb er hier völlig oder nahezu correct abgeschrieben und dort
auf schritt und tritt gefehlt Indien sollte, offenbar ist die Quali-
tät der vorläge entscheidend gewesen, bei dem einen stücke nur
sie ijut und die Berdringer abschrift ermöglicht, irrtümer unsere)
bisherigen Überlieferung zu corrigieren, bei dem andern wider sind
fehlerlm/te oder minderwertige lesarten von II nach unseren alten
texten zu berichtigen.
Zu einer durchgehende sicheren feststellung des urspünglichen
textes dei gedickte, soweit sie nach dem oben ausgeführten über-
haupt möglieh, ist natürlich auch nach dun j unde von II die zeit
noch nicht gekommen, dazu müste das handschriftenmaterial noch
weit mehr vervollständigt werden, höchst bedauerlich ist aufser-
dem, dass Haureau nicht die lesarten jeder einzelnen von ihm ein-
gesehenen handschrift verzeichnet, sondern nur auf grund einer
anzahl von aufzeichnungen einen nicht controllierbaren texl recon-
slruiert hat. bei neueren systematischen nachforschungen nach
handschriftlichem material . vor allen in den Übrigen bibliotheken
Frankreichs, stünde zu hoffen, dass auch noch altere nieder-
schriflen zu tage kommen würden, a/s uns jetzt zu yebote steint,
die älteste der Wriyhtschen englischen handschriften ist erst in der
zweiten hülfle des 13 jahrh. heryestellt und die Pariser gehören
fast sämtlich dem 14 und 15 jahrh. an, sie sind zum grofsen
teil noch jünyer als II. jedesfalls liyt zwischen der entstehung
der yedichte und der ältesten uns bis jetzt bekannten copie eine
yanz beträchtliche spanne zeit, welche an den Heilem nicht sinn-
los vorübergegangen ist. der von Werner benutzte Züricher co>le.r
i eicht zwar l-is in das ende des 12 Jahrhunderts zurück, aber bei
dem yedichte, dessen an fang in ihm überliefert ist, entspricht die
gute des textes keineswegs dem alter, und bei dem anderen handelt
Z. F. l>. A. XL1X. N. Y. XXX VII. 12
178 BÜMEK
es sich nur um ein paar Strophen, der Züricher hajulschrift
kommt die von Haureau für eines der stücke benutzte vaticanische
au alter am nächsten; sie ist gleichfalls am ende des 12 oder
doch sicher am an fang des 13 jahrh. geschrieben, deshalb ist bei
ihr ganz besonders zu bedauern, dass der herausgeber den text
nicht in einem kritischen af parate festgelegt hat.
Ich habe mich bei der aufstellung der lesarten-verzeichnisse
nicht damit begnügt, die abweichungen H.s von irgend einer unserer
ausgaben anzumerken, sondern um in jedem einzelnen falle ihr
Verhältnis zu der anderweitigen Überlieferung aufzuweisen, sind
die lesarten sämtlicher collationierten Codices und vorliegenden
ausgaben, oder, wo deren zahl au fser gewöhnlich grofs war, wenigstens
die der mafsgebenden unter ihnen zusammengestellt, beim citieren
wend ich der gleichmäfsigkeit wegen bei strophischen gedichten
stets die praktischere Zählung nach Strophen an, auch wenn unsere
gedruckten texte nur die verse numerieren, die noch gar nicht
oder nur teilweise bekannten stücke von H bring ich vollständig
zum abdruck, und zwar unter auflösung der abkürznngen und mit
modernisierter interpnnction , aber unter beibehaltung der Ortho-
graphie der vorläge mit der einzigen ausnähme, dass n und v,
i und j in der jetzt üblichen weise verwendet werden sollen.
1) De vestium transformatione.
Von den eingangsversen der Metamorphosen Ovids ausgehend
besingt der dichter die mannigfaltigen xounderbaren Verwandlungen
alter kleidungsstücke in neue : wenn die cappa schäbig geworden ist.
wird aus ihr ein mantellus zurechtgeschnitten, aus dem femininum
wird ein masculinum. das zur winterzeit über dem, mantel getragene
caputium geht über in ein sackartiges almutium. das ist bei allen
nationen so, bei Engländern, Deutschen, Franken und Normannen,
auch der manlellus erfährt wunderbare Veränderungen, wenn er
hübsch neu ist, wird er sorgfältig im schranke aufgehoben, beginnen
die haare aber spärlicher zu werden und die fäden zu reifsen, dann
wird der pelz abgetrennt und zu einem sorcotium verwendet,
der mantel selbst, der beschnittene Jude (apella), wird durch eine
gründliche wassertaufe von allem makel gereinigt und geht mit einem,
neuen pelz eine neue ehe ein. dadurch macht er sich, weil der
alte pelz noch am leben, des Verbrechens der bigamie schuldig, erst
ist aus dem haarigen Esau ein Jakob geworden, nun aus dem
HERDRINGER VAGANTEN LI EDERSA MM LI NG IT'.»
Jakoh wider ein Haan, ist der mantel b jähre alt und nicht mehi
mit anstund zii tragen, dann nehmen die klugen leule, gelehrige
schaler des Bryson, nur qusdratura circuli vor. aus dem runden
mantel machen sie ein Viereck, und es ersteht eine colta. diese geht
wliler vi ein Borcotium über, und so werden die oenoandlungs-
kunststilcke noch in mannigfacher weise fortgesetzt, dabei kommen
die wunderbarsten verwantsehaftsverhältnisse heraus, als im höchsten
grade bedauerlich bezeichnet es der dichter, dass ohne alle bedenken
ehen gebrochen würden, und er fordert deshalb zum schlnss die
mantel auf, zu ihren ersten frauen zurückzukehren, widrigenfalls
ihnen dei kiichenbesuch verboten Würde. iei nntwoi tlich sind natür-
lich die träger, der ist fluchwürdig — führt er aus — , der seine
kleider einen ehebruch begehen Uisst. abgebrauchte stücke sollen
den armen yegeben werden mich den warten Christi Dispereil el
detlit pauperibus. dem reichen, der sich keine neuen kleider an-
schafft, soll es gehen wie Dathan, den die etile verschlungen, das
ist die quintessenz des gedichts. es wird die arbeit eines armen
vaganten sein, der kleidernot am eigenen leibe erfahren hat und,
als frucht seiner gelehrten Studien, mit kirchenrechtlichen gründen
gegen das verändern und weitertragen aller kleidun gsstücke seitens
der i eichen vorzugehn vermag.
Das gedieht steht in naher beziehung zu Carmina Burana
\< iv (ed. Schindler 7 1 ff), macht schon die beiden stücken gemein-
same tendenz der Verspottung des in den kleiderverwandlungen
sich bekundenden geizes der reichen eine abhangigkeit wahrschein-
lich, so wird diese durch mehrere auffallende Übereinstimmungen
in der ausführung zur yewisheit. der kürze halber bezeichne ich
im folgenden das gedieht der Carm. Bur. mit A, das unsrige mit
B. gleich der eingang von B, das Metamorphosen-citat, ist auch
m A str. 9 angewant; während jedoch in B die verse wörtlich
citiert werden, hat der dichter von A Ovids worte umgesetzt und
mit den seinigen verschmolzen:
Forma, cum in varias
i'ormas siut mutata
vestimenta divitum
vice variata —
In nova feit animus
dicere mutata
vetera, vel potius
sint ioveterata :
12*
180 BÖMER
Wo es B str. 4 keifst, dass die Kleidungsstücke mit der Um-
wandlung ihr geschlecht änderten, wird auf das geschieh' des
Tiresias hingewiesen, dessen kennlnis der dichter gleichfalls der
leelüre Ovids (cfr. Melam. in 322 //) verdankt haben wird, der-
selbe himeeis findet sich auch A str. 12. endlich ist die androhung
der exeommnnication für alle reichen geizhülse, die Veränderungen
an den kleidem vornehmen liefsen, anstatt sich neue anzuschaffen,
beiden gedichten gemeinsam, diese drei Übereinstimmungen setzen
meines erachtens eine gewisse abhängigkeit der stücke von einander
aufser allen zwei fei. im übrigen aber gehn die beiden dichter selb-
ständig ihre eigenen wege. der von A beruft sich nur auf drei
kleidnngsstücke : cappa, pallium und iuppa. indem er die von den
beiden ersten abgeleiteten verben cappare und palliare recht glück-
lich und wirkungsvoll in der bedeutung von 'smt cappa bezw. zum
pallium machen' gebraucht und von diesen Zeitwörtern wider neue
Substantive bildet zur bezeichnung der personen, welche jene tätig-
keit vornehmen, deutet er die Verwandlungen nur in aller kürze
an. B exemplificiert auf eine größere anzahl von kleidern und
veranschaulicht auch die art und weise, wie die mannigfaltigen
Veränderungen vor sich gehn. ein nicht unbedeutender vorzug
B.s vor A ligt in der motivierung der exeommnnication. in A
wird ein neues decret des subpriors Walter verkündet, dass keiner
sich untersteht solle, alte mäntel aufzubügeln oder mit kreide zu
färben, und dann ohne weitere begründung acht und bann ausge-
sprochen über alle, welche sich dagegen vergehn sollten, und gegen die
recappaiores, capparum veterum repalliatores et omnes huiusmorli
reciprocatoies. ganz anders würkt das anathema in B. hier wird
str. 33 unter glücklicher fortführung der früher begonnenen per-
sonification der kleider diesen selbst die kirche verboten, und zwar
weil sie sich durch den ehebruch eines Verbrechens schuldig gemacht,
für welches nach canonischem recht die schwerste der kirchenstrafen
z%i gewärtigen war. natürlich wird hernach auch über die verant-
wortlichen träger der kleider, deren geiz an ihrem ganzen sünden-
leben die schuld trage, der bannslrahl herabgerufen, wir dürfen
annehmen, dass die einfachere fassung von A die ältere ist, die den
grnndgedanken angegeben hat, welcher dann in B eine geschicktere,
freilich auch etwas künstlichere ausführung gefunden hat. —
Von dem vergleiche des pelzgefütterten und pelzberaubten
mantels mit Esau und Jakob (str. 17, 2j ist auch in einem von
EIERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLI XG 181
Wright (The laiin poems commonly attributed to Walte) Ma\
London 1841, S5) mitgeteilten Epigramms de mantello .1 ponlifice
dato gebrauch gemacht, ein knauseriger pontifex hat dem dichter
bei bitterer kälte einen manlellus sine pluma gegeben, der neue
besitzet redet den mantel an und bittet ihn, regen und stürme fern"
zuhalten, der mantel erwidert, das würde ei gerne tun, aber leider
hulte er weiter pilu* noch vellus, ei fei ein Jakob, kein Esau. —
zur bedeutung des namens Berodes {str. 'itij ist Rabanus Maurus,
De 11 mm so Mii/ne Patrologia ser. hat. 111, sp. 83) zu >
gleichen (Herodes ioterpretalur pellicius etr.). die in den latei-
nischen text eingemischten französischen Wörter und Sätze, welche
in einigen Strophen so reichlich verwendet sind, dass das latei-
nische 'in ihnen zurücktritt oder gar verschwindet, lassen in dem
Verfasser einen Franzosen erkennen, das gedieht besieht uns 38
sechszeiligen Strophen, von denen jede durch eine zweimalige ver-
bindung von '2 trochäischen achtsilblem mit 1 trochäischen sieben-
silbler in der reimfolge aabccb gebildet wird, es ist die flotte form,
welche zb. auch Carm.Bur. \\\\\ (Prnpter Sion non lacebo) und
17:'. (Deoudata verilate) aufweisen, sog. 'tactwethseV (WMeyer)
hat der dichter 'Initial angewendet , doppelst/Inge Senkung 1 mal
35, 5). hiatus im inncm des veises ist Ins auf 2 Julie (1, 1
u. 27, 4 6«« französ. lorture mit folgendem appellalur) gemieden,
der reim ist einmal unrein il2, 3 U. • >), doch hat es mit dieser
stelle eine besondere bewantnis, indem französisches Ibrnicalion
auf lateinisches enniugium reimt. — bei feststellung des franz.
'es hat mich herr pro f. dr Mettlich in liebenswürdigster weise
unterstützt.
Ue v es tiu in transformatione1.
In Qova feiY animus mutatas dicere formas
Corpora; di ceptis, nam vos mutastis et illas,
Ispirate meis!
:. 1 (1 vers des Ovid-citdU) hs. fehl er haß : fer,
[' während ich die correctur obiger Zeilen lese, geht mir von Inrm
pro/. Wilhelm Mei/er in Göttingen die dankentwerte Mitteilung zu, das»
15 stmphen untres- gedieht* (1 — 4. 0—14. 17. IS) gedruckt sind l>ei Wfight
The political songs of England 1S79, 51//. indem ich die tan. dieser
fastung hier kurz nachtrage, liemerk ich, data WMeyer in einer arbeit
über die nnoni/men lieder des Primas das nach seinen ermittelungen unter
diese gehörende stück ausführlich behandeln wird, sobald er die eben
begonnene ausgäbe der von ihm aufgefundenen 'Otcforder lieder des
182
BÖMER
Cappa fit mantelli deus,
ergo potest esse reus
utriusque veneris.
6 Bruma tandem revertente
tost ont sor le mautial ente
plerique caputium.
Alioquiu disquadratur,
de quadrato rotondatur,
transil in almulium.
7 Si qui restant de morsellis
cesi panni sive pellis,
non vacant officio:
Ex hiis fiuüt manuthece,
mauutheca quidem grece
manuura positio.
8 Sic ex veste vestem forma nt
anglois, thiois, franchois, nor-
omnes generaliter; [mant,
Ut vix unus excludatur ;
ita cappa decliuatur,
sed mantellus aliter.
9 At hie primo recens anno
nova pelle, novo panno,
in archa reconditur.
Raresceule tandem pilo
iuneturarum rupto filo
pelle circumeiditur.
4, 2 hs. fehlerhaß refutaut.
Primas (des 7/iagister Hugo von Orleans)' beendigt haben wird, ich be-
daure lebhaft, dass ich auch diese mit manchen hergebrachten urteilen
aufräumende lehrreiche publication, deren erster teil kürzlich erschienen
ist (Göltinger nachrichlen 1907, 75 ff), für meine arbeit nicht mehr habe
benutzen können, an letzter (23) stelle steht unter den Oxforder Primas-
liedern unsre nr 14. eine commenlierte ausgäbe dieses der erklärung
manche schwierigkeilen bietenden gedichts wird die forlselzung von
Meyers Veröffentlichung bringen. — abweichungen des Wrighl-
schen textes : 1, 6. Transmutare. 2, 1. et st. vel. 5. Transmutatur.
6. mutatis [!]. 3, 4. Demutantur. 5. recenter. 4, 2. Prius luptam . . .
reciutant. 4. donatur. 5. sit. 6, 2. unt sur !a chape ente. 4. de-
quadratur. 5. ittundatui. 7. 1. quid lestat. 3. vacat. 9, 1. Adlnu.
4. Recedente. 6. pellis.
1 Ego dixi : dii estis;
qne diceuda sunt in festis,
quare pretermitterem ?
l)ii revera, qui potestis
in figuram nove vestis
transformare veterem!
2 Pannus receus vel novellus
fit vel cappa vel mantellus,
sed seeundum tempora.
Primum cappa, post pusillum
transformatur hec in illum:
sie mutantur corpora.
3 Anliquata decollatur,
decollata manlellatur,
sie in modum protlieos
Transformantur vestimenta,
uec recentis est inventa
lex melhamorphoseos.
4 Cum figura sexum mutant,
rupta prius clam rec/utant
primates ecclesie.
ISee donantur, res est certa,
nisi prius sint experta
form na m tyresie.
5 Cappam quidem feminini,
sed mantellum masculini
eonslat esse generis.
IIKlUim.MJKK VAGANTENLlEKKHSAM.MI.l M.
LS3
in Sic mantellus fii apella,
Chi ^ isl li dras ft la pel la
posl primum divortium;
\ priore Beparata
(um Becuodu reparata
ir.uisit im Borcoliuro.
11 QllOil delirium iliees maius?
illii'l palaro est cootra ni>,
naiii si oupsit .dien,
Cooiugium violavit,
(Uni) se novo copulavil
reclamante veleri.
12 M'est de coQCÜle ne de seone
d'espouser deus dras une
L6 S'ilh est de saie dunt l'endrois
emble,
l'eovers pur ce feit, i e moi
semble,
cooverti Bimpliciter.
Kar asseis est simple convei se,
ki ce dedeos defors enverse
por üser dupliciter.
17 l'ilis expers, usu l'raclus,
ex esau iacob factus,
quanl tuit li poilh en sunt
Inversatur vice versa [chaü,
rursus idem ex cooversa,
ex iacoli fii esau.
qu'ilh i ai loi nicalion. [penne, 18 Pars pilosa foris paret,
Peirailtuut liec decreia ? oon ; seil iutrorsus jnh> carel
sed leslalur omuis cauon
QOQ esse CODlUgium.
13 P.iiiiui> primus circumeisus,
viduatus et divisus
a sua pellicula
l.im experlus Judaismum
emuodalur per baptismum
a quacumque macula.
14 Circumeisus mundatusque
esi adeptus utiiusque
le^'is lestimonium.
Quem baptismus emuudavit,
cum seeuuda federavit
pelle matrimonium.
l . Bigamus est, quod amavit,
more suo bigamavit,
m se revestenl noslre amis.
Prudentis e>t et astuti
decollatis cappis uti
et maotellis bigamis.
Hi,2. Ci git li drap. 6. consortium. 11,2. Istud. -1. est \iolHlum.
5. I'uin fit novo copulalum. 12,2. Deus dras espuser ä une pene. 3. E si nus
lejuggium. 4. hoc. 5. reclamat. 13, 1. primum. 14, 5. seeundavit. 17,'}.
Quant li peil en e*t chaü. IS, 4. lamen. k'il n'i eit perle. 5. pur deserte.
veiusias abscoodita. [aperte,
Dalur landein, c'esl chose
M'ivienli por sa desserle
mantellus ypoerita.
l!) I>e laneis liec dixisse,
sed uti Dam et lecisse
ad preseos sutTiciat.
De sericis nunc dicenuuin,
nun est iir mais reliceudum,
quas ex hiis elliciuut.
20 Ut mautellus lii quinquenuis
nee videtur iam sollempni>,
diem peremptorium
nun- assiguant, ut mactetur
et maetatus trausformetur
in coopertorium.
21 Quidam ita sunt autiqui;
hei afeubler onL relenqui
in couspeclu populi, [pointe,
Willi translatent en coute
1S4
BÜMER
cnr de laine le coute l'iint
örisonis discipu/i. [pointe
22 Scibilis est, scita nundum
quadratura hec secundum
verba Aristotelis.
Modo tarnen non est ita,
est a multis enim scita,
que tunc erat scibilis. (rem,
23 Formant, quadrant manlella-
transforniantes circularem
in modum quadranguli.
Gratuleotur hec persone
invenisse cum brisone
quadraturam circuli.
24 Item quod est per se notum,
cottam vertunt in sorcotum
mutilatum primitus;
Cum manlellj«s ex irequenli
et impulsii vehementi
perforavit cubitus,
25 Arte mira translatoris
transportalur in sororis
locum soror altera.
Locus enim altercatur,
dum sinistra dexteratur,
sinistratur dextera.
26 Nunc dicendum de herode,
que diceuda sunt de Code (?):
lierodes pellicium
Sonat, idem fit pylatus
circa pannos, circa latus
sortitus calvitiuni.
27 Fit pilatus, sed pylato
ab herode mox sublalo
generatur filia,
que forture appellatur,
que sorcoto copulatur,
kar aguilh' et 61h i a.
28 Intercedit parenlela,
nest pas loiaus hom ki tel a,
nam in gradu proximo
Sunt affines contra iura,
celebratur hec iunctura
ritu nefandissimo.
29 Est sorcoti cotta mater,
f'orrature numquam pater
negalur pellicius.
Hec est uxor, hie maritus;
ergo iuris imperitus
et vir legum nescius,
30 Hui sorcotum forature
maritavit geniture:
coutra clamat regula.
Inter tales nunwjuarn talis,
quia non est maritalis,
intercedat copula.
31 Hiis sorcotis clericorum
interdico prorsus chorum
propter hoc incommodum.
Non nascantur nisi patre
ceso sive cesa matre,
quod est contra synodnm.
32 Pater primum detruncatur,
ut ex patre mox nascatur
filia manieiis.
Maler pannis decurtata
natam parit mulilala
utrobique braohiis.
21. 6. der erste buchstabe des Verses ist in der hs. verwischt, über-
geschrieben über . . . risonis : bris, in elench. [sc. Aristotelis/,- hs. disci [ver-
stiimmeU). 22, 2. übergeschrieben über quadratura : s. circuli. 22, 3.
übergeschrieben über Aristotelis : in libro predicamenlorum. 22, 5. über-
geschrieben über scita .• s. quadratura circuli. 24, 4. hs. fehlerhaft
mantella-. "Jy. 2. hs. fehlerhaft ne statt ne = nrst.J
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLI NG
18;
De mantellis mandatum do,
ad incestas qui Becundo
Iransieruol oupti
Revertaotur ad uxores
aul mandata transgressores
non in Iren I ecclesias.
:;i Je iuge par droit el par voir,
k'eglise ne <loii recivoir,
qui \ i vis uxoribus
Criminale comiserunt,
dam aecundis adheserunl
relictis prioribua.
Vestea in se iaoi mechantur,
i.-iii) .'id illas derifantur
noslre carnis vitia.
Homo mechus, vestis mecha,
quia hominis mens esl ceca,
Facil avaritia.
Vir dampnate quidem mentis,
qui de suis indumenti9
format adulterium!
Si nec crimen perhorrescit,
saltem frequens erubescal
plebis improperium.
37 Semper oo»a constal •
t'i^o numquam esl uec<
renovari vetera.
Cum boc li;«t per incestum,
nirliil magis inhonestum
quam vestis adullera.
58 Hoc mandatum do personis:
veslimentis uti bonia
relictis veteribus.
Ei deotur, iini pauper sit,
quia scriptum est : 'dispersil
et dedit pauperibus'.
39 Mo decretum ad extrema,
(juoil sii «lives analberaa,
qui lias vestes iuduit
Ouasi satus sit per sathao,
sii illius pars cum dathau,
quem tellus absorbuit.
2) Co moedia goliar darum.
Anfang : Tales versus facio, quäle vioum lulio.
Die außerordentliche beliebtheit, deren sich das glanzstück der
vagantenlitteratur, die Generalbeichte des Erzpoeten, zu erfreuen ge-
habt hat, kommt zum ausdrnck in den zahlreichen aufzeichnungen,
die ihr zuteil geworden sind, damit ist das gedieht aber auch in
einem ma/'se wie nur wenig andere willkürlichen Veränderungen
nach dem geschmacke des einzelnen ausgesetzt gewesen, der neu-
•Iruck des oft veröffentlichten Stückes bei J Weiner (Beitr. z. künde
der tat. litt, des ma.s, 2 auf!., 1905, "200//") mit dem Varianten-
apparat von 1 1 verschiedenen abschriften veranschaulicht, wie die
sangeslustigen gelehrten lenle des mittelalters mit dem Hede um-
gegangen sind, am meisten gefielen die verse, welche die freuden des
kneipenlibens und die unndeiliaren würkungen des weins besingen.
sie wurden deshalb aus dem rahmen des ganzen ausgelöst und
dosierten als besondere stücke, in dem codex Venetns SMarci
lat. cluss. \iv, nr cxxvm, aus dem J Grimm (Kl. sehr, in 7s//) v,'r"
186 BÜMER
sus primatis presbiteri mitteilt, erscheinen im ansclduss an diese
verse die Strophen 11 — 14 des Sckmellerschen textes (67/f), in
der französischen handschrift, ans der Du Meril (Poesies popul.
tat. 205) geschöpft hat, strophe 12 — 17 als selbständige stücke.
in H sind die Strophen 16, 17, 12 und 11 als 'Comedia goliar-
dorum' zu einem gedieht vereinigt, die beiden ersten Strophen
singen das lob der eigenartigen kraft, welche der wein und ein
gutes mahl den dichtem und — so hei f st es hier — propheten
zu verleihen pflegen, in dem 'Meuni est propositum' (str. 12)
wird alsdann das kneipenleben überhaupt gepriesen, uach dieser
strophe fällt die sonst voranstehende elfte nicht nur bedeutend ab,
sondern es verrät gradezu eine gedankenlosigkeit des redaclors,
nachdem die kneipe bereits gepriesen ist, noch singen zu lassen
'Ultimo [statt Terlio] capiiulo memoio tabeinani'.
L es arten von H.
Für die lesarlen-verzeichnisse von H bedien ich mich hiei
wie auch bei den folgenden gedichlen im anschluss an Werner
folgender chiffern für die hss.:
Z = hs. C 58/275 der sladlbibliolhek Zürich: sie bietet nur
die beiden ersten Strophen von H als 12 u. 13 ; Werner 200/7".
B = cod. lat. Monac. 4660 (Benediclbeuern 170); Schmeller
67/r.
P hier = bibl. nat. paris. ms. 11867; Haureau in Nolices et
Exlrails xix 2, 266/7'. Haureau hat die 3 ersten Strophen
von H auch hintereinander als str. 17 — 19, die vierte
aber an 1 1 stelle wie Schmeller.
S = hs. aus Stablo in Brüssel 2071; J Grimm Gedichte des
Mittelalters auf könig Friedrich i den Slaufer (1844),
67 ff = Kl. sehr, in 70 ff. die 4 Strophen von H stehlt
hier als 16. 17. 12 u. 11.
V = cod. Val Christ, reg. 344; nach einer für Werner ausge-
führten collalion. vgl. über die hs. Haureau aao. 231 ff.
... „ , . „_0 von Wriahl (The Latin poems com-
a — fiarleian. 9 /8
£/« == Harleian. 2851
H3 == Harleian. 3724
C = Collon. Vesp. A. xix
6'2 = Collon. Vesp. B xm
monly allribuled lo Waller Mapes
71/7) zur herslelluug seines textes
benutzt. hier die beiden ersten
Strophen von H als 18 w. 19, die
beiden leisten als 12 u. 11.
F = cod. Valic. 7260; nach einer für Werner ausgeführten
collalion.
str.l (= Schmeller 16), v. 5. valet. 6. quoi) mtf &IPEPPV
stall valeiil — quae. 7. talices m. PSV st. calicem. 2(17), 1. Nuu-
quain mihi spiritus st. Mihi niinquam spiritus. 2. prophetie st. poetrie
HERDRINGER VAGANTENL1EDERSAMMLI NG 187
(poesiae C). nach II verleiht ein gulet mahl auch die gäbe den
prophelie, nachdem ttr. I i <>n der poetischen anregung die rede ge-
wesen ist, wird hier dem essen und irini.ru eine neue kraß beigelegt,
au/ die das miranda falur im leisten verse der Strophe bezogen werden
könnte. 5. dum m. IIXS st. cum. — aula st. arce. 3 (12), 1. esl
fehlt hinter Heum. ::. vinaque sint proxima //. ut sinl vina proxima
/■'//'. nt sii viii u in perennum S, nbi vina proxima II, vinum sit ;•[>[>>•-
siiiiin Grimm, Wright (wich r1 •-//-'•'), vinum sil opposilum /. 5. el
descendanl celilus //. tunc cantabunt lelius HS, lunc occurrent cicius
t\ ii l dicant cum veneria t iibr. 7/5. decantantes canlicum Mihi
polalori st. Deus sil (sii deus FS) propitius isti (tanto /', huic CM //
H*H*SV, michi F) potatori. 4(11). 1. Ultimo st. lertio. 3. quam
ine iilln //. banc in nullo ('~ illam nullo übr. 7. pro bibulis //
pro mortuis BC*FS, pro mortuo übr.
3) Invectio contra sacerdotes.
Anf. : Sacerdotes memenlote.
Das gedieht ist von Wright Mapes 48 ff nach C1 unter dem
titel 'Goliae versus de sacerdotibus' veröffentlicht, es hat in diese)
durch zahlreiche versehen entstellten fassang 'M) Strophen, von
denen jedoch die fünfte 7 zeilige , nach II um einen fehlenden
vers vervollständigt) ebenso in zwei zu zerlegen ist wie die sechste
^ zeilige. auch in der bei Wright nur 3 verse zahlenden S Strophe
kann die fehlende zeile auf grund von 11 eingesetzt werden, im
ahrigen. ist das gedieht in II um nicht weniger als IS Strophen
gekürzt. es ist ein kühner mahnruf an die unwürdigen Ver-
treter des geistlichen Standes, sie werden an die hohe würde und
heiligkeil ihres amtes erinnert und doppelt strafwürdig für jedes
abweichen von ihrer pflicht befunden, ihr verachten der armen
(bezw. der keuschheit), ihr erkaufen des amtes, ihr weiblicher ver-
kehr, der sie wagen lässt, die hl. messe zu lesen und den leib
Christi zu segnen, nachdem sie sich eben aus den armen der buh-
lerinnen losgerissen, und andere Schandtaten mehr werden in aller
scharfe gegei /'seit, die 10 Strophe des Wrightschen lextes, die letzte.
welche C und H gemeinsam ist. führt den gedanken aus, dass
solche unreinen priest er , wenn sie es wagten vor den altar zu
treten, mit raten geschlagen zu werden verdienten, in den 20
weiteren Strophen malt Cl zunächst jene sträfliche Handlungsweise
des näheren aus, um dann noch weitere Versündigungen des priester-
lichen Standes zu brandmarken und zum schluss den geistlichen
selig zu preisen, der seinen von kälte und hunger gequälten mit-
L88 BÖMER
menschen mit nahrnng und kleidnng zu hilfe komme. H hat statt
dieser 20 Strophen nur folgende zwei mit einer erinnerung an
das wort der hJ. schrift vom unwürdigen genusse des leibes Christi
und der mahnung alsbald umzukehren und durch die beichte Ver-
gebung der schuld zu erlangen:
Nonne legis, qui indigne Ad cor ergo revertere,
edit vel tractat maligne coufitearis propere,
corpus cristi tarn insigne, deus enim remitiere
quod eterno perit igne? cupit, si velis petere!
Die abweichende form der letzten Strophe hat offenbar dem
ganzen einen marcanten abschhiss geben sollen : statt reiner trochü-
ischer achtsilbler in allen 4 versen trochäisch-daklylischer rhythmus.
2 mal (1. 3) mit dem daktylus an zweiter und 2 mal (2. 4)
an erster stelle.
Lesarten von H zu den 10 ersten Strophen
des Wrightschen textes (v. 1 — 46).
1, 4. deo servit et devote. 2, 4. este st. Estis. 3, 2. conformari,
besser zu mihi und zum sinn der stelle passend als confortari bei
Wright. 4, 1. Obedile suromo vali; hiernach Wr.s sinnloses 0 beati
summonati zu verbessern. 5,4. corde ore; Wr.s ore corde ver-
meidet den hialus. 5, 5. [vielmehr 5a, l] habilalis st. el Lentis.
nach 5,7 [5a, 3] fehlt bei Wr. der schlussvers der slr. 5a :
si bene hoc faciatis.
ö, 5. [vielmehr 6a, 1] vobis, wirkungsvoller als Wr.s nobis, da
den prieslern selbst der ausspruch der schrift bekannt sein soll.
est st. Iinec. 0, 7 [6a, 3]. est st. sil. 7, 1. Castilalis st. Miserorum.
8, 1. hie st. haee. 2 (bei Wr. fehlend): euius manus sunt
immunde 9, 3 amplexum.
10, l — 3. Scire velim, missam quare
sacrosanetum ad altare
stanti vadis immolare
Wr.: Scire vellem tarnen quare
sacrosanetum ad altare
stanli velut immolare, (?)
Wr. selbst setzt hinler den 3 fers ein /ragezeichen, seine
lesart gibt in der tat keinen sinn, vor allem fehlt das verbum zu
quare. H bringt dieses in vadis. unklar bleibt nur das stanli, es
sei denn, dass dieses im obseönen sinne gemeint ist. man vergleiche
die vorwürfe der Schamlosigkeit in der folgenden Strophe bei Wr.
4) Invectio contra praelatos.
Die beiden eingangsstrophen der Generalbeichte sind hier zur
einleitung eines neuen mahnrufes an die geistlichkeit verwendet.
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLl M.
die kid e\ ersten verse mochten die Stimmung des erbitterten diditi
so vortrefflich schildern, dass er einen besseren ausdruck füi
zu finden nicht im stände gewesen wäre, und ihn deshalb
übernähme der Strophen veranlasst haben, die folgenden teilen
jedoch, in denen er sah einem vom winde getriebenen blatte i
einem ruhelos durch die lande fließenden buche vergleicht, um
dann in der dritten Strophe zu verkünden, dass er zum /ist?
kommen sei, um zu richten aber Innre und sündet und du
ron den schufen zn sondern , trinken in diesem zusammenhange
geradezu störend, der hinweis auf die eigene unstätigkeit Lonnir
den eindruck der rede des Strafpredigers doch nur herabsetzen, die
Situation des gedicktes haben wir uns so zu denken, dass der
dichter eine festversammlung von geistlichen dazu benutzt, Urnen
ins gewissen zu reden, ähnlich wie im ersten gediente des Archi-
poeta in der Göttinger hs., an das auch die betrachtungen über
die Vergänglichkeit der weh erinnern {J Grimm Kl. sehr, in 49 ff).
diesmal sind es ihr geiz, ihr törichtes hängen an irdischen schätzen
und abermals ihn- Herzlosigkeit gegenüber den unnen, über welche
die geifsel geschwungen wird, die dritte Strophe leitet mich ein
mehr jach mit alt französischen dementen durchsetztes gedieht em,
das Wright [Aneedota literaria [1844] \'-'< f > nach einer Oxforder
hs. in sehr verderbtem zustand mitgeteilt hat. wenn s<ch mich die
tendenz dieses Stückes mit der des unsrigen deckt, so sind doch
nennenswerte Übereinstimmungen aufserhalb dei bezeichneten Strophe
nicht zu entdecken, und selbst diese weicht in der englischen hs.
darin ab, dass die eingangsworte in französischer fassung gegeben
sind : A la feste sui venue, et osten dam quare etc. str. 1 — 11
stecken auch, jedoch mit mannigfachen Variationen, in einem von
Blume tlllume-Dreves Anulecla hijmn. wxin 289 /f) veröffentlichten
gedieht als str. 1 — 6, 11 und 9; str. 4 — 9 au/'serdem auch noch
in dem stücke 'Sur le jugement dernier' bei Du Meril Poes. \>o\>.
122//' als str. 8 — 12, jedoch ist hier 12 eine irrtümliche Zu-
sammensetzung je einer hälfte von 7 und 8 im H. die letzte
strophe (12) ist wörtlich übernommen aus dem gedieht Tempus
aeceutabile, wo sie an dritter stelle steht (Wright Mapes Ö2ff',
auch in 11 als nr 7). mit ihrem offendimus [v. 1), duich
der dichter auf einmal mit einschliefst in die sünderschar, ist sie
Iner ebensowenig passend wie der gröste teil der zn anfang ent-
lehnten verse. wie im eingang des ersten Stückes dieser sammlun
190
bü.mi;r
au/ serhalb des strophengefüges Ovid-verse hergesetzt waren, so hängt
der dichter hier der nennten Strophe ein kurzes citat aus einem
cyrographum, wie er sich ausdrückt, an : es ist psalm 61, 11 di-
vitie si affluant, nolile cor apponere. vgl. unten nr 9 dieser
Sammlung str. 1 1 . der regelmä/'sige fluss der vagantenstrophe ist
an mehreren stellen unterbrochen. 2, 1 fehlt die Senkung des
2 fu/'ses, doch ligt hier sicher ein versehen in H vor (s. nuten).
4, 4 hat der 2 fufs, falls nicht mit der sonstigen Überlieferung clerus
zu lesen ist, eine zusalzsilbe. 10, 3 stört im zweiten teile der
hiatus, doch ist die lesung si ziemlich unsicher, da die hs. hier
undeutlich geschrieben ist. vielleicht ist ein anderes einsilbiges wort
dafür einzusetzen oder statt si et : etsi zu schreiben, vom tact-
wechsel ist in 8 fällen gebrauch gemacht.
Invectio contra prelatos.
1 Estuans iotrinsecus ira vehementi
in amaritudioe loquar niee menti:
factus de maleria vilis elementi
folio sum similis, de quo ludunt venti.
2 Semper est [!] vitium [!] viro sapienti
super petram pouere pedem fundamenti;
miser ego comparor fluvio labenti
sub eodem aere nunquam remanenti.
3 Ad hoc festum venio et ostendam, quare
Singulorum singulis mores explicare,
reprobare reprobos et probos probare
et edos ab ovibus veoi seggregare.
1,1. Estuans H mit der mehrzahl der hss., Aestuo C2, Aestuor
ClH3. intrinsecus H u. d. meisten, interius B. 2. loquar mee H mit
BC%H*H*H*F, loquor mee C*FPS, mee loquor Z. vilis H m. FZ, levis
CXC-H^H^H^PFS, cinis B. 4. folio sum similis H mit der mehrzahl
der hss., similis sum folio (Z'.-filio) C3H-P. 2, 1. Semper est vitium H.
abgesehen von der oben besprochenen Störung des rhylhmus, die durch
Wandlung des est in enim leicht gehoben werden könnte, gibt die lesart
auch keinen sinn; sie sagt das gegenteil vo?i dem was erwartet wird.
Cum sil michi proprium C, Cum sit modo pr. H3, Cum enim sit pr. (mit
taclwechsel) U'riglit nach //2, Cum sit enim pr. besser die übr. viro H
richtig mit dtr mehrzahl der hss., vero PS. 2. pedem H (mit petram
ponere allilterierend) sl. sedem. fundamenti // richtig mit den übrigen
gegen fiimamenti F. 3. miser // sl. stultus. fluvio H richtig m. d.
meisten, folio Z. 4. aere H mil den übr. gegen tramite B.
HERDRINGEN VAGANTENLIEDERSAMMLUNG 191
4 All terrorem omoium ?eni locuturus :
oichil esl < | n <>d limeam, valde sum Becurus.
Sermo meus percutit velul »-ums durus,
(iiiniis clrrn us audial Bim p lex el matorua !
"» Puuiendi presules sunt el cardioales,
abbates el monacbi sunt symoniales;
Sacerdotes emuli, clerici veoales
coogregaotes iugiter opea temporales.
6 Quanto plus accumulant, tanto plus marcescunt,
sunt vclut ydropici, qtiorom membra crescunt ;
qui plus bibunt, sitiunt magis et arescuot:
>ic av;iri miseri ounquam requiescuat.
: Quid est avaritia nisi vilis cultus,
vaoitatum vanitas, cordium tumultus?
pereunt divitie, perit homo stultus,
miser postquam moritur, statim lii sepultus.
s In sepulcro Legitur vili tegumento,
deportatur postea miser in tormenlo;
quatitur suppliciis, ut arundo vento,
redimi non poterit anro vel argeoto.
fi Igitur apponere cor dod deberetis
in mundanis opibus, quas vos possidetis;
cuncta transitoria sunt her, que videtis,
legite cyrographum el invenietis:
divitie si affluant, oolite cor apponere.
10 Quare dum in prandio, clerici, sedelis,
hostia pauperibus claudi vos iubetis?
4, 1. veni //, Surgam Du M(rril), Bhuim). 2—4 bei Du 3/., BL in
der folge 3. 4. 2; 2. timeam /////., timeo Du M. 3. Sermo meus H mit
cod. I nravien. 374(306) cfr. die Varianten bei BL, meus sermo DuBt.,
Noster germo BL 4. clericns //, clerus Du M., Bl. 5, 1. sunt fehlt IL
2. sunt symoniales//, nigrae moniales Du JH., sanclimoniales ///. 4. iu-
giter /////., insimul Du M. 6, 2. merobra //BL, mala fehlerh. Du '/.
3. qui //, dum Du M., Cum BL et arescunt // mit cod. Varav. und Du •/.,
exarescunt Bl. 8, 2. deportatur ff, deputatur ///. 4. poterit //, prae-
valet BL vel //, nee ///. 9, l. Igitur apponere cor non deberetis //.
Ergo cor apponere magis non debetis Du M.; bei BL fehlt dieser vert,
dafür ist statt des in II angehängten psnlmeu-citats als r. 4 in die slr<>i>h<-
eingefügt ; Nihil horam proprium est, que vos tenetis. 10, 1. rlerici //.
praesules HL 2. claudi vos //, ilaudeie Bl.
192 BÖMER
pauper ciamal fortiter, si et vos siletis,
vix ei de reliquo datur, quod habetis.
11 Nunc in lectis mollibus, clerici, iacetis
cortiuis circumdati simulque lapetis ;
unde vobis uuncio : si modo gaudetis,
in i'uturo seculo kve, ve, ve!' dicetis.
12 Graviter ollendimus regem maiestalis,
sed nos indulgentia summe trinilatis
suam nobis gratiam afferendo gratis
sauet a languoribus, mundet a peccalis!
Amen.
10, 3. fortiter si et vos siletis //, vocibus admodum quietis Bl.
4. vix ei H, Cui vix Bl. 11, 1. Nunc in lectis mollibus //, Vos in torreu-
matibus Bl. 2. circumdati simulque H, et palliis, verneis Bl. 3. si
modo H, modo si ohne lactwechsel Bl. 12, 3. afferendo //, conferendo
ff'r. und H nr 7.
5) Tractatus de partu beatae virginis.
Anfang: Gratuletur omnis muudus.
Du Meril Poesies inedites (1854) 297 ff hat das stück nach
einer Pariser handschrift (P) als zweites von 3 schaler- weihnachts-
liedern veröffentlicht, von Blume ist es darnach in die reichhaltige
Sammlung von 'Cantiones scholasticae' aufgenommen (Anal. hymn.
xlv 82/") tinter Zuziehung eines collect, ms. Victorinum saec. 13.
Lesarten von H. 1, 2. esse mundus. 3, 5. salval, wie
schon Du Meril richtig stall selvat von P vermutet hat. 4. 4. Ad
iil H, audit Bl(ume), wie Du Meril bereits statt des fehlerhaften
audet von P conjicierte. 5. 6. P Usl justo carni munere. niunere
reimt jedoch nicht auf virgine (v. 3). Du Meril dachte an semine.
H richtig numine, doch bleibt das auch hier Überlieferle carni in
Ci.rnis zu bessern oder es ist mit Bl. iunclo st. iusto zu lesen.
6. 1. Riibus, wie Du Meril schon aus Hübet von P besserte.
4. Ardet rubus, richtig mit Bl. P hat stall rubus : iubel, was
sinnlos ist. Du Meril schlug rubel vor. 7, 2. mundi venit decus.
4—6 ganz abweichend : IS'atus sine semine
de maria virgine
partus liie mirabilis.
8, 5. earo nullit nuliini P. Du Meril conjicierte statt des sinnlosen
nubiui : luinini. Bl. hat richtig : Caro nubit numini, H mit Um-
stellung nubit caro numini. 6 fehlt in P u. bei Bl. ; Du Meril hat
den vers et nascilur deiias mit lactwechsel eingesetzt, Bl. : Naeettur
divinitas. es ist zu lesen mit U : nubit carni deiias. 10, 2. dignuin.
ÜERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLI NG 193
4. in te Hill., inde /': ersleres vorzuziehen. 12.6. voto flau de»
rinnlosen vice /'. Voci ///.
13. »'"/' /'.• Aures tuas aperi ;
da quod pelunl pueri
ludendi licenliam,
aostra quod infantia
inaiii laudel gratiam !
In die Strophe 1 vers tu wenig zahlt, hat Du ftfe'ril muh >. \
die seile summa cum laetitia, />'/. Pro tali licentia eingesetzt, in
Wirklichkeit fehlt der 1 vers der Strophe; er lautet nach II data
sii licenlia.
6) Principium magistrale.
ihis gedieht ist ebenso wie das vorige, mit dem es auch m der
fort)) übereinstimmt, ein schüler-weihnachtslied. es ist knaben in den
iinim! gelegt, die ihren lehrer begrüfsen und als die blute dei
docioren preisen, ihn daran erinnern, dass 'Ins weihnachtsfest vor
der türe stehe [dessen wunderbares geheimnis sie hübsch besingen),
und ebenso wie in dem vorhergehenden stärk mit der bitte schliefsen,
ihnen freizugeben, ihr ijeist. der vom vielen studieren abgespannt
sei, bedürfe der erhotung. der könig des himmels solle dem lehre)
alle seme sündtn vergeben, trenn er ihre hitto erfülle, sie versprechen
dafür reinen herzens dem feste entgegenzugehn. vgl. zn dem
thema Haureau Not. et extr. n 30 ff und vor ollem die 'Cantiones
scholasticae' bei Blume Analecta hymn, (vgl. oben nr 5). in den
hier mitgeteilten liedern finden sich zahlreiche anklänge an das
unsrige. in 2 versen (2, 3 u. S, 3) ist tactwechsel angewant.
Principium m a g i s t r a 1 e.
1 Doctor, ave, flos doctoruin, 3 Ecce, dies est propinqua,
preces auili puerorum dies felix, dies in qua
tibi supplicantium! virgo cristum peperil !
Tu facetus, tu i'aeundus, Cuius partus puellaris,
uulli par es aut seeundus, regis ortus salutaris
imniit primus omninm. vite portam aperit.
2 Sunt lionesti tibi mores, I Mundo prius desolato
semper vires, semper flores primi patris pro peccato
per eunetos scientia. venit pacis ountius.
In te virtus nulla tabet, Prodit proles virginalis
suum in te locum habet summo patri coequalis,
multiformis gralia. summi patris tilius.
Z. F. D. A. XL1X. N. F. XXWII. 13
194
BÖMEH
5 Verbum patris incarnatur
neque virgo violatur
propter puerperium.
Servus esse non dedignans
fuit honio se designans
nostre carnis socium.
6 Luua soli copulatur,
oeuler tanien eclypsatur
aut clefectum patitur.
Virgo parit mundo ducem,
regem celo, cecis lucem,
dum rex regum nascitur.
7 Fecundata celi rore
pretermisso partus more
virgo parit hominem.
Virgo profert ex se florem,
creatura creatorem,
lucis plenitudinem.
8 Sensus noster iam marcescit,
et in nobis refrigescit
iam fervor ingenii.
Si queratur, quis hoc fecit,
respondemus : nos affecit
labor frequens studii.
9 Quia vero nos labore
pressi sumus, in honore
iesti da licentiam !
Sic dignetur rex celorum,
exoptatam peccatorum
tibi dare veniam.
10 Regi regum occursuri
studeamus esse puri
sana conscienlia,
ut in sede maiestatis
gaudeamus cum beatis
in celesti patria ! Amen.
7) Rhythmus goliardorum.
Anfang : Tempus acceptabile, tempus est salutis.
Wir besitzen von dieser mahnung zur umkehr auf dem wege der
sünde zwei alte ausgaben, die erste von Flacius Ilfyricus Varia
doctorum piorumque virorum de corrupto ecclesiae statu poemata
([1556], neudruck 1754; nach letzterem citier ich) 145/f und
dann einen neudruck von JWolf Lectionum memorabilium et recon-
ditarum centur. xvi (1600) i 441 ff", der text des Flacius Illyricus
ligt auch der ausgäbe von Wright 'olff zu gründe, auf welche ich
mich im folgenden beziehe, der titel lautet hier : Praedicatio goliae
ad terrorem omnium.
Lesarten von H in der folge des Wrightschen textes.
Die ab weichungen der hs. H sind sehr beträchtlich, sie hat nicht
nur 6 Strophen iveniger, sondern auch Umstellungen ganzer Strophen
und einzelner verse , sowie lexl-varianlen in erheblicher zahl. H
scheint die ältere fassung zu repräsentieren, slr. 1, 2. excutere.
3. gladium als accus, graec. 2,2 u. 3 umgestellt. 3 animam.
3 u. 4 umgestellt. 4, 1. lora, was als object von reslringamus
passender ist, als das vielleicht auf einem versehen beruhende ora.
2. si qua. 3. erigamus igilur ad honesliora, als object zu erigamus
müsle aus dem folg. vers nos ergänzt werden; oder sollte erigamur
zu lesen sein .' 4. interilum. 5,1. Torte quidam rogitat; rogilat
iii;m>m.\(.KK vai.am i:\liedersahmli ng
verschrieben st. cogilat. 2. durioribus, tu castigabo bessei passend
als vilioribus. 3. et induar. 1. donec (luat mit besserem rhytitmut
als das uns Horan Epist. i 2, 12 entlehnte dum deflual amois,
♦j, 1. lies infelicissima : cur non confiteris? 1. ezpectas. craa Forle
iimi eria mit tactwechsel. 7. 1. Quidquid ergo cogitaa. 8 — I"
fehlen; 11 hat folgende fassung:
iiaie, cleriei, qui e! qualea silis '
\rl quod in iudicio dicere poteatia:
mm eril hie aliquis locus in digestis,
idera ent dominus auetor, iudex, ii'sti>.
Gegen die echtheil von s — 10 erhellt sich ein sweifel. von
thi beschreibung des gerichls in 11 — l.'l. die durchaus genügt, und
in s — 10 schon manches vorweggenommen, der gedanke von 12 bei-
spielsweise, dost et in im gerichte Lein ansehen der person gibt, ist
in 9 in etwas andern- form schon ausgeführt. L2, 2. dignilaa papalis.
14. \i) fehlen: der hieb auj die lichter der damaligen zeit (14).
mit denen der urheber der Strophe vielleicht schlechte erfahrung
gemacht hatte, macht ganz den eindruch eines einschiebsels.
16. 1. 2. Veslros, ait dominus, renes accingatis,
hoc est sine dubio zona castilatis
Die bibelstelle steht Exod. 12,11 (Renes veslros acciogelis).
der ausdruck renes accingere kommt nur dieses eine mal in der
schrifl vor. ganz geläufig dagegen ist in der Bibel die redenaart
lumboa accingere. deshalb ist Wr.s lumbos accingatis vielleicht ein
späterer ersatz des selteneren renes acc. 3. lucernam manibua etiam
feraiis. zu anfang fehlt eine silbe; Wr. : banc. 17 fehlt. 18. 2.
dedit. 3. informare moribus, richtig statt des unverständlichen in
[ervore, moribus bei Wr. 4. ut vos et; UV. besser ui el vos.
das letzte wort des cerses in II undeutlich , es scheint laureare zu
heißen. 19 fehlt. 20 un(er abweichender anordnung der haupt
beslandteile der Wr. sehen Strophe in folgender fassung:
Sacri vos presbiteri, sacri vos propbele,
quod vobis paratum est, regnuin possidHf,
quod vobis paratum est sine meta niete;
benedicti filii, mecum congaudele!
Hier ist das quod vobis paralum est wirkungsvoll widerholt,
nährend bei Wr. das benedicti filii von r. 1 in v. 1 widerkehrt.
die worte dieser Strophe ruft Gott den guten prieslern zu. wir
müssen also in II aus dem laureare — wenn so zu lesen ist — von
lv l ein verbum des verkündens heraushören, weil ihm das zu
kühn erschien, hat vielleicht der redacleur des Wr. sehen textes str. 19
eingeschoben . dabei aber wider insofern eine unglückliche band
bewiesen, als das moribus erudire von 19, 2 schon in IS. 3 voraus-
gegangen nur. auch diese möglichheit bestärkt mich in der annähme,
1 übergetchr. eslis, was durch den reim gefordert wird.
13*
196 BÖMER
dass H einen ursprünglicheren lext bietet als Wrighls bezw. des
Flacius Illyricus vorläge *.
8) Evangelium de illo qni incidit in latrones.
Der vulgatatext von Lucas x 25 — 37 mitsamt einer mystischen
uuslegung, wie sie das mittelalter neben der historischen und mora-
lischen erklärung liebte, in die poetische form der vagantenstrophe
gebracht. der dichter will wie ein geistlicher die unwissenden
belehren und solche, welche sich an der vollen börse ihrer mit-
menschen zu vergreifen wagten, durch den biblischen appell an die
nächstenliebe auf den rechten xoeg führen, als vorläge für die
mit der 12 Strophe beginnende mystische inier pretation des evan-
geliums scheint die Expositio in SLucae Evangelium des Beda
Yenerabilis gedient zu haben (Migne Palrolog. s. L. 92 (1S50)
468 ff)., wo es heifst: Homo iste Adam iutelligitur in genere
humano. Jerusalem civilas pacis illa coelestis a cuius beati-
tudioe lapsus in haue mortalem miseramque vitam deveuit. Quam
bene lericho . . . significat . . . Latrones diabolum et angelos
eius intellige . . . Plagae peccata sunt . . . Sacerdos et levita
. . . sacerdotium et ministerium Veteris testamenti est, ubi per
legis decreta mundi languentis vulnera monstrari tantum, uou
[* herrn pro f. WilhMeyer verdank ich den hinweis, dass das gedieht
auch von Blume (Analecta hymn. xxxiii 292/7) veröffentlicht ist. diesem
texte steht H näher als dem Wrightschen, wofür vor allem der umstand
spricht, dass dort auch die verdächtigen strr. 8 — 10, 14 und 17 fehlen,
die in H nicht überlieferten strr. 15 und 19 hat Blume. 19 ist also
doch vielleicht ursprünglich und in // irrtümlich ausgelassen. 4 — 6 er-
scheinen bei Blume in der folge : 5. 6. 4. am schluss hat er noch eine
slrophe mehr, in einzelheilen stimmt H mit Blume gegen Wright überein
in den oben angeführten lesarten zu 1, 2. 2, 2 und 3 (xtellung). 4, 1. 3
(aber : Erigamur). 5,2.3.4. 6,1. 11,1 — 4 (mit folgenden kleinen ab-
weichungen : 1. qui vel . . . estis. 2. Et quid. 3. aücui. 4. iudex, actor,
testis). 12, 2. 16, 1. 2 (mit der abweichung : Quod est absque). 18, 3. 4
(laureare). 20, 1 — 4 (nur 3 metu). Blume steht mit ff rigid gegen H :
1, 3. 6, 4 (forte cras non eris). 7, 1. 18, 4. endlich weicht Blume von
Wright und H an folgenden stellen ab : 1, 2. regnum st. iugum. 3, 2. Qni
nos per clementiam. 4, 4. Ne nos ad interitum (so auch H) trahat. 7, 2. El
corde et opere. 13,2. sive ianjtori. 18, 3. in spe. an soJistigen laa. von
Blume sind noch zu verzeichnen : 2, 3. animos. 2, 4. miseros. 4, 2. Si
quae. 5, 1. Forte tarnen cogitas. 6, 4. Exspectando Senium. 16, 3. Ac
lucernam etiam manibus feratis. 18, 2. iubet.]
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLUNG 197
auiem curari poterant . . . Samaritanus . . . dominum significal
. . . I ii in *' n t ii in eius esl caro, in qua ad mos venire dignatus
♦■st . . . Stabulum autem est Ecclesia praesens. . . . Duo denarii
muh duo Testamenta. — von den S<> versen weisen nicht weniger
als "21 im doch, siebensilbler und 8 im sechesilbler tactwechsel auf,
der eigenartige bau des 1 verses ist durch das beibehalten de%
stereotypen Wendung gerechtfertigt. s, 3 fehlt in der ersten hulfte
eitie silbe; wenn nicht ein versehen angenommen wird, ligt die
/onn _^w-w_ (videns et aüdiens) vor. 12, 1 hat im zweiten
fufs doppelsilbiye Senkung, aufser dem 1 verse, der aus dem
genannten gründe eine besondere Stellung einnimmt, findet sich 3 mal
hiatus im innern der vershälften (7, 3. 9, 2. 13, 4).
Ewangelium de i 1 1 o , q u i i n c i d it in I a t r o n e s.
1 Lectio saneti ewangelii seeundum Lucam,
ut vice presbiteri nescientes ducam
El illos ab invio ad viam reducam,
qni bursani pre pondere faciunt caducarn.
2 Quidam venil ad ibesum legisperilorum
temptans et inlerrogaus viam mandatorum:
•tu qui solus, domine, deus es deorum,
quid agam, ut partieeps regni sim celoruni ? '
3 Respondit : 'ut per te sint leges adimplete,
primum deum dilige, fruetus dei mete:
Secundo de pioximo cura sicut de te,
biis duobus lota lex pendet et prophete.'
4 '(Juis est mens proximus?' 'quidam', ait, 'forte
bomo de iberusalem descendens consorte
careos, cui niiserie patueruut porle,
in latrones ineidit miseranda sorte.
5 Latrones buic obviam bornini venerunt,
quem veslibus propriis expoliaverunt,
Et plagis impositis eum reliquerunt
tamquain semimortuum ; post hoc abierunt.
Semivivum deserunt illum vulneratum
deseruntque spoliis suis spulialum.
Presbiter lmnc transiens vidit sauciatum
indignansque preterit eius et affatum.
198 BÖMER
7 Accidit et preteril postea levita,
nudum panois vidit liunc nudum fere viia
videtque, quod illius viia est invita ;
sicut primus fecerat, secundus et ita.
8 Traoseunlem repperit virumque prophanum
venieDtem legimus et samaritanuin;
videns et audiens clamautem in vanum
misertus auxilii porrexit luiic maoum.
9 Huius vino vulnera oleoque lavit
et misericordiler Iota alligavit;
In iumentnm positum secum apportavil
et hunc stabulario pie commendavit.
10 Excrutatur viscera proprie crumene,
duos nummos repperit dicens : "irater, tene!
Et huc cum rediero, reddam tibi pene
et laboris prelium expensasque plene."
11 Quis eorum proximus iudicatur a te?
Respondes : in pauperem motus pietate.
Vade, fac similiter, iudicasti rate !
Magnum est misterium pagine narrate.
12 Adam fuerit homo hie, civis preelectus
caelestis ierusaiem, Jbei ico deiectus ;
multa mala passus est ad terrena vectus,
primo mundus sordibus post bec est infectus.
13 Lairones sunt demones, plage sunt peccata,
que nobis peccantibus ab hiis sunt illata;
Immortalitatis est ade vestis data,
sed per eulpam modo est bec vestis sublata.
14 Presbiler significat gentilem obtusum,
levita Judaicum populum confusum;
neuter ade coutulit pietatis usum
neque malum illius per hos est exclusum.
15 Tertius misericors, qui samaritanus,
id est cristus porrigens pietatis manus.
Miseri misertus est nee est labor vanus,
quo medico factus est semivivus sanus.
16 Vinum peniteutie dieimus rigorem
et mysericordiam olei liquorem ;
1 1,2. hs. fälschl. Respondens. 12,1. doch wol fuit? 14, 2. hs. fälschl. levitam.
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLl NG 199
Jumeolum significal carnero, qua merorem
cristus DOBtrum suatulit, onus el laoguorem.
n Stabulum ecclesia rede uuncupatur,
rede stabularius presbiler vocatur ;
iah stabulario eger commendatur,
a cuius auxilio eger recreatur.
L8 Eique deoariis duobua oblatis,
duobus videlicet testamentis datis,
Jussit eum pascere, ut sie vos credatis,
lins, pastores, epulas dalas ut pascatis.
19 In(|uit : 'ego veoiam vobis redditurus,
quidquid equum fuerit, super hoc faciurus.
() qui male pascitis, index est veoturus
rationem asperam vobis positurus]
jii Ad cor coDverlimioi criatum conhientes,
verbis et operibus vobis referenles;
laciat vos dominus gregem sie pascentes,
ut sitis per omnia secula viventes.'
Explicit.
9) Altercatio vini et cerevisiae.
In der vagantenliteratur bekannt sind zwei rangstreite zwischen
ic ein und wasser: 1) ein ernsterer, lehrhafter, beginnend: Ctim
lenerent omnia medium lumultum [Wright ST//', Bömer in Zeitschr.
/. vgl. litt.- gesch. n. f. 6, 123//). in dem der berauschte dichter sich
im träume in den dritten himmel versetzt sieht und hier einer
auseinandersetzung zwischen Thetis (aqua) und Lyaeus. (vinum) vor
dem throne Gottes beiwohnt; 2) ein jugendlich kecker, anhebend
Deoudata veritate {Du Meril Poes. ined. du moyen dge 303, brwh-
stück bei Schneller 232/"), in dem der wein sich in köstlicher
yrobheit gegen eine Vermischung mit dem wasser verwahrt, natürlich
fällt der streit beide male zu gunsten des weines aus. vor ihm muss
auch das bier stets zurückstehen, dus ist auf serhalb der vaganten-
litteratur der fall in zwei lateinischen gedichten Feters von Blois
(f 1198) (Migne Patrolog. s. L. 207, 1155/f), und so lautet
dus urteil auch in unserem stücke, das übrigens mit Jenen keinerlei
Übereinstimmungen aufweist, dort werden namentlich gesundheitliche
gründe gegen das bier und für den wein ins fehl geführt, hier
sin 4 andere eiwägungen entscheidend, dem biere wird seine weite
200 BÖMER
verbreit uny zu gute gehalten, in Alemannien, im Hennegau, in
Brabant und in Flandern, im reiche Friedrichs — die angäbe wirft
einiges licht auf die entstehnngszeit des gedicktes: es wird sich um
Friedrich i handeln — und in Sachsen, überall wird es getrunken;
alle stände, classen und geschlechter der menschen laben sich an ihm.,
dem weine aber werden besondere wunderbare kräfte zugeschrieben,
es sind die allen oft besungenen: er gibt den äugen doppeltes licht,
macht greise wider jung, nimmt dem herzen die sorgen usw.
natürlich wird auch seines woltätigen einflusses auf die ausübung
der künste und Wissenschaften gedacht, der dichter bemüht sich mög-
lichst unparteiisch zu erscheinen, indem er jedem der beiden getränke
fünf Strophen des lobes zuweist, in der 13 Strophe — zwei waren
als einleitung vorausgeschickt — beginnt das urteil, sicher hätten
beide teile ihre Vorzüge, wenn man die dinge jedoch richtig betrachte,
wäre der irdische trank dem göttersohn Bacchus gar nicht vergleichbar,
verf. xcollte lieber über die meere fahren, als im bierkeller sitzen
und den geruch der fässer dort ertragen. Bacchus dagegen duftete
schöner, als Weihrauch, rosen und lilien; ihm also wäre lob und
und alleluja zu singen. — an poetischem wert überragen die beiden
rangstreite zwischen wein und icasser unser gedieht bei weitem,
hier stellt der dichter selbst von an fang bis zu ende in ziemlich
trockenem tone betrachtungen über den wert der getränke an und
zählt erst die Vorzüge des einen, dann die des andern auf, um
darauf ein gar nicht einmal besonders gut motiviertes urteil zu
sprechen, dort werden die streitenden persönlich auf den kampf-
plalz geführt, um in rede und gegenrede ihre sache zu verfechten,
das belebt die darstellung au fser ordentlich. — auch die versform
unseres gedichtes besitzt nicht die frische und lebendigkeit der beiden
anderen, es sind 15 Strophen aus je 4 sämtlich untereinander
reimenden zehnsilblem mit 2 trochäen als basis (vgl. W Meyer Ges.
abh. z. miltellat. rhythmik i 300 f). str. 11 ist ein Ovid-vers (Ars
am. i 237) als citat angefügt ; vgl. oben nr 1 dieser Sammlung, ein-
gang und nr 4, str. 9.
Altercatio vidi et cerevisie.
1 Ludens ludis miscebo seria,
ne fatiscant mentes per tedia :
nunc de haclio, nunc de cervisia
traetans lites traetabo iurgia.
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLUNG 201
_■ Assil ergo vestra inlentio,
DOQ tllliliillli, sed ciiin sileutio,
explicelur hec disputatio,
ad boc tendil mea petitio.
Mutti quidem laudaol cervisiam,
parvipenduot baclii potentiam ;
laudant, inquam, fesluce lih.nn
el coDtempnunt deorum gloriam.
4 Nam quia credunt summum exisiere
— oe vt'liniiis verum deprimere —
aquam, credunt oasci <ie feiere
et de claro oeptuoi genere.
5 Kius regnum e>t alemaonia,
baouooia, brabantis, Qaodria,
frederici regnum, saxonia,
terra ponlus predives, omuia.
6 lnde bibiuit reges, pontifices,
beremite, archipontifices,
Continentes, matrone, pelices,
lnde summas recundat calices.
7 Piacet letis, placet dolentibus,
placet parvis, placel maioribus,
placet sanis, placet languentibus.
Quid euarrem? hec placet omuibus.
E Vestre quidem palet notitie,
que sit virins, que laus cervisie ;
videamus cum mentis acie,
quante bachus sit efficacie.
9 Bachus multis pollet miraculis :
bachus duplex dat lumen oculis ;
bachus reddit iuventam vetulis,
bachus oummos refert a loculis.
10 Bachus mentes a curis liberal,
bachus omne latens considerat ;
bachus usus semper desiderat,
bachus nexus doloris lacerat.
11 Bachus est fons totius «audii,
bachus semper vult tempus otii;
202 BÖMEIi
bachus levat pondus supplicii
iuxta versus istos ovidii:
'Vina parant animos faciuntque coloribus aptos.'
12 Bachus rethor, bachus est phisicus,
Est legista, est dyaleticus,
Gramancans et astrouomicus,
<ieometer et bouus musicus.
13 Satis probat bunc et haue ratio,
sed si veri hat discussio,
parum valet hec comparatio
de hoc potu cum dei Glio.
14 Ego mallem transire maria,
quam sedere iuxta cellaria,
ubi iacet festuce filia:
tantum feteut illius dolia.
15 Bachus vero viueit flagranti*
thus, aroma, rosam et lilia;
bacho demus laudes cum gloria,
decantemiis omnes alleluya!
Explicit.
15, 1 hs. irrtümlich : fraglantia. vgl. nr 12 dieser Sammlung, v. 100
verschrieben : faglantia.
10) Principium magistrale.
Der neue magister bittet den vater im himmel, seinem gebrech-
lichen schifflein günstigen wind zu senden und es vor dem drohenden
Schiffbruch zu bewahren, damit er mit seinem kindlichen sinn nicht
zum gespötte der mitweh werde, auch den hl. geist , den doctor
praeoius, und die Jungfrau Maria ruft er um beistand an. neider
braucht er bei seiner unbedeutend hei t nicht sm fürchten, wenn
er bescheiden ist und nicht mehr begehrt als eben notwendig, getreu
dem Horazischen cupias quodeuuque necesse, so folgt er damit
einer höheren Weisung, die ihm im träume zu teil geworden ist.
wie das zugegangen, will er, wenns den Zuhörern beliebt, erzählen :
An einem schönen frühlingstage ist er zum studieren auf eine
blühende wiese hinausgegangen, aber der süfse gesang der vögel
hat ihn die bücher bald vergessen und in schlaf sinken lassen, da
ist eine Jungfrau von wunderbarer Schönheit an ihn herangetreten
und hat ihm die lehre gegeben, wenn er jetzt die doctorwürde
HERMUNGER VAGANTENLIEDERSAMMLI NG 203
erlangte, nicht stolz zu werden wie so viele andere, damit et ihm
nicht erginge wie dem Pirneos (str. 17; 16, i : uovus ardei
der geglaubt habe, den muten gleichkommen zu können, abei elend
zu (jrunde gegangen sei. herablassend :" sein gegen die jüngeren,
seine tchüler, und ehrfurchtsvoll gegenüber den alteren, dahin möge
erstreben, dannkönne er das übrige getrost dem Schicksale überlassen,
Es ist bekannt, mit welcher vorliebe die dichter des mittelaltert
solche erscheinungen fingiert haben, wie hier eine erzählt wird, m
tlcm nächsten prineipium magistrale dieser Sammlung (nr \1> wird
uns eine ganz ähnliche anlaye des ganzen entgegentreten.
Die form unseres gedichtet ist eigenartig : Strophen der seit
W alther von Lille bekannten art, in denen 3 rhythmische, verse der
Vagantenstrophe mit einem yern aus der classischen litteratur ent-
lehnte)! hexameter als schluss- und recapitulationsvers — der sog.
auetoritas — durch den reim verbunden sind, wechseln mit Strophen
aas 4 hexametern. die der ersten art, xcelche das stück eröffnen
und beschliefsen, weisen neben dem endreim yröstenteils auch cäsur-
reim in der form aaaa auf; ausgenommen sind die Strophen .">.
11. 17. 19 und 23, in denen die cäsur des Hexameters nicht mit
ileuen der rhythmischen verse reimt, bei den letzteren hab ich m
der ersten hüljte 12 mal, in der zweiten 'Smal tactwechsel gezählt.
die vier hexameter der geraden Strophen sind leonini, die zugleich
auch durch den endreim paarweise verbunden (caudati) sind, also
sog. unisoni t\V Meyer Ges. abh. z mittellat. rhythmik i 1905,84).
unregelmdfsigkeit : 4, '1. — zu einer solchen mischuny von accen-
tuierenden und quantitierenden stücken in ein und demselben
gedickte vgl. \Y Meyer i 333.
Pr i n ci p i u m magistrale.
1 Summe clator munerum domiuans in celo,
ad te, salus paupemm, Limidus anhelo:
Datum pande prosperum naufraganli Felo,
teque salutiferum fragili concede pliaselo.
2 Da imclii divioam, deus alme pater, medicinam,
ne michi vicinam possim sentire ruinam.
Cum sim res humilis, ue sim derisio vili>,
Esto michi lacilis, quia sensu sum puerilis]
3 Veni, doclor previe, salus generalis,
virtutis et glorie dator specialis,
204
BÖMEH
donum michi gratie
Cesset ut invitlie
4 Plena pudicitia,
tu lenis esto michi
0 venie veoa,
cor tene, cor frena
5 Iovidi non debeo
humilis sum adeo,
Livoris aculeo
Ingeuium magnum
6 Sicut habel res se,
nam legis expresse :
Cur dissentire
Si placet audire,
7 Sol wundum adduxerat
Sed iam relegaverat
verque novum venerat
terraque protulerat
8 Tempus tarn gratum
impulit in pratum
huic dabat humorem
Nulli maiorem
9 Dum crederem studio
pulcri loci gaudio
dum volucres audio,
harum modulatio,
10 Ut datus est sopor a
afluit absque mora
banc ubi spectavi,
Cunctaque laudavi}
11 Tanta pulcritudine
quod se celi semine
ratioois nomine
atque loquens mecum
12 lTu, qui doctor eris,
si michi credideris
5, 4 Ovid Remed. am. 365.
müdü, verschrieben statt nüdü, wir
10, 2 hs. : afbq^.
dona spiritalis,
vis et timor exilialis!
mundi spes, virgo maria,
nie precedente sophia!
lux mundi, virgo serena,
cum sobrietatis hahena !
morsum revereri,
quod non licet queri.
magna solent teri:
livor detractat homeri.
me sie humilem decet esse,
cupias quodeuuque necesse.
michi non licet ex humili re,
cupio vobis aperire:
nimios calores,
hyemis algores,
terre pandens flores,
natos sine semine flores.
studio me sollicitatum
redolenti flore beatum;
fons proximus, herba nitorem,
tribuit natura decorem.
primo me teneri,
cepi commoveri;
dum applaudit veri
potui dormire videri.
volucrum michi voce canora,
coram me virgo decora ;
faciern eultumque notavi
quia dignam laude probavi.
verbo preminebat,
natam ostendebat;
fungi se dicebat
tali me voce monehat:
doctoris honore frueris,
et si mea iussa sequeris,
6, 2 Horaz Epist. i 2, 46. 7, 1 hs.
der codex stets für nondum hat.
HERDRINGER V AGANTEN LIEDERSAMM LI NG
201
Subditus errori
Meute teile metimri
t:: .Mnlt(»s magisterio
superbie vitio
|i/(/s quam essel ratio
Vidi priocipio
lt Hoc manifeslari
Musis laude pari
Stliltll> iter lernen-
ipse mit propere,
15 Pyeriaa dicitur
per quem oovi traditur
qui oimis aggredilur
Pennis ipse careos
16 Si quis scrutelur,
Equivalens rletur :
A me iion oritur,
Seil sicu( le^itur,
1" Pir boc idem i mlicat
quod ignis siguificat
neu- in >\ u in predicat,
Signatur oovitas
i^ Ne profectura
Mota cui cura,
Ut per te moniti
doctores soliti
19 Duas tibi seniitas
prior est bumilitas,
Superbie vanitas
Esl via que sequitur
20 Ut vivas licite,
Cures sollicite
Cunclis dedecorem
haDC fugiendo rem
21 Sis gralus minorihus
et supplex maioribus
13, 3 hs. fälschlich : puls.
15,4 hs. fehlerhaft : Pennis
piecipitatu/- in den text geraten]
ne vivas atque pudori,
tibique succedel liouori.
rede utentes
\idi coberentes ;
de se presumentes,
tumidos in üne ruentes.
per eum valel atque probari,
qui credidit equiparari.
posl haa dum vellel abire,
confractaque membra fuere.
niiisas imitatus,
magistrantis Status,
appeteos volatus,
ad terram precipitalur.
hoc quod per Domen habetur,
novus ardens invenietur.
quod nomeo sie aperitur.
scriptum libris reperitur.
in lingua grecorum,
seosu latioorum;
per quod magistrorum
studiumque fervet ein um.
fugiendo petas nocitura,
venio te premooitura,
sint te mediante periti
uimis ad sublimia nili.
mooslro nee ignores :
haue sequi labores.
iuvisa deo res,
niaculans meritos sibi mores.
iniclii credas, ac humili te
semper supponere vite,
mentis depone tumorem ;
queres tibi semper honorem.
eos ioformando
eos veneraudo;
ipse carens labitur fwol von glosse zu
ad terram preeipilatus.
206 BÖMER
Sic placebis omnibus laudeoi tibi dando.
Hec sunt pre manibus, fortune cetera mando.'
22 Verbis fiue dato, monitu michi notificato,
virgo de prato somni torpore fugato,
nescia virgo more fugiens fugiente sopore
Miraudo more miro loca fudit odore.
23 Ergo te suppliciter, divina maiestas,
precor : michi iugiter per te sit bonestas,
que bonis beniguiter bona cuncta prestas,
Cui l'uit, est et erit virtus et summa potestas.
11) Castigatio presbyterornm.
Anfang: Viri beatissimi, sacerdotes dei.
Von diesem in zahlreichen handschriften erhaltenen appell an
die geistlichkeit liegen fünf drucke vor:
1) Flacius Illyricus 143 ff. titel : Golias ad Christi sacer-
dotem.
2) Wolf Lect. memorab. i 439/f', nach Flac. Illyr.
3) Wright Ab ff, gleichfalls nach Flac. Illyr. (im folgenden nur
Wright citiert).
4) Du Meril Poes, popul. 15/f, als teil eines gröfseren gedichts,
in stark abweichender form.
5) Haureau Not. et extr. vi 13^". ohne Überschrift.
Nachdem Haureau Not. et extr. m 306 neun französische und
zwei deutsche handschriften nachgewiesen (Paris Bibl. nat. 1093.
2962. 3473. 3480. 8259: Bibl. de V Arsenal 950, Auxerre 23,
Cambrai 250, College Ballice 349, München 3591. 5015), trägt
er Not. et extr. vi 13 noch eine sechste der Bibl. nat. Paris nach
(18082), um auf grund von dieser und nr 1093- 3473 und 3480
einen neudrnck zu veranstalten.
Lesarien von H. Abweichungen von Wright und Haureau.
1,1. Viri beatissimi HWr., Viri venerabiles Haur. 3. Caritate radii
fulgentis H fehlerh. st. Caritatis radio (Haur.) od. charitatis radiis (Wr.)
fulgentis. 2, 2. vera vitis HWr., als apposition zu Christus mindestens
ebenso gut, wie Haur.s verae vitis, das zu palmites zu ziehen ist.
3. avari H (näl Du Meril), amari Wr., inanes Haur. 3, 1. prolectores
HHaur., portatores Wr. 4, 3. nescietur HHaur., non scietur Wr.
4. Et ni pastor vigilet, caula confringelur H, Nisi (Nee si Haur.) paslor
vigilet, ovile frangetur Wr.Haur. (mit laclwechsel im 2 teile), 5, 3.
spinas atque HHaur., et spinas et Wr. 6, 2. a palea grana sepa-
HERDRINGER VAGANTEN LIEDERSAMMLUNG 207
ranles H (cäsurreim mit v. 1), a paleis granum separantes Haur.. i
paleis grana segregantes Wr. 4. Laicos corripere debetis errantes H,
Laici, i|in Fragiles sunt el inconstantes Wr.Haur. 7,2. credunl
HWr., dicuot Haur. .".. quidquam H fehlerhaft st. quidquid. I. ^< >lli -
citum // falsch st. licitum. s. :;. vobis dod deficiaui BHaur.,
sHiiuiii vestrum meluanl Wr. 4. 1 n »^i i um /dlsclt st. ovium. 9j 2. cibus
fehlerhaft st. ßdes, vielleicht durch ciho v. I veranlasst. 3 ul //
UV., quod Haur. 10, I. Ovibus lenemini veslria HBaur., Omnibus
tenemini viris UV. 2. quid quibus HHaur., quibus quid Wr. (m.
tactwechsel). 11. 2. dona dare BHaur., dar« dona Hr.
3/4. qunsi sauet»* fidei regula versalis
vos lepra miserrimi sin santialis (/) //
mehrfach verderbt; Wr. gibt die richtige lesari von dieser fassung:
quae si contra fidei regulas vendatis,
vos lepram miseriae ferre sentiatis
Baur. ganz abweichend:
Seil si cuiquam fidei munera vendatis,
[neursuros Giesi leprain vos sciatis.
12, 2. Gralisque conficite, gratis baplisate //
im ersten teil Wr. nahekommend (et gratis conficile m. tactwechsel
Wr., gratis confilemini Haur.), im zweiten mit Baur. Übereinstimmend
(^r.-itis consecrate UV.) '.). omnia probate II Wr. , eunetis gratis
dale Harn. 4. id quod HHaur. gegen Imc quod Wr., aber bonum
approbate HWr. gegen vestrum conservate Haur. L3, 3. vita H
aal fehlerhaft st. rania, vielleicht durch viia v. 2 reraulasst. in
der folge der 3 nächsten Strophen stimmt II mit Wr. überein, Haue.
!/ilit sie in der Ordnung 16. 1"). 11. 14. 1. paeifici HWr., benevoli
Haur. 15, 1 — 3. // m. Haur. übereinstimmend:
Eistote breviloqui, ne vos ad realura
protrahal loquacitas, nutrix vanitatum.
Verbum quod proponitis sit abbrevialum;
Wr. beträchtlich abweichend und mehrfach fehlerhaft:
Estote benevoli [!], ne vos ducat ad reatura, [vers!]
verbum quod proponitis sit abbreviatum,
per vos inter siniplices bene adaptatum,
Iti, l. Nulluni faslum expriniat H, Nullus fastus deprimat Baur.,
Nullus rastos expriniat Wr. 2. gravitatis veslium HRV., Paritalis
mentium Haur. 4. regni sunt HWr., sunt regni m. tactwechsel
Haur. Haur. hat nach 16 noch zwei Strophen, von denen die
erste (17) dem wünsche ausdruck gibt, itass die priester hur auf
erden ihr seelsorgeramt so versehen möchten, dass Gott sie dereinst.
wenn sie die cblamys caroalis ausgezogen, mit der stola aeternalis
bekleidete, während die zueile (18) weiterhin ausführt, dass Gott
sie von Sünden reinigen möge, damit sie in Abrahams scho/'s aul-
genommen werden könnten. Wr. bietet nur die erste der beiden
Strophen, mit geringfügigen textvarianlen, II keim- von beiden, viel-
208 BÜMER
mehr stall ihrer folgende andere, die den gedanken von 17 mit
anderen Worten ausdrückt :
Sic ergo vos singulis oruaie virtutibus,
ut deduclos misere carnis e carceribus
civitatis supere vos iungat civibus
rex, qui sine termino regnal in celeslibus.
die abweichende form der Strophe legt die Vermutung nahe, dass
sie anderswoher entlehnt sei, andernfalls dürfte angenommen werden,
dass der dichter ähnlich wie in stück 3 den abschluss des gedichles
auch äuCserlich hat hervorheben wollen, wie dem auch sein mag,
jedes falls ist der unregelmäCsige bau der verse wenig glücklich,
in der zweiten hälfle der zeilen 1. 2 und 4 slehn siebensilbler
statt der üblichen sechssilbler, während z. 3 eitlen siebensilbler mit
lactwechsel hat, den auch der siebensilbler von v. I aufweist.
12) Versus Primatis contra praelatos et clericos.
Anfang : Cur ultra studeam probus esse probusque videri.
Das einzige rein metrische stück der Sammlung. Flacius Ilhj-
ricus hat es nach einer hs. der Dominicaner zu Basel (B) zweimal
publiciert : im Auctarium zum Catalogus testium veritatis 46 und in
Varia doctorum piorumque virorum . . . poemata 365 ff. Wolf Lect.
memorab. i 742 reproducierte diesen text. Fierville in Notices et
extraits xxxi 1, 129 ff iceist das gedieht in ms. 115 der bibliothek
von SOmer nach, zerlegt es jedoch in zicei teile : 1) die 46 ersten
verse (nr lvi); 2) v. 41ff, beginnend Temporibus nostris mutari
secula ceruo {nr lvh). für den ersten teil verweist Fierville auf
den ab druck bei Flacius Illyricus, wogegen er den zweiten für
ungedruckt hält, obwol er als fortsetzung des ersten bei Flacius
III. veröffentlicht ist. auch ms. 710 der bibl. von SOmer enthält
eine copie der satire. abdruck auf grund dieser beiden mss. bei
Fierville ao. 130 ff. Haureau hat in zwei Pariser hss. aufzeich-
nungen des gedichtes gefunden : ms. 14193 (das ganze gedieht, auch
hier wider in zwei teile zerlegt) (vgl. Not. et extr. u 349/) und
ms. 16699 (der zweite teil) (vgl. Not. et extr. \2l\ff). die 69
ersten verse stehn auch in ms. C 58/275 der stadibibl. zu Zürich (Z)
und sind nach dieser plötzlich abbrechenden und überhaupt ziemlich
nachlässigen niederschrift von Werner ao. 139 /f mitgeteilt worden.
Lesarten von H.
In der folge des lexles von Flacius lllyr. (BJ.
V. 3 fehlt. 6. probos HB, bonos Z. 10. Hos quia Sublimat U,
Hos fert sublimes B, Hos quos Sublimat Z. das unhaltbare quos wol
fehlerhaft st. quia, wie 11 lisl. stercora HB, slercore Z, ersteres vor-
HERDRINGER VAGANTENL1EDERSAMMLI NG 209
tuxiehen. 11. me penitel esse poelam /// tu v.
poemtfi esse peritum li. 12. quielam ///. quietuui li. ll./ Pin
die. uuj grund dieses Piogo, das auch in Paris ms. L4193 überliefert
ist, schreibt Haureau das gedieht dem Petrus Picloi u. II lisl
statt Pingo : Fingu, hat also die beziehung auf den urhebei ■
Stückes [allen lassen und die stelle verallgemeinert, in II ligl
demnach eine redigierte fassung vor, ebenso wie in />', die /«/■ P
ein unhaltbares 1 1 1 <!•■ eingesetzt hat. am schluss des verses hat II
mit / und der Pariser hs„ aus der Haure'au ciliert, operari, während
in />' ein unglücklicheres venerari überliefert ist. 17. Natu mihi
quid prosunt versusque slilusque labella HZ, Nam modo oon prosunl
versus Stylus atque labella />'. L8. studiis ///. studio li. mille
//. dura BZ. 11). si loquar Uli, colloquar Z. 20. leneam magni Uli.
magni teneam /. 24. lurbine HZ, 11111111111' li. 2H. El pro ///, Ah pro
li. valuere ///. valvere li. 27. ista quidem ///, I ^ t ;• mihi B.
sola lubons //. i>t.i laboris li/. 28. Quid prosunt duri //, Quem
[auf laboris v. -1 bezüglich) faciunt duri li, Que faciuut seni Z
(kaum haltbar). 29. iueudi HZ, ;nl ineudem B. 30. relegaul
HZ, relegunt B. 31. Me remonetari Uli richtig statt des fehler-
haften Me 1:1111 monetam Z. .'!2. nummicola HZ, nummiculus ß.
Varro //, sicher versehentlich statt Maro /, Naso B. .'15 prius //,
magis HZ. .'!ti. nimirum IIB, uon mirum /. .'i7. miser esse |><>iest
//. miser esse eupit B\ letzteres vorzuziehen und auch von Wernei
eingesetzt st. des fehlerhaften cupit unser esse Z. infatuari HB
infamari Z. 40. n.imium studeat semper piger esse ff, minimum studeat,
discal piger esse B, uimium studeat discal piger esse /; diese combi.-
nation von 11 u. B naht haltbar, deshalb e<>u Werner auch minimum
gelesen. 41. homines ... perdueunt HB, animos ... produeunt Z.
4."!. bodie pigros //, hodie slultos B, hominem pigrum Z. 44. Cum
de pigritia fasius //, Cui de pigrica [!] fasius Z, Queis de pigrilia
fruetus B. [2 teil. v. 47//'/ 4s. Ecce veius //, Nonne vetus B, Omne
veius Fi (= Fierville), Nonne veius Z; Werner hat Omne st. des fehler-
haften Nonne übernommen. 50- famam sine Iahe HB, laudem sine labe
Z, ramam cum laude Fi. 52. studel HBFi, soletZ. 54. nunc H, modo
B, lioc FiZ. atque probavi //, gegen den reim verstoCsend, hoeque
probatur FiZ, brobalur/7j B. 50. cito HFi, liic BZ. 57. Hoc bodie
haculus H, Huic bodie baculus B. Hoc studio baculus Fi, Hoc hs ole
baculo Z, wofür Werner die lesarl von Fi übernommen hat. 58- ven-
ilitur hoc HFi, Venditur hinc B, Uiitnr hoc Z. 59. arismeticam HZ,
Aerismaticam B, erismalicam Fi. 60. Hoc HBFi, Hinc Z. ell'ecii
potiores HB, affeeli poiiorus Fi, facti posteriores .'" Z. lil 2 von B
Fi fehlen in HZ; die verse dürften zur erhlürung des Aeris-
maticam v. 59 eingeschoben sein. 63. Esl gravius HBFi, Est quamvis
Z, nach den übrigen zu rerbessern. (J4. Discere richtig HBFi
gegen Discat Z. prudenter //#Ft j/e^en prudenlia Z. philosopbari
//#Z, versificari Fi. 65. nummis nummos in chiaslischer Stellung
z. d. folg. : libras libris //, nummos nummis ZJ/-7Z. 67 N feWew in /
Z. F. D. A. XLIX. N. F. XXXVII. U
•21i> BÖMER
der dichter gebraucht hier und im folgenden den ausdruck Dominus
vobiscum (Domnus vobiscum Fi), den der priester während der messe
widerholl an die gläubigen richtet, mit komischer würkung zur
bezeichnung des geistlichen selbst, der Schreiber von Z bezw. seine
vorläge hat den ausdruck offenbar nicht verslanden und deshalb
v. 67/8, sowie r. 72 ff, in denen jene worle immer iciderkehren,
forlgelassen, nur ein einziger der verse (77) ist noch verständnislos
angeflickt. 67. qui HB, quia Fi. 69. Et quia HFi, Atque liic
B. 71. bos HFi, et B. 72. Dum sua facta facit H, His sua festa
canit (facit Fi)BFi. H.s facta zu verbessern in festa.
73/4. Dominus vobiscum bbros quos devoral ore
Nou sapit intro, lamen regitur falo meliore H,
Fi mit H übereinstimmend bis auf Domnus und fato regitur;
Dominus vobiscum, pingui cum murmurat ore,
Iam sapit intus, quotl regitur fato meliore B.
78. cum sit, sibi vilis babetur HB, sibi cum sit, nullus babetur Fi,
kaum hallbar. 79/80 fehlen HFi. sie passen auch keineswegs
zwischen die grammalischen erörterungen. 81. quaiuloque H, ali-
quando BFi. Fi hat die schlussworle von 81/2 gegenüber BH
verlauscht. 83. nefas H, nefasque BFi, besser. 84. non HB, nil
Fi. 85/6 fehlen HFi. 87. Est HFi, En B. 89/90 fehlen H.
91. negotia HB, pericula Fi. 93- meliora . . . pretiosa H (gegen den
reim verstoCsend), pretiosa . . . meliora BFi. 96- gingiuer HFi,
zinziber B (verschrieben st. zingiberj. 97/8 fehlen HFi. 98 in der
fassung von B kein vers u. sinnlos. 99. Huuc pigmenla favent
secumque H, zu verbessern in Huic pigmenta favent, servitque Fi;
Hunc unguenta fovent, servitque B. 100. Huius et ad nares
HB, Huic etiam ad nares Fi. faglantia H [ähnlich wie nr 9,
slr. 15, 1 : fraglantia /, verschrieben st. flagrantia Fi; fragranlia B.
von 101 an gehn die Überlieferungen besonders stark auseinander.
B hat den längsten lexl, Fi 20 vv. weniger als B, und H wider 10
weniger als Fi. in der versfolge zeigen H und Fi Übereinstimmungen
gegenüber B (s. die folgende tabelle), die auf ein näheres ver-
wanlschaftsverhällnis zwischen II und Fi.s vorläge schlieCsen lassen,
während sie vorher freilich in einzelheiten des lexles häufig aus-
einandergiengen und H oft mit B gegen Fi übereinstimmte.
B
H
Fi
101/152
127/8
127/8
—
129/32
103/4
103/4
101 2
101/2
105/6
105/6
—
107/8
117/20
117 20
141 46
133/40
121/22
147 52
125 26
—
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLUNG 211
101- Cuius HFi, Huius /;. noveril //. doctua BFi. 102 oullum
facit ullo //. iiiilln facit illimi BFi. 104. in unda //. ab unda BFi.
105- pascunl Mi; hiernach poscunl Fi sti verbessern. L06. gratis-
sima //, pinguissima Bl 117. Ha quotiea reseral //. Fi $1. reseral
fehlerhaft referal; Sed cum vult, reseral B. 119. in illa HFi niht,,/
$t. el illa /)'. 12.1. valeal //, possil B.
127. Oninis gramaticus laceris paucia quoque pannia //
Grammaticus vero teouis, laceris quoque pannis BFi
128. Visis eril studits // (gihi keinen rechten sinn), Ah obit in stodiia
B, Immoritur studiis Fi. 141. est hodie //. esl aeris li. 1 Vi
II. hie B. 144- laus insipienti //, laus omnis, habenti B. 14ti. I'i
de gramaticis plures faciat //, Et moi nobilium plures faciel H.
13) De victoria Parmensi.
Den ruhmvollen sieg der Stadt Parma über das belagerungsheer
kaiser Friedrichs u im jähre 1248 feierte vermutlich kurz nachher
ein Parmenser magister scholarum und canonicus in drei lateinischen
gedickten, die in einer Münchener hs. des 13 jk.s erkalten und
zuerst von Hoe/ler in der Bibl. d. litt. ver. 16, 2 ( 1 847) 123//",
nachher an verschiedenen an/leren orten, na. auch in den Man.
Germ. Scr. xviu 790/^ im anschluss an die Annales Parmenses
maiores abgedruckt sind. der Verfasser unseres Stückes verrat
über seine person nur, dass er ein begeisterter anhänger des papstes
und bitterer kasser des kaisers gewesen ist. er hat weder die dinge
an ort und stelle miterlebt, noch auf grund mündlicher berichte
geschrieben, sondern eine schriftliche aufzeichnung als quelle benutzt,
str. 22, 1 beruft er sich ausdrücklich auf den Wortlaut einer solchen
(sicut vere didici ex tenore carte), dieses Schriftstück ist uns
erhalten, ein vergleich ergibt, dass es nicht nur an der bezeichneten
stelle, sondern das ganze gedieht hindurch als vorläge gedient hat.
es ist ein schreiben, in dem 'Potestas, mililes et populus Parmensis'
der stadt Mailand die künde von ihrer waffentat übermitteln und
um beistand für den weiteren lauf der ereignisse bitten (gedr. bei
Matthaeus Paris Hist. maj. Anglor., Addit. 107; hiernach bei
HuiÜard-Breholles Hist. diplom. Friderici Secundi. vi 2 ( 1 861 J
591 fi. da sich die abhdngigkeit des dichters von diesem briefe
bis auf die einzelnen ausdrücke erstreckt, führe ich den in betracht
kommenden teil der vorläge im Wortlaut an und verweise in eckigen
klammern auf die verse des gedicktes, bei denen eine entlehnung
stattgefunden hat :
14*
212 BÖMER
Slrenuis et prudentibus viris domino ßonefacio de Sal . . .
potestati, mililibus et populo Mediolanensi, Philippus Vicedominus
potestas, milites et populus Parmensis salutem cum gloria et
honore. Laudes retribuimus [5, 1] Deo Patri Filioque suo Domino
noslro Jesu Christo et Spiritui Sancto trino Deo et uni majestati
et Virgiui gloriose que non propter noslrorum exigentiam meri-
torum, sed propter suam clementissimam pietatem civitatem nostram
protegil et defendit, regit, visitat et gubernat, sicut manifeste
conspicimus in victoria triumpbali quam die inartis duodecimo
februarii exeuntis [10, l] contulit nobis Deus sue genitricis inter-
ventu [6 u. 7], Quamvis enim mille quingenti de nostris ivissent
inter Colornum et Bersellum [11, 1.2] et preterea due porte in
integrum et ille seviens draco [11, 3] qui per tantum
temporis obsederat [8, 1] terram nostram, nos omuino crederet
deglutire [12, 2], jam extra sua moenia eunctis militum et peditum
suorum agminibus ordinatis, nos invocato Dei auxilio et Virginis
gloriose [17, 1], cernentes quod potens est Deus deponere superbos
et humiles exaltare protinus exivimus contra ipsos populos et
milites universi, nequaquam nostra vestigia retardantes quoad
usque dimicantes junximus nos cum eis, precedente vexillo cum
forma Virginis pretiose [17, 2/3], cujus regebamur semita et ducatu.
Et quamvis duritera principio restitissent [21, 3], nos tarnen iovales-
centes durius in eosdem confregimus, contrivimus et proslravimus
ipsos omnes. Et descendens impius Fredericus per subterfugia
[24, 4] tanquam latro [25, 1] dimisit suos et spolia sua prorsus
[25, 2; 34, 3], ex quibus tria millia [34, 2] cepimus et plures.
Cepimus quoque carrochium [33, 1] Cremonensium. Cepimus
etiam menia [33, 2] que fecerat et omnia castra [33, 2] sua
cepimus et habemus omnia sua que habebat. Interfecimus quoque
Thadeum judicem suum [29, 3/4. 30], cubicularios [29, 2] et
camerarios [29, 1], omnes nostros banneratos [31, 1] . . . Tandem
in civitatem regressi cum Dei laudibus et honore noslre disposuimus
negotia civitatis, confidentes in illo qui est vera salus omnium
atque virtus [35].
Nicht etwa nur den bericht übe?" den gang des ereignisses,
sondern selbst die einleitung des Schreibens, das lob Gottes und der
Jungfrau Maria, durch deren fürbüte der sieg gewonnen, hat der
dichter übernommen, indem er nach einer längeren apostrophe an
den papst zum lobe .des herrn und seiner jungfräulichen mutter
herdringer vaganteisliedersammh ng 213
auffordert, die noch niemals einen im stich gelassen, der sich
vertrauensvoll an sie gewendet , und jetzt auch wider die stmlt
Parma aus grOster not errettet habe, ah datum des siege» gibt
er dm 12 tag rar ende fehruar (Fine februarii die duodeoo) 1217
an \i), 1 — 3j. 12 17 ist ein iritum statt 12 1\ der nicht vor-
gekommen sein würde, nenn der In ief das Jahr verzeichne! hatte.
,i hat aher nur den tag der schlncht /estgehalten, und in der
Bezeichnung desselben (<li»' duodeeimo februarii exeuntisj ist ihm
der autor getreulich gefolgt, es handelt sich um den 1^ jebruar,
der 12 1^ würklich der 12 tag vor schluss des fehruar nur [vgl.
die anm. bei Huiüard-Breholles). die beiden namen Coloroum und
Berseilum erscheinen im gedickte [11, 1] als colluvium und bessillum;
statt carrochium ist 33, 1 ; cartbocium gelesen. — übrigens ist
der drief nicht die einzige quelle des dichten gewesen, die poetische
ausschmÜekung der erzählung mag seiner phantasie entsprungen
tein, alter er berichtet auch über tatsuchen, deren kenntnis ihm
anderweitige quellen übermittelt haben müssen, dahin gehören vor
allen die in dem schreiben nicht erwähnten, sonst aber vielgepriesenen
taten des päpstlichen legalen tiregorius, denen die 13 Strophe der
dichtung gewidmet ist. von den drei triumphliedern des Parmenser
canonicus schildert keines so genau den verlauf des kampfes wie
das unsrige. <las erste ergeht sich in ziemlich allgemein gehaltenen
auf forder ungen zum siegesjubel, wahrend die beiden anderen umfang
reicheren und weiter ausholenden mehr betrachtungen über den
ji endigen erfolg anstellen oder bemerkenswert erscheinende einzel-
heiten des geschehenen herausgreifen. alle drei sind in reinen
Vagantenstrophen gedichtet, wohingegen in dem vorliegenden stücke,
wie in nr 10 der Sammlung, mit 3 versen der vagantenstrophe ein
hexameter bezw. pentameter (str. 3. 16. 20. 30. 31. 33) verbunden ist,
der widerholt, namentlich in den eingangsstrophen, als echte auetoritas
erscheint. in den rhythmischen Zeilen ist so häufig tactwechsel
angewant , dass nur wenige Strophen von ihm freigeblieben, viele
aber mehrfach betroffen sind.
De victoria parmensi.
1 Cum ad verum ventum est veros per rumores,
papa pater, dominum laudes et lionores
Superbos et emulos pellens detraclores:
[nquinat egregios adiuneta superbia mores.
1, 4 vgl. nr 20 dieser Sammlung 51,4.
214 BÖMER
2 Gaude, pater omoium, et clementer ora,
quia per te dominus regens altiora
Subvenit ecclesie facta tarnen mora:
Grata supervenit, quam nou speravimus, hora.
3 Sancte pater, sanctior adhoc certe fies,
Dum tu pati gravia patieuter scies;
post laborem dabitur tibi longa quies:
Non faciunt anni, quod facit una dies.
4 Nutu cuius oritur et occultat pbebus,
frederico nocuit paucis in diebus,
(jui mundum turbaverat multis speeiebus:
Ludit in humanis divina potentia rebus.
5 Laudes retribuere domino debemus,
falsus cesar, decius, romulus et remus,
perdidit victoriam, quam nos retinemus:
Viclorem a viclo superari sepe videmus.
6 Licet sit brevissimus nostre vite cursus,
Graviter nos opprimunt hostium in cursus,
Sed regina virginum nobis est succursus:
Ultimus est ad eam post omnia fata recursus.
7 Dum ad hanc recurritur matrem pietatis,
opem uulli denegat, sed succurrit gratis;
nuper prece populum parme civitatis
faucibus eripuit pia virgo draconis hiatis.
S Hanc nuper obsederat hie draco versutus,
fredericus nomine, vir labe pollutus;
per bunc in imperio, quo est destitutus,
Vivitur ex rapto, nou hospes ab bospite tutus.
9 Huic draconi perfido, crudeli et crudo,
non est ulla pietas neque mansuetudo;
dici potest verius, breviter concludo:
Non missura entern uisi plena cruoris yrudo.
10 Fine l'ebruarii die duodeno
In anno millesimo atque ducenteno
quadrageno septimo vir plenus veneno
preeipit arma capi, satietur ut ex alieno.
2, 4 Horaz Epist. i 4, 14. 4, 4 Ovid Ex Ponto iv 3, 49.
5, 4 Cato Dist. n 10, 1. 9, 4 Horaz Ars \ioet. 476.
EIERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLUNG 215
u Cum inier colluvium et besaillum forte
Ivissent cum pluribus parme »J n«* porle,
ille draco seviens sua ductus Borte
lemptat, ut haue capiat magua comilante coborte.
12 Viso parme populus, quod haue maledicius
rieglulire satagit el eorum victus,
cum iotrare oequeal aliler, cooflictus
se paral ad pugoam, couculcet ut ictibus ictus.
13 Vir prudens gregorius, patrie legatus
a papa gregorio quondam destinatus,
procuraos fideliter honorem papalus
affuil inter eos, vir ad inclita facta paratus.
L4 Assunt vicedominus ei potestas ville,
milites et populus mentis oon pusille;
quilibet se reputat maiorem achille.
Omnibus uiiiis erat prineeps gregorius ille.
15 Ilic ortalur populum prudenti sermone,
excilent ut virginem laudum actione,
Corde, volo, lacrimis et oratione,
Martis ut bos dubii dubio cooservet agone.
16 Ad bec totus populus clamat 'deus meus,
amedeus, bodie oon sis pbariseus,
nunc iil)i confiteor quasi miser reusl'
Qeclitur iratus voce roganle deus.
IT Virginia auxilio demum invocato
rt eius ymagine vexillo signato
precedente aciem legali mandato
Se minime dubio metuunt exponere lato.
IS Populus parmensium utriusque sexus
permanet inlrepidus, tutus, uon perplexus,
dum ad preces virgiois matris et amplexus
lilius uuicus est ad eorum comoda flexus.
l't Urbem cives exeunt et lolum commune,
In hoslilcs acies instant oportune;
qui regit expositos dubie fortune,
Ille dedit pbebo radios et cornua lune.
11,2 zur bedeutung von j>orte vgl. Du Cangr s. v. porta 1, zusatz
(porla pro milium turba videtur aeeipi).
216 BÖMER
20 Sicut ordinatum est, vexillum precedit,
armata per ordinem acies incedil,
Clamat : Miostem deslrue, deus, qui nos ledit I
Materiam venie sors tibi nostra dedit.'
21 Tunc in hostes irruunt ac si sint securi
ex eventu dubio triumphi futuri;
hiis resistuot duriter hostes valde duri,
Ignari penitus, quod denique sint perituri.
22 Sicut, vere didici ex tenore carte,
pugna gravis extitit ex utraque parte;
alterum persequitur alter in hoc marte:
hostis obest hosti, sie ars deluditur arte.
23 Ilic opus est gladiis, ense vel cutello,
nou est opus legibus, nota vel libello;
non auditur aliquis, si dicit 'apello!'
Non bene conveniunt in tali talia bello.
24 Diu dimieaverant in bello fatali,
needum locus aderat fato triumphali,
quando draco seviens plenus doli mali
Cepit adire fugam subnixus equo speciali.
25 Tamquam latro latuit meute manens fieta
sua supellectili tota derelicta
genteque multiplici graviter afflieta,
Et sua falsa i'uit demum victoria vieta.
20 Attendens astrologos, signa et planetas,
persequens apostolos sanetos et prophetas
hie senex non cogitat, quod inter dietas
labitur oeculte i'allilque volubilis etas.
27 Parva gens parmeusium hostium respectu
diniicant viriliter et cordis affeclu,
quod patet ad ultimum ex rei effectu;
Quod periere viri nece nescio dicere nee tu.
28 Hostes parme populus persequens attente
fugat, necat, destruit duce fugiente
et vindietam reeipit ab hostili gente;
Que resupina iacet parma victrice manente.
29 Duces, camerarios necat in pressura
nee cubiculariis parcit gens secura;
HERDR1NGFR VAGANTENLIEDERSAMMLI NG 217
tbadeus occiditur iudex uece dura,
Nil silii (udc valuil civilia aoscere iura.
30 De morte dolendum est iudicis Lbadei,
qui profectum publice procurabal i«*i .
Invictus, ul dicitur, adherebal ei,
Qui luil ecclesie pestis amara dei.
31 Banneratos gladius ultos quosdam ferit,
(|uiluis parma parcere nee cural oec querit;
ciiiii istis ml, iim.i mortuis oon perit:
pena potesl demi, culpa perhennia erit.
32 Quos teoebat viuculis vd captivitate
de viris parmeusibus carens pietate,
liberavil doroiDus sua potestale:
villa cremata fuit peuilus parme feritate.
Cremona cartbocium perdidit iuvita,
fredericus menia el castra munita,
villas, loca. spolia male acquisita;
Perderel el vitam, ni laluissei ita.
i I><- suis railitibus el gente privata
Parma iria milia teoel captivata
preter >n;i spolia uundum esümata:
Sic deus hec statuil ßeri cum matre beata.
> Obtenta victoria per summum viclorem
Panne gens ad propria redit post laborem
Et ad laudem virgiois caotat et lionorem:
'Stirps Jesse virgam produxit virgaque Qorem.'
31, 1 (Ins durch correetur in der hs. verunstaltete erste ivort des
verses, von dem nur Ba . . . tos deutlich sichtbar, ist an der hand des
briefes Banneratos tu lesen. 31, 4 Ovid Ex Pont, i 7, 20. 35, 4
hymnenanfang. vgl. Chevalier Repert. hymnol. in 583.
I h Conquestio Primatis expulsi de domo leprosorum.
[»fang : Dives eram et dilectus.
Wiight Mapes 64 ff hat von diesem klagegedtcht nach ms.
Huri. '.i7s (//') eine sehr unvollkommene ausgäbe geliefert unter
dem titel 'Golias de suo infortunio' statt des in der vorläge
überlieferten kurzen 'Golias'. einen besseren text bot Haureau,
\ot. et extr. vi 128 ff nach zwei Pariser hss. (nr 16208 und
18570). als den Primas, der sich in den versen widerholt selbst
•218 BÖMER
nennt und auch in der Überschrift unserer hs. als Verfasser bezeichnet
ist, ermittelte Haureau einen canonicus von Orleans namens Hugo
(primicier ou primat des ecoles d' Orleans) aus dem 2 viertel des
12 jh.s, der nach dem berichte des canonicus Franc. Pippino von,
Orleans und nach eigener er Zählung (hs. von Tours) eines lages
seines canonicats beraubt wurde, einzelheilen dieses misgeschicks
werden in dem gedichte weitläufig erzählt, doch vermögen wir uns
kein klares bild von dem Sachverhalt zu machen*.
Lesarien von II. In der folge des lexles von Haureau.
Der in diesem nicht strophisch gegliederten gedichte besonders
naheliegenden Versuchung , nach belieben verse auszulassen und
einzuschalten, ist in den verschiedenen Überlieferungen häufig nach-
gegeben, v. 7. quibus HHl, Quorum Haur. 8 fehlt. 9. quis
uro HHl, quibus Haur. 10. sed horr. HHaur., et horr. H*.
12. infidelis HHaur., homo procax H\ 13 fehlt HH\ 14 5
umgestellt. 17. Dacianus HIV, Daciscanus Haur. 20. Iransvexit
HHaur., invexil Hl. 25. honus erat//, erat bonus H\ eram bonus
Haur. 30. sed emunclus ab argen to H, ut emunclus suin argento
H^IIaur. 32. proieclus H, dejeetus Hx, depulsus Haur. lormento
fehlerhaft st. monienlo , durch das lormento v. 31 veranlasst, ein
solches versehen noch mehrmals in diesem gedichte (v. 93. 122).
35. primas HH\ prima Haur. 37. amplion HHaur., graviori
Hl. 40. diguiiale digniori auf traditori (39J bezüglich, vielleicht
ersalz für das durch vestri etwas anslöCsige, aber doch wol zu
haltende dignilatem vestri ebori WHaur. 41. honesta fehler-
haft st. honesli Haur., in H1 fehlt d. vers. 42. viliori HHaur.,
meliori Hl fälschlich. 44. HHaur., fehlt H*. 50. collum mihi H,
mihi Collum HxHaur. 52. I'edo H, aegro H*Haur. 56. Aberravi,
sed pro deo HHaur., Oberravi eorarn Duo Hl. 61 fehlt H. 62
fehlt HH\ 63. vestrae memor HHl, memor vestrae Haur. sanctilalis
HHaur., charilatis H\ 66—68 fehlen H. 69 vri (undeutlich)
H st. veslris. i'atis H (wie es scheint, jedoch das 1" undeutlich) H\
dalis Haur. 74. |)ererro HH\ purcurro Haur. 75. quondam
HHaur., olim //'. S4. et edoctus //, Eruditus WHaur. S7. tarn
in brevi iam despero H, jam in brevi, quod despero HlHaur.
93. parvo H st. brevi, wol wider durch parvo v. 94 veranlasst.
94. ero H, erit WHaur. 95. quod si HH\ Et si Haur.
97 — 100 fehlen HHl; sie sind nicht unverdächtig, da sie zur
[1 herr pro f. WilhMeyer halle die gute, mir soeben einen abdruck
des in den nächsten lagen erscli einenden zweiten leiles seiner arbeil über
'Die Oxforder gedickte des Primas magisler Hugo von Orleans' (Göltinger
nacltrichten 1907, 113//') zu übersenden, ich bedaure auf die hier (158 ff)
veranstaltete neuausgabe untres gedichts mit reichem commentar nur
noch hinweisen zu können.}
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLI NG 219
einleilung der folgenden erxählung eingeschoben tein dürften.
] i»2. passus // fehlerhaft st. pulsus. 106. a minislro ganimede
// in. einer der beiden Pariser hss., vielleicht eingesetzt statt da
bestimmten namens: ;i Willelmo Palimede //'. A Guillelmo Palamede
Haur. | in. der zweiten Pariser hs. ). 1 07 fehlt dann ////'. 1 1 2. man-
tl;ii;i ////', mandalum Haur. 117 fehlt clamanlem IL dum adjulo
IUI, im. Deus ndjuto //'. 118. nie pulabara //. li putabam Hau\
rebar esse //'. 122. comes fui // st. pulsus rui, abermals durch ihn
aüsgang des vorhergehenden verses verursacht. 124 fehlt, i 2$ fehlt
////'. 130. dum adiulo HHaur., Deus adiuto //' (fälschlich, wie
,-. ii7 I. 132 — ") fehlen in 11 wie in den Pariser hss., Haur. hat sie
Wrighl entnommen, obgleich er sie auch für wenig klar hält. \'M.
scelus HHaur., opus Hl. L39 11 fehlen II. 143. dum HHaur.,
qui //'. 1 11. appellarel HHaur., appellabal //'. 1 15. aduocar; ver-
schrieben st. adiutorera. 15u. quo HHaur., qua //'. ferre //. rcrrel
ll'Hintr. 151. Accusalus •■>! per faclurn //. besser : Accusabam turpem
actum ll'Utiiu. 155. accusalus (so auch 156) //, judicalus HlHaur.
156—60 in der reihenfolge: 156. 157. ir>'.t. 158. 160. 156 fehlt
in IV. 1",7. magis dou obedi (?) //; intus dou resedi WHaur,
Hin. quidquid sacre dedit eili //, qui quod sacrae dalur aedi IP Haur.
mit 160 Schliefst das gedieht in II wenig glücklich ab (darunter:
ExplicilJ, nährend nnrh dm anderen Überlieferungen 161- 1 nmli
weitere vorwürfe gegen den verräterischen caplan erheben und muh
d<r Palaraedes (Palimedes) von v. 106 wider genannt wird. ab der
Schreiber tun II bexw. seine vorläge wegen dieser anspielung auf
eine bestimmte peTSÖ iiliehl, eil , über die er sieh vorher durth eine
conjeetur hinweghalf, die verse jetzt </anz forlgelassen hat. /«'
ein streichen des /tilgenden appells an die mitbrüder (165 — 77
lag eigentlich kein grund vor, dagegen ist es sehr wol möglich,
dass diese verse erst nachträglich angeflickt sind.
15) Petitio Primatis porrecla papae pro benefit
obtinendo.
Anfang : Tau tu viro locuturi.
Den ersten druck dieses klagerufs an den heiligen vater in
Born lieferte Flacins Illi/ricus 1 //' unter dem langatmigen titel :
'Querela eruditi et pii hominis, qua alloquitur Papam ostendens
Praelaluras \' bona Ecclesiastica teneri ab indoctis avaris \" igna-
ris ventribus : contemptis Interim \ esuhentibus its, qui se doc-
trinae studiis dediderunt : petüque hör malum n Papa emendari.
issignari tarnen possunt hi rythmi Gualtero Mapes . . .' für die
Zuteilung des gedichls an Mapes stützte sieh Flacius auf dessen
Vita von Johannes Baleus, die er s. 121//' zum abdruck bringt.
bereits PLeyser [Bist, poetarum et poematum medii aevi 779 ff)
220 BÖMER
konnte nach einer Leipziger hs. zahlreiche versehen des textes
von Flacius berichtigen. später nahm Wright, auf Flacius
fufsend, das stück unter die gedichte des WMapes (blff) auf.
neben den drucken bei Flacius und Leyser zog er Hart. ms. 978
(//') heran, in der Pariser hs. 8359, jetzt 3245 erscheint das
gedieht mit dem kurzen titel Domino Papae unter den 10 stücken
des Gualterus de Insula, die Mütdener veröffentlicht hat (Die zehn
gedichte des Walther von Lille genannt von Chatillon. [1859] 45/f).
gegen die Verfasserschaft des Walther v. Chatillon sind von Haureau
(Not. et exlr. vi 302/) bedenken geltend gemacht, die sich jedoch
in der hauptsache auf acht, nur in einer Pariser hs. (Nouv. acqui-
sitions 11567) überlieferte Strophen stützen, welche sehr wahr-
scheinlich ein späterer zusalz sind (s. unten das lesarten-verz.,
nach str. 15). Paris hat aufserdem noch 2 hss. : Nouv. acquis.
1544 n. 11412. das in H dem Primas zugeteilte gedieht ist hier
überall, wie auch in der Leipziger und Londoner hs., anonym.
Haureau hat zwei ausgaben geliefert:
1) Not. et extr. u ob ff, auf grund der drucke von Flacius,
Leyser. Müldener u. der 2 Pariser hs. Nouv. Acq. 11412 u. 11 867
(unten Haur. i citiert)
2) Not. et extr. vi 299 ff, unter Hinzuziehung von Paris
Nouv. Acq. 1544 (Haur. u).
Lesarten von H.
In der folge des textes von Haur. u. die zahlreichen fehler
von Flacius, die bereits von Leyser verbessert sind, werden nicht
angemerkt. IVright hat zu anfang nach Hl eine sonst nicht
überlieferte Strophe: Noslri nioris esse solet elc , auf die zunächst
str. 3 u. 4, dann 1. 2. 5 ff der gewöhnlichen Überlieferung (der
sich auch H anschliefst,) folgen. 1, 4. Carinii ilecet H st. Carinii
care, unter aufgäbe der würkungs vollen allilleralion. 5. simus coro
H, Legs., Müld., Haur. (i u. nj, caro simus Fl., Wr. 2, 1. quitleni
H st. eniui. 5. Homo novus H, Legs., Wr., Haur., Alque novus
FL, et vir novus Müld. 3, 1. mundi mores H, FL, Legs., Müld.,
bonos mores Wr., Haur. 4. reprehendam H, Wr., Müld., Haur.,
non defemlam FL, Legs. 5. et eis non condescemlnm H u. die
meisten, Aut eos jam reprehendam Fl. 4, 2. veritatis H u. d. übr.,
st. lenitalis Leys. 5, 2. coram tanto quis ego qui H, Leys., Müld.,
coram tantis? quis? pgo qui Wr., Coram Papa quis est [!] qui
jrers/] FL, Coram papa? Quis ego, qui Haur. 6, 1. Quid nisi
desertum mundus H (mit laclwechsel), Quid desertum nisi niundus?
Leys., Wr., Müld., Haur. i, Quid desertum mihi? Mundus Haur. n.
3. respuit H, FL, Leys., Wr., polluit Müld., Haur. 4. dici solet
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMML! NG 221
//. Fl., Hr.. Müld., Haur,\(xu verbessern in: dici doletj, üoci I
dolei Leys., esse dolel Haur, u. .">. quia qui iui >1< i //
Quia qui vernare solel UV., Müld., Haur.', Nam quod fruclum dare
solet Ft., Leys. 7, I. Qui solebal //. Müld., Quis s. Leys. feh
haß), Quod s. FFr., Haur., Debel mundus /•'/. 5. afferl /7 m. //. üftr.
gegen praeferl Haur. u. s. 1. Cum // »<. </. üftr. gegen Qu /■
9, 2. Canes, catti // sf. canes muti. 3. gigantum Iralerculi //. n
Müld., Haur, fgigantium m. tactwechsel Leys.), El Gigantes efferi Fl.,
ronservanl //. fälschlich st. caocervant. lu. 2. Nil // sc. Non.
:;. id ipsum quod // (lactwechset) m. d. übr. gegen M quod prius
Haur. li. (i. Haur. n /<</( oucA nundum st. aondum, e/V // durch-
gehends. 12, 1. Ipsi // st. isti. 1.1. I. Vivunl leno H, Müld., Vivil
leno /•'/., Leys., Hr., Müld. (als conjectur), Vivil palpo Haur. \,
Vive, palpo Haur. u fund dann im foiy. r. tuis sJ. suis,'. 14, 3. ferl
7/. Leys., Hr.. Müld., Dal F/., Danl Haur. 1. quod esl //. oec
esl /•/., Mahl.. Haur. 1, uod est Leys., Hr.. Haur. 11. 5. provehebanl
H, Wr„ Müld., Haur., provehebal /•'/., Leys. 15. 1. Anliquilus el
//. Müld., Haur. i. AntiquilUS nam Leys., Aiilnjiim uni et MV., Anli-
quoruui nam y/</«c. ii. 3. Declamantes yy. Leys., UV., Müld., Haur. i,
Disputantes Haur. n [1 — 3 fehlen in Fl.]. die achi von Haur.
i u. n nacA Paris, ms. Nouv. acq. 1 1 867 ;»•. [5 u. lii eingesetzten,
aber sehr verdächtigen Strophen, auf welche oben schon hingewiesen
wurde, führen den ^edanfcen aus, dass in d»w Wissenschaft die Juristen
gegenwärtig völlig die Oberhand gewonnen hätten, dass die arles von
den leges überwunden wären. in. I. Opulenii solenl H,Wr.,
Müld., Harn. i. Opulenii solebanl mit doppelsilbiger Senkung) /•'/..
gloriosi solenl Haur. u. 4. Si'ii // fehlerhaft st. Sive. 6. rore
vitreo JJ, UV., Mahl.. Haur.i, rore niveo /•'/.. Haur. u. bei Leys.
/i7(/; 16_/. 17, I. Super aquas //. /•'/., UV.. Si per aquas A-eys.,
Müld., Haur. 4. Sil 7/, UV., Mahl.. Hau:., seil /'/., /,<•//.*. 5. iiik'Iii
scire /y. /.'•//<.. scire nnlii /'/., UV., Müld., Haur. 18, 2. scissus
//. Leys., Müld.. Haur., caesus /•'/., sumptus UV. de altari y/.
/'/., /.•//>.. UV., Müld., ab alt. 7/'*i/r. 19, 5. Jacob ooslre (meae
Haar. 1 1 > liberlatis 7/. /,ey->.. Müld., Haur. i. n, Jacob terrae liberlalis
/7., Iiniiiii »erae libertatis UV. 6. prefigurat H. Fl., Leys., UV..
praesigoare Müld., Haur. 20, 5. quia nostras y/. Leys., Müld..
Jlaur.. Nostras enim Fl., sie et noslras UV. 21, 1. sareptene H,
Leys., UV.. Saraplenae Müld.. Sareptanae FL, Haur. 5. tli^ne deo
digna H. UV.. Müld.. Haur.. richtig st. dora <ligne digna F/., dooo
iligne digna Leys. 22. 2. per quod sanetus H, zu verbessern in et
ler sanetus UV., Müld., Haur; Pater sanetus Fl., Leys. 4. iriuni
77 fehlerhaß si. trinum. 5. ul 77 fehlerhaft st. Ruth. 23, 1. Sic
involvit rota rotarn 7/, Müld., Haur., richtig st. rotam lolam /-7..
rola lolam Le»/.>-., Secum volvit rotam rola UV., der sfr. 22 u. 23
umgestellt hat, 4. sie amictum par.vipendit 7/, F/., Leys., UV.. Haur.
>u- vinciri parvipendit iUü/'/. 24. 2. a geniili 77 in. d. üi/r. richtig
gegen a gentibus UV. 5. diserto H, UV., Müld., Haur. richtig st.
222 BÖMER
deserlo FL, Leys. 25, 3. plus v;icasse sludio H, Leys., vacasse tali
sludio (mit laclwechsel) FL, se vacasse studio Wr., Müld., Haur.
5. et labore H, FL, Leys., Müld., Haur. n, et in ipso Wr., Haur. i.
26, 3. credilur post aspera H, Credilur plus aspera Leys., Reddilur
post aspera übr. 4. ad romani sedem patris H m. d. übr., ad istius
sedein patris Wr. 5. ad sinus sancle matris H (unhaltbar, da so
das ubera im folg. v. in der luft schwebt), ad sacrosanctae matris
FL, Leys., Haur. n, ad sanctae Sion matris Wr., Müld., ad Sion, sanctae
matris Haur. i. 6. reversus sum H mit taclicechsel st. Sum reversus.
27, 1. pastor H m. d. übr. gegen Papa Fl. 28, 2. si prebenda
muneralus H m. d. übr. gegen Si sim ego muneratus Fl. 3. redditu
H, Wr., Haur., reditu Leys., Müld., praebenda (mit laclwechsel) FL
4. Vivain licet H m. d. übr. gegen Licet detur FL 5. ut sie mihi H
st. Saliern mihi. 6. studeam de proprio H m. d. übr. gegen Perse-
verem sludio Leys. am schluss hat Haureau n nochmals eine sonst
überall fehlende Strophe, deren echlheit widerum verdächtig ist.
16) Apocalypsis Go/iardorum.
Anfang : A tauro lorrida lampade ciutbii.
Die apokalypse gehörte trotz ihrer übermäßig großen länge,
trotz allen dichterischen schwächen und dunkelen stellen zu den
beliebtesten stücken der vagantenlitteratur, so sehr entsprach die
Schilderung der himmel fahrt des dichters dem geschmacke der zeit,
und so ausgiebig war hier das Sündenregister der geistlichkeit, vom
papst herab bis auf den einfachen manch, geraten.
Bei Flacius Ulyricus IIb ff, der seinerseits wider auf JohBaleus
fußt, trägt das werk den namen Walther Mapes : ' Apocalypsis Goliae
pontificis, super corrnpto sni temporis Ecclesiae statu, edita rythmis
facetis, per Gualtherum Mapes Oxoniensem archidiaconum, circa
annum domini 1200'. Flacius sind gefolgt in älterer zeit J Wolf Lect.
memorab. i 430 ff und Eccard Corpus hist. medii aevi u l&blff.
in neuerer zeit Wright Mapes 1 ff, der 16 englische hs. nachweist
und von 7 derselben, 3 Harleian mss. (ff13) u. 4 Cotton mss. (C1"4),
Varianten verzeichnet, in den meisten derselben lautet der titel
Apocalipsis Goliae episcopi, den Wright auch für seine ausgäbe
übernommen hat. in der Pariser hs. 8359, jetzt 3245, steht das
gedieht als viertes unter den 10 stücken des Gualtherus de Insula
( Müldener 19 ff) unter dem titel : Contra Ecclesiaslicos iuxla
visionem Apocalypsis. gegen die Verfasserschaft der drei ver-
schiedenen Wallher, die für den von Müldener auf Walther von
Chatillon gedeuteten namen Gualtherus de Insula in betracht kommen
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLUNG 223
könnten , wendet sich Bauriau in Not. et exlr. \\\\ 2, '-".»:■://',
und liefen zugleich den nachweis, dass die 10 gedickte weder
inhaltlich noch stilistisch ein und demselben Verfasser angehören.
unser StÜck möchte er um eisten noch dem dichter dir General
beichte zuschreiben, dem Cölner canonicus im dienste Beinaldi
von Hasset, für seine ausgäbe (au. Tl&ff) stund lliiiireuii nie
den drucken die l'ni iser hs. 11864 zu) Verfügung >owie vor allen
die ihres alters wegen (ende des 12 oder an/, des \'A jh.s) besonders
beachtenswerte vaticanische hs. Christ, reg. 344, deren beschreibung
sein au /satz gewidmet ist. eme. Münchener hs. (nr 416), in der
das gedieht als ein werk des Alanus \de Insulis] erscheint, verzeichnet
Wattenbach Zs. 15, 173.
Die Überschrift von II teilt das stück keinem bestimmten
Verfasser zu, auch nicht dem Holms episcopus, der schliefslich nur
ein gattungsname ist; sie macht es vielmehr ausdrücklich zum
allgemeingut des Goliarden, indem, sie ihm den titel Apocalipsis
Goliardorum (jiht.
I. es a r i en v o n //.
Es sollen hier nur die almeiehuugen con ihn drei neueren
ausgaben con Wright (bexw. den von ihm verglichenen englischen
hss. C1 '. //,Jj, Müldener und llam. au verzeichnet werden, während
tu diesen drei texten das gedieht llo in der folge genau überein-
stimmende Strophen hat, weicht // sowol in der zahl wie in der
Stellung derselben wesentlich ab. str. 60. 98 und 99 fehlen, dafür
ist nach 103 eine wenig glücklich um anklängen an 105 ein-
geschoben, die anordnung der übrigen Strophen ist gegenüber der
gewöhnlichen Überlieferung folgende : 1 — 9. 12. 13. 10. II. 14 — 29.
32. 30. 31. 33—59. 61—97. 100—103. 104—110. was den
redaclor zur Umstellung veranlasst haben mochte, ist in den meisten
fällen nicht zu ermitteln. bei 10 — 13 hat es offenbar seinem
geschmacke mehr entsprochen , unter den männern des alterlums,
die dem dichter bei seiner himmelfahr t begegnen, erst alle poeten,
dann alle prosaiker zu nennen, er lässl demgemüfs Lueau, Virgil, (hui.
Persius (12), Statins und Terenz (13,1 — 3) vorangehn und den
in der eulgata hinter den dichtem nachhinkenden Uippocrales (13, 4)
Überleiten zu Priscian, Aristoteles, Cicero, Plolemaeus (10). Boethius
und Euclid (11). das mochte etwas für sich haben, dagegen verrät
die Umstellung der str. 30 — 32, wenn sie beabsichtigt ist und nicht
auf einem versehen beruht, eine durchaus unglückliehe band, da
30 31 sich unmittelbar an 26 — 29 anschliefsen müssen, indem sie
gründe für die vorher geschilderte beschaffenheit der vier wesen
anführen. auch für die auslassung um 60. 98 und 99 ist
plausibeler grund nicht zu entdecken, da die niederschrifi gerade
224 BÖMER
dieses Stückes auch im einzelnen bei H eine aufsergewöhnlich groCse
anzahl von versehen aufweist, durfte das fehlen der Strophen gleich-
falls auf einen irrlum des Schreibers oder seiner vorläge zurück-
zuführen sein. die 30 ersten Strophen des gedichles liegen in II.
wie oben bei der beschreibung des näheren angegeben, in zwei
aufzeichnungen vor. wo diese von einander abweichen, soll die
erste mit H3, die zweite schlechtere mit Hh bezeichnet werden.
3, 1. iuspicio HClC2, Müld., aspicio Wr. (nach d. übr. engl, hs.),
Haur. 4, 1. niicuit HWr., Müld., uituit Haur. 4. confusis (in
H3 aus fufusis hergestellt) verlesen st. concussis. labiis HWr., Haur.,
labris C\ Müld. 5, 1. Est HMüld., Haur., Mine Wr. 4. venit
H fehlerhaft st. vernat. 6, 3. el tolum HCXC", qui tolum UV.,
Müld., Haur. 4. respice HC2, Müld., besser : inspic»- Wr., Haur.
7, 1. aperuit HC2, Müld., Haur., exposuii Wr. 2. perspexeram
HWr., JJaur., statt des unpassenderen prospexerain Müld. 4. eya
nie. H st. et tu nie. 8, 3. devolviraur HMüld., divolvimur übr.
In, 1. üinc H fehlerhaft st. Hie. in Hh planis verschrieben st.
palmis, wie H" richtig hat. 3. demulcet H m. d. engl, hss., Müld.
u. Haur., vi muleet Wr. nach Flac. III. 11, 1. Taxat H st. traclat.
numerabilia HMüld., Haur., innumerabilia Wr. 4. taxat H fehler-
haft st. trahit. 12, 2. euneos H fehlerhaft st. aeneas. 4. procacem
H3, dicacem Hb, auf Persius bezüglich, besser : dicaces übr. 13, 2.
delinuit nie H., detinuit (deleniit?) res Haur., Müld., delinuil res Wr.
14, 2. prefulgens sideri HC2, Müld., Haur., vullus siderei Wr.
3. suspice HWr., Müld., suseipe Haur. m. Flac. Hl. oculos aperi
HMüld., Haur., et coelos aperi Wr. 15, 4. ceolorum Hb, fehlerh.
st. eelonim Ha m. d. übr. auditu Hh fehlerh. st. adilu H* m. d. übr.
16, 1. qui HMüld., quod Wr., Haur. 2. reverberaverat H, mihi
reverberat Müld., Haur., inde reverberal Wr. 17, 1 Sed visa scripserat
HClC2, Visa conscripserat Wr., Müld., Haur. 3. scribis H st. scribes.
eadem HOC2 st. eliam. 18, 4. vox tube duet. H st. vel tube duet.
19, 3. vix Hh fehlerhaft st. vir H3 m. d. übr. 20, 3. instar justitie
HWr., Müld., formam justiciae Haur. 21, 3. respieias HHaur.,
aspicias Wr., adpicias [!] Müld. 4. vota H fehlerhaft st. nota. facies
HC2Haur.; facias Wr., Müld. 22,2. Quod H st. quae. 23,2.
apparuit H fehlerhaft st. aperuit. 24, 3. et fehlt Hh, H3 m. d. übr.
richtig. 25, 3. viluli ü fehlerh. st. intuli. 4. perlegens H st.
praelegens. 26, 3. decorat Hh fehlerh. st. dedecoral Ha m. d. übr.
4. in imis H ohne sinn st. nummis. 27, 1. iste H st. ilie. 4. sagnatus
Hh fehlerh. st. saginalus H3 m. d. übr. 28, 1. quod H fehlerh. st.
quae. 2. dicil Hh fehlerh. st. dieitur H3 m. d. übr. 4. vescitur,
natürlicher als vivilur. 29, 1. Est quod HWr., Haur., Est qui Müld.
2. dicamus H fehlerh. st. decanus. 3. reputat opus iuslitie H st. operil
forma iustilie. 30, 1. Isli H fehlerh. st. Isla. 2. inter H st. renun.
4. perspiciunt H, besser : prospiciunl ClC2, respiciunt Wr., Müld., Haur.
31, 3. mirabili HCXC1 st. mulabili. 33, 1. genti HWr., Haur. besser
als gentis Müld. niulilae HWr. st. miserae. 2. mulilos HWr. st.
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLUNG 225
vilulos. !!4. 1. miseriis // fehlerh. st. miseris. 4. tiefen // st. refert,
:;."), 1. mulgeos // Müld. st. mungens. 36i 2. previus // il. de>
riucens HWr., Müld, ducit Haur. .'17. .'1. qui solo EP, cum solo Wr.t
Müld., ein Solu Ilmir. penduni // st. pendent ,'!\ 2 3 umgestellt 11.
39,2. viribus IUI1, viribus MV, ETaur., faucibus MO/d. 3. de // s(. >.
4(>, 4. Sed Polyphemus esl iuris ad methodum // (bis auf die Umstel-
lung von iuris und ad m. TT-//'-, Haur, übereinstimmend), et Pol.
psl ;nl .utis metodum UV., sed Pol. esl ad veri methodum Müld.
-41. i* . esl levius HC1, levius esl f*mtl tactto.) Haur.. >^\ pondus
Wr., Müld. 3. qui unuiu HC1 (mit hiatus) st. unuiii qui. esl
reus // st. reus est 4. uisi qui solveril // st. des besseren oisi
krni. 42, 2. rormans //MV., Afüid., ffaur., formal C'fl1. blla-
ciam //6'3//', fallacias MV.. Müld., Haur. beim zweiten aort also
gerade das umgekehrte Verhältnis icie beim erSien. 43, 3. UOtal //.
vocat MV.. Haur.. vacat Müld. 4. quoil autem veneat venil // st.
quam uon inveniens venil ecclesia, beides nicht recht klar. Miild.
vermutet st. venil : vendit. 44, 2/3. per . . . fortunam HWr.. Haur.,
besser als prae ... forluna Müld. 3. habeat HWr. Haur., haurial Müld.
4. oiiicii //MV., Haur.. causam Müld. 45,2. per genitivos seil //MV..
Müld., Genitivos sciat (mit tactir.) Haur. delictum st. dalivos, mit
aufhebung des Wortspiels genitivos . . . dalivos. 4. fratribus //MV.,
Müld., frucÜbus Haur. 47, 2. qui HWr. st. des besseren Ouae.
iiiif // fehlerh. st, viro. 4S. 1. iuris // st. viri. 2. facie [vgl. o. 4]
// st. sanie. 3. virens // Haur., furens MV.. Müld. 4!*. 3. est
fehlt HU2. 4. datis fi venditis est Concors Simoni HWr., Müld.,
Dandisque venditis eoncors est Simo-ii Haur. 50s 1/2. sequens und
lucri vertauscht II. 3/4 umgestellt H. magistri // fehlerh. st.
magister. ."il. 2. in fal>is habilat // st. falsis inhabitat. 4. que pie
H Müld., qui pie MV., dum pie Haur. 52, 2. sie rerum // st.
nrumque. 3. sedaverit monenle zu verbessern in sedaveris monete.
53. 2. sed cum // Haur., sed si MV., Müld. 3. prurigine // fehlerh.
st. pruriginem. 54. 1. promovet H Müld., Haur, prnmovit MV.
ersleres besser zu content passend. 2. cum //MV., Müld., si Haur.
3. Tirii // fehlerh. st. Tilii. 55, 2. aperuit H Haur., arripuit Wr.,
Müld. 4. Sicque II st. Ad hoc. aperuit H fehlerh. st. apparuit,
durch d. ausgang von v. 1 veranlasst. 56, 2/3. umgestellt H.
4. qui H falsch st. que. 57, 3. dum in montibus rodope H ; Wr.,
Haur. haben st. montibus das wol ursprünglichere colihus bezic.
cautibus. in C2 ist zur erläulerung von caulibus : vel montibus
an d. rand geschrieben. dura Rodope cotibus Müld. 4. sceleris
//, scelerum Müld., Haur., scelorumfl] Wr. 58. 1. in sibimet in
tanto H, zu verbessern in : ex sibimet innato MV., Haur., erraverint
innato Müld. 2. possunt II st. possint. 3. quid H fehlerhaft
st. quis. scribet // Müld., scrihae Wr., Haur. 511. 2. namque //
st. nempe. lit, 1. adiungunt // st. lucrantur. 62, 1. ecclesie
venduntur // st. ecclesias venantur. 2. mentio // st. quaestio.
3. in rums II Haur. st. si cuius. fit H st. sit. 63, 1. In HC2
Z. F. r». A. XLIX. N. F. XXXVII. 15
226 BÖMER
>7. Hoc. 2. serael H st. semper. fit HWr., Müld., sit Haur.
3. dicitur H st. ilucitur. 4. fehlt H. 64, 1. Tunc H Haur.,
Tum Wr., Müld. 2. inlonat H st. inlonans. 65, 1. Viso capitulo
legi proverbium (prooemium Wir., Haur.) H (Wr., Haur.), Viso
prooemio perlegi folium Müld. 2. rerum // st. morum. 3. ul
H st. vae. verum H fehlerh, st. rerum. 67, 2. rede st. bene.
68, 3. discat a populis H, diseit a populo Wir., Müld., Discit a pluri-
mis Haur. 4. commissa minima II Wr., Haur,, mala levissima Müld.
69, 1. est vor «leo fehlerh. H. 2. necem H st. mortem. 3. puer-
peram HWr., Müld., puellulam Haur. 70, 1. lurpiter H st.
presbiter. 71, 2. quod rerum animam persolvant decimam H st. quod
rerum decima non salvat animam. 4. suo det HWr., Haur., solverit
Müld. 72, 1. Seit qne vulpecula foveas H, zu verbessern in Seit
quae vulpeculas fovea H3 Haur., Sic<|iie vulpeculas fovea Wr., Ulque
vulpeeulas fovea Müld. 2. nee HWr., Haur., non Müld. 3. in-
fantes H fehlerh. st. animas, durch d. ausgang von v. 3 veranlasst.
74, 1. Hlud // st. Islud. 3. sublinearibus H, inlerliuearibus Wr.,
Müld., inlerlinanbus Haur. mit Vermeidung doppelsilbiger Senkung
im 1 fufs. 75, 3. voluntas H fehlerh. st. voluptas. 4. conlagio
HC2H3, Müld., Haur., eollegio Wr. 76, 2. iut // fehlerh. st. iura.
3. reddilus HWr. st. redilus. 77, 2. aut H st. vel. 3. singulis
subjeclis HWr., Müld., subiectis singulis [ters.'J Haur. insidens
HWr., praesideus Müld., Haur. 78, 4. opelorium H fehlerh. st.
opertorium C2, opertoria übr. 79, 1. indagines HWr., Müld., ima-
gines Haur. 80, 1. fovet H st. regit. 3. admitlat H. fehlerh.
st. amiltat. 4. prebenda H fehlerh. st. perdenda. 81, 4. rerum-
que H st. et rerum. 82, 4. sie suo quilibet HHl, sie sors cuius-
libet Wr., Müld., L't sors euiuslibet Haur. 83, 1. mensuram H fehlerh.
st. lonsuram. respuit H m. d. übr. gegen despicit Wr. 3. librans
liberos HWr., Müld., liberos librans Haur. 84, 1. Ad liaec HWr.,
Müld., Post baec Haur. 3. ex agmine H st. examine. 85, 3. fuil-
que H (noch auf dux bezüglich) st. stetique. 86, 2. est quisque
(lux HWr., Müld., besserer vers als Haur.s quisque dux est. 87, 2.
ratio H st. passio. 88, 4. prona H fehlerh., pronis Müld., pronus
Wr., Haur. 89, 1. babeant cor trilum H st. cor babent conlritum.
Dil, 2. creberrime H st. celerrime. 4. spumosus H st. spumoso.
91, 1. tenam HClH'2H3 st. cenas. 3. atlolbt H st. extollit. 4. quam
dissouis acclamat H st. grandisonis exclamat. 92, 3. 0 ho H, he o
If'r., Müld., Hae Haur. 4. stirpi H st. stirpis. nos prole H,
prole nos Wr., Müld., proles nos Haur. 93, 4. ha sie H st. ha hi.
94j 1. ulla H fehlerh. st. illa. 3. sie nulla est lis vel conlentio H
(m. hialus), hinc esset lis et conlradiclio Wr., Haur. (Müld. cessat
st. esset). ' 4. totum HHaur. [der aber st. ad : sed und st.
bibilur : bibatur [facJic. /] hat) st. plenum. 95, 1. faciunt H st.
slatuutit. 3. sed sine HFlac* (cfr. Wr.), sie sine Wr., Müld.,
Et sine Haur. 4. et replent HWr., Müld., replenlque Haur.
96, 3. sicut piea pice H, ut pica picae ul (vel) Wr. (Müld.), ut picae
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLI NG
pica vel Haut. I. cui HWr» Müld., queis Haur, incendium //
fehlet lt. st, ingeniura. '.)7, I. Hanc // fehlerh. st. Bis. ileniiuni
mola // [mit laclwechsel) st. mola Jenlium. I. calorem // st. colorem.
Doiium H Wr., Müld., noclium Haur. 98/9 fehlen II. 100,
si dalur // st. qui si quid datur (ileiur). I02i l. De ilie decies //
U. Die Iripudians. I. dei vir II Müld., vir dei (mit imtic. n
Haur. L03i '-• wi anfang lücke, dann : in manibua //. dux meus
manibus ü /v /• . 3. describens // st. discerpens. nach ur, ln.'i in H ganz
unpassend folgende Variation von l""». die trotzdem noch nachfolgt:
Oni raplus rueram ad celum terlium,
lins gestia deferor ad sunimum oubium,
Et quod mirabile vidi misterium,
salia aperui cuique mortalium.
vielleicht hat sie in eilirr vorläge als ersatx für 105 am randi
■ luden und der betreffende abschreiber, der überhaupt in dem
ganzen stücke kein allzu grofses Verständnis verrät, — es wurdi
schon daran/ hingewiesen, dass der fehlerhafte text nicht auf den
Schreiber von II geschoben zu werden braucht — sie als mit zugehörig
betrachtet.
In."). 2. adusque lerlium // st. usque ad lertium (mit hiatus).
I06i 3. cousilia HWr., Müld., magnalia Haur. In7, 1. vidi
HWr. st. noveram. 2, magni consilii II Wr., Müld., sancli palatii
Haur. 3. proponunl HWr., Müld., appoounl Haur. 1. lelhea //
fehlerh. st. lelhei. laticem HWr., Müld., calicem Haur. propo-
ount (vgl. v. 3) // fehlerh. st. propinant. los, l. papaveram //
(fehlerh.) st. palpaveram Müld., comederam Wr., Uaur. 2. infumli
// l-'lac* st. infudi. 4. stire de //, oosse de Haur., üosse cum
Wr., Müld. In!), 2. conscius // st. uuntius. scripserit // (mU
tactu-.) st. inscripsit. 1. hec . . . securius // st. hoc... Gdelius.
Unterschrift in II : Explicit apocalypsis goliardarum.
17) Principium Magistrate.
Wie in dem princ. mag. nr 10 dieser Sammlung bildet auch
hier <len miltelpunct des gedicktes die erzählung von der erscheinung
einer beraterin im träume des neuen magisters. wider ruft der
dichter zu beginn Gott vater, Gott söhn, den hl. geist und die
Jungfrau Maria um beistand an, diesmal auch noch das hl. kreuz
Christi, nachdem er hierauf den erlauchtesten der Versammlung
besonders angeredet positis pro nomine signis, wendet er sich an
die gemeinschaft der anwesenden doctoren und bittet, ihm gewogen
zu sein und anzuhören, weshalb er sich um das magisterium
beworben habe : er ist an einem sommertage in der frühe in einen
prächtigen hain gegangen und durch den lieblichen gesang der
nachtigall in schlaf versenlct — dasselbe motiv wie in dem oben
15*
228 BÖMER
genannten stücke, wie er aber einmal aufgeschreckt um sich geblickt,
hat er die grammalik auf sich zukommen sehen, er ist indessen
icider eingeschlafen — ein nicht besonders glücklicher gedanke, bei
dem man fast an einen fehler der Überlieferung glauben sollte —
und hat weitergeruht bis zum ende der nacht, da endlich ist er
völlig erwacht und hat nunmehr die grammatik an seinem lager
erblickt, 'sei gegrüfst, o bruderV hat sie ihn freundlich atigeredet
und ihm die frohe botschaft verkündet, dass sie ihm das regimen
scholarum zu übergeben gedenke, in dessen besitz er schon längst
hätte sein können, nach ehrfurchtsvollem grufse hat er versichert,
dem officium magistrale nicht gewachsen zu sein, sondern erst
noch weiter lernen zu müssen, diese furcht hat jedoch die grammatik
leicht zu verscheuchen gewust, und nachdem sie dem zaghaften
vorgehalten, wie töricht es sei, immer als armer schlucker weiter-
zuleben, anstatt ein einträgliches amt zu übernehmen, hat er endlich
den entschluss gefasst , sich um die magisterwürde zu bewerben,
wie der vortragende des früheren princ. mag. betonte, dass er
misgwist nicht zu fürchten hätte, so nimmt auch der unsrige
nach beendigung der erzählung veranlassung, sich mit einem neider
abzufinden (slr. 31 — 33), um hierauf zu erklären, dass es an der
zeit sei finire ludibria (34). es folgt dann noch eine schlussstrophe
(35), deren erklärung Schwierigkeiten macht, sie beginnt : Hiis clictis
subticuit (s. unten den text). es fragt sich, wer hat gesprochen
und was hat er gesagt? die Sätze Finire ludibria — mea uatat
prora gehören sicher noch dem magister an, loahrscheinlich auch
dazu das : hacteuus invidiae respondimus in dem gedankenlos Ovid
Rem. am. 397 entlehnten vierten verse von 34. es bleiben also nur
die beiden worte Altrabe lora! übrig, wir müssen uns notgedrungen
denken, dass jemand — aber wer? — dem dichter diese a%t ff orderung
zugerufen hat in dem sinne, dass er die zügel des magisteriums
nunmehr anziehen solle, wenn nicht der 4 vers von slr. 35
mit dem ausgang: cur excusatus abirem auf den abschluss des
ganzen deutete, läge die annähme nahe, dass die Strophe oben nach
der ersten rede der grammatik (slr. 18) einzufügen wäre, sollten
die verse überhaupt nicht in dieses gedieht gehören? — wie in nr 13
sind wider 3 verse der vagantenstrophe mit einem hexameler oder
penlameter vereinigt, doch sind hier die ersten künstlicher gebaut,
indem sie mit 2 ausnahmen (17, 2, xeo aber vielleicht spalium
in spalio zu ändern ist. u. 26, 3) neben dem endreim auch cäsur-
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLl NG 229
reim aufweisen, may tactwechsel, mit mafs angewendet, eine
willkommene abwechslung in den gleichmäfsigen /luss der tu
bringen, der dichter dieses Stückes hat sirli m seinem gebrauche
derartig gehn lassen, dass die zeilen zum grofsen teile wenig
ansprechen. man lese zl>. '.», 'A. [0, 1. 19,3 "• 27,:'», 100 tu
beiden vershdlften der tact wechselt. 29, 2 hat im zweiten teile
nur ■> silben. vielleicht ist hier me ausgefallen.
Principi u in m ;i gisl r;i I ••.
1 CuDCtipoteos genitor, prioeeps maiestatis,
oecultorum cognitor ime deitalis,
tu mee dispositor esto voluotatis,
liuc adeß et dubie dirige vela ratis !
2 Consolalor optime, criste, tili dei,
dulcis bospes anime, dulcis requiei,
da michi, piissime, donum huius rei,
([iioil possim cepta pondera rerre meil
Veoi, sanete Spiritus, quia in venu
null auderem penitus tantas aggredi res;
rege meos aditus, michi nunc aspires
dans michi te placidum, dederis per cetera vir«
i Virgo dei tilia, malcr salvatoris,
parem, paris uescia virgo singulare,
Sensuni et eloquia michi largiaris:
Alma fave ceptis Stella maria marisl
5 0 crux admirabilis, o crux triumphalis,
arbor uua oobilis, u u IIa fuit lalisl
Spes incomparabilis, s|>es inuodialis,
Me, precor, attollas virlulum quatuor aus.
6 Doctor pollens inoribus preconio dignis,
cuius lucet actibus caritatis ignis,
fave meis preeibus, prudens et insignis,
Scis bene, cui dicam posilis pro nomine signis 1
: Vos, doctores nobiles, vos affectu vero
satis precor faciles, nam quod precor spero,
este favorabiles, nil aliud quero
perpeluusque anime debitor buius ero.
- Cur regimen capio, forte michi quedam
fiel prius «juestio, quam ultra procedam;
2, 4 /. cepti R.
230 BÖMEK
ergo magisterio quare sie attenilam,
Si vacat et placidi ratiouem ammillitis, edam.
9 In estalis tempore matulinis horis
spaliabar nemore quodam pleno roris;
Ludebai sub arbore fons vivi decoris,
Temperie cuius capior specieque liqtioris.
10 Fluebat murmuribus fons ille ioewndis,
ludebat in partibus calculus profundis;
capris, feris, avibus non tactus iramundis
fons erat illimis, nitidis argenteus undis.
11 Hunc ab omni latere silva precingebat,
que sole tepescere locum probibebat.
Me iuvabat visere locum, qui virebat;
Gramen erat circa, quod proximus bumor alebat.
12 Locus erat avium circumcirca plenus
dulciter cantantium cantus omne geuus;
omnibus boc Studium, nullus alienus:
Me subicit sompno philomene cantus amenus.
13 A me motw penitus curarum eiecto
sompno fui deditus in cespitis lecto;
a quo postquam concitus buc et illuc speclo,
Gramaticam vidi venientem tramite recto.
11 Noctis erat medium, luna relucebat
et in meo radium tboro dirigebal;
nulla me tunc anxium cura faciebat,
publica me requies curarum sompnus babebat.
15 Me noctis ad ultimum tandem experreclo
quendam motum minimum subaudivi recto
instansque quam plurirnum buc et illuc speclo:
Gramalicam vidi sensique accedere lecto.
16 Hec existens cominus miebi dixit : 'ave,
o frater, quem dominus tueatur, ave!
audire me protinus non sit tibi grave
Et quod non opus est neve loquere, cave 1
IT Gramatice, fluvio trium specierum
Me percuim spalium mullorum dierum;
10, 1 jocondis H : der reim erfordert ioeundis. 13, 1 molo H.
14, 4 Ovid Ex Pont, m 3, 7. 17, 2 pcur9 //, aber undeutlich.
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLI m. 231
Cur te visaiii, senio dicam tibi verum:
1 -ii ego letarum venio libi nuntia rerum.
IS Cum sis dignus spargere Bemen doctrinarum,
lilii volo tradere regimen scolarum,
Bonus quondam sumere debuisses liarum:
Propaganda etenim est rerum doctrioa booarum.
19 40 lux el Ions artium, decus triviale,
aptuin ;nl officium non Bum magistralel
revereor nimium incipere lale,
de quo I .uiia volans murmurel iode male.
20 Doctorum ofßciis hiis est iosistendum,
quorum dogma oesciis est proficiendum,
seil michi de aliis quid sit lacicndum,
Non mich i sunt vires adimo michi iusque regeodum.
21 (Jnis regimen capiat, in quo labores seit,
si male sufßciat, si doecre nescit?
armis ahrenunciat, qui non convalescil
[ndoctusque pile deeiique trocique quiescit.
22 Multum est decenlius non doctorem geri,
quam regentera cilius iuste derideri;
liinc est michi melius adbuc edoceri,
quam merear doctor delirus inhersque videri.'
23 Tunc ait gramatica: 'frater, quid vereris,
j»ro re feie moilica cur sie deterreris?
hec in corde publica verba recorderis,
fac tarnen ineipias : sponte disertus eris.
21 Fiicli, cum ineipies, medium halieliis.
ergo semper audies et nunquam docebis?
Sis audax! quod cupies, tolum adimplebis:
Grande aliquid si velle tenes, et posse lenebis.
25 Tu multum deprimeris iugo paupertatis,
qui regendo poteras acqnirere salis.
Cur igitur pateris dampnum egestatis?
tolle moras : semper noeuit differre paralis !
■ii' Nullus habet pretium, nisi lucro vacet,
pauper parit tedium. dives autem placet;
ilives multum loquitur, pauper vero tacet,
dives honoralur. pauper ubique iacet.
232 BÖMER
27 Pauperlatem fugias, que te diu pressit,
magistratum capias : multum lucrum gessit!
Sic laudo, quod facias, sie volo quod res sil!'
linierat monitus uec plura locuta recessit.
28 Iuter omnes monitus postquam recollegi,
quod eram suppositus paupertatis legi,
de lucro sollicitus ultra noo auibegi :
Sumpsi aoimum gratesque deo dou territus egi.
29 Patet ergo ratio, quare representem
iu doctoris solio nimis egentem;
honoris ambitio nou allicit mentem:
Noo honor est sed ho aus species lesura ferentem.
30 Scolarum presumere nollem nie rectorem
adhuc ita propere, nisi pauper forem;
fruetum volo querere lucri vel honorem:
Non habet unde suum paupertas pascat amorem.
31 Invide, te miserum alloquor extreme:
nie reputas stolidum, malum dicis de nie.
0 venenum aspidum, liuguam tuam preme!
Et tua perpetue, livide, dampua gerne!
32 Invidus nie lanial deute fraudulento,
alterius inhiat seniper detriniento;
ob hoc catho nunciat suo docuniento:
lnvidiam nimio cultu vitare memento.
33 Lividus invidia semper limet niniis,
ne quis ad sublimia veniat ab imis;
sed eius malitia torquet hunc a primis:
Invidus alterius rebus macrescit opimis.
34 Finire ludibria tenipus est et hora,
ne vobis fastidia gignat longa mora,
aqua iam in alia mea natat prora;
hactenus invidie respondimus. 'attrahe loral'
35 Hiis dictis subtieuit; que cum exaudirem,
mihi cor intremuit, quia pauca scirem.
25, 4 Lucan. i 2S1. 29, 4 Ovid Her. 9, 31. 30, 4 vgl. Wright
Mapes s. 159 (Missus sum [nr 20 dieser Sammlung] v. 200). 32, 4 Calo
Dist. II 13, 1. vgl. Carm. Dur. Lxxiva 5. 33, 4 IJoraz Epist. I 2, 57.
vgl. Carm. Bur. lx\i\3 2. 34,3 vacat H.
HERDRINGER VAGANTENL1EDERSAMMH NG
Me «1 u L>i 11 tu teouit, utrum coosentirem,
l>t.i tarnen dixi, cur excusatus abirem.
Explicit.
1 ^; De transfretantibus.
Die meerfahrer sind die teilnehmer an item unglücklichen
kreuzzuge Ludwigs des Heiligen, da der aufbrach des könig» alt
unmittelbar bevorstehend bezeichnet wird, inuss das gedieht kurz
vor augutt 1248 ent stunden sein, bereits ende 1211 hatte Ludwig,
von schwerer krankheit genesen, das gelübde des kreuzzuget getan,
aber fast 4 Jähre lang zogen sich die Vorbereitungen hin. diesmal
aar eben wenig allgemeine begeisternng für eine kreuzfahrl
vorhanden, und es bedurfte eifriger Werbung, um sie zustande zu
bringen, diesem zwecke ist auch unser lied gewidmet, der dichter
war Franzose, denn er nennt den könig 6,2 : o oster dominus,
7, 1 : Qoslrura dominum, die gründe seiner aufforderung sind
geistliche erwägungen, denen auch der papsl und seine prediger
autdruck zu geben pflegten : um Vergebung für unsere sündenschuld
zu erlangen, müssen wir das kreuz erheben. Christus ist für uns
geboren und um unterer fehler willen am kreuze gestorben, für
ihn sollen wir also einmütig ins fehl ziehen! zu diesen beweg-
gründen kommt diesmal noch ein ganz besonderer : Frankreichs be-
rühmter könig ist von Christus selbst ermahnt worden, übers meer zu
fahren, durch göttliche Vorsehung war er bis auf den tod erkrankt,
jedoch der herr hat ihn in seiner barmherzigkeit gerettet, nun
befiehlt unser könig, dass wir ihm folgen sollen : diesem rufe
müssen wir gehorchen, sollte nicht jeder dahin eilen wollen, wo
Christus vom tode erstanden und zum himmel aufgefahren ist?
Die verstechnik des liedes steht au/sergewöhnlich tief. die
struphen bestehen aus 4 durch die cäsur in zwei gleiche teile
zerlegten, durch end- und (mit ausnähme von Str. 1 [aabb]) auch
durch cäsurreim verbundenen langzeilen, deren grundschema zwei
jambische achtsilbler sind; indessen xcerden die regelmäfsig gebauten
halbzeilen vvn solchen mit taclwechsel in der form -v^-^^-w-
oder _^w-^-w- an zahl übertrofj'en, so dass die technik
fast auf Silbenzählung hinausläuft, wie sie dem franziisischen
dichter von seiner nationalen poesie her geläufig war. dreimal
hat er sich, so vorsichtig die Homanen auch sonst in diesem punete
waren, hiatus in der zeile gestaltet : 5, 2. 7, :; (mag das ue der
234
BÖMER
hs., tcekhes einen siebensübler ergibt, zu hallen oder noune zu
lesen sein) und 7, 4. die lelzte stelle, an der mit dem hiatus auch
noch doppelsilbige Senkung zusammentrifft , ist jedoch nicht auf
rechnung des dichters zu setzen, da er hier, wie iciderliolt in den
vorhergehenden sti'ophen als 2 halbzeile des verses den anfang
eines bekannten hymnus wirkungsvoll eingesetzt hat (1, 4. 2, 4.
3, 3. 4, 4. 6, 4. 7, 4. vgl. Chevalier Bep. hymn.).
Die 1 halbzeile des gedichts klingt an die eingangsworte des
hymnus Amore summi nnminis an; mit Eya fralres (6, 4) beginnt
eine ganze anzahl beliebter hymne.n.
De transf
1 Amore summi iudicis
al(|ue rerum opificis
Et parenles et patriam
culpe querendo veniam
2 Reges, principes, comiles,
duces, barones, milites,
Cives, burgenses, pedites,
Crucem levando comites
y, Pro nobis crislus nascitur
Cristus in cruce patitur
Kos unanimes igitur
viiidicemus, qui morilur
4 Rex iraucorum, rex inclitus,
dei gratia preditus
transfrelare, qui monitus
crucem sumpsit divinftus,
:> Rex lrancorum dignissimus
egrotavit, ut novimus,
Sed cristus rex piissimus
suscitavit, ut credimus,
<i Adest en ecce terminus;
quibus rex, nosler dominus,
templum crisli, qui protinus
eya, fratres, cominus .
7 Ergo nos plebs indomila
per colles et per compila,
3, 3 ortu H. 4. 4 süpcit H,
retantibus.
crucem debemus tollere
uomine derelinquere
et iberusalem petere
iam lucis orlo sydere.
dominalores gentium,
ad exemplar fidelium,
suscipite remedium
primo dierum omnium.
matre manenle virgine;
pro solo nostro crimine.
a solis orlus cardine
pro bumana propagine.
vile pretiosissime,
j)arat elegantissime
a te, criste piissime,
eterne rex altissime.
divina providenlia
usque ad mortis hostia;
sua mysericordia
beata nobis gaudia.
tempus diesque subeunt,
et fratres eius adeunt
oceanum pretereunt;
vexilla regis prodeuntl
regem nostrum, qui properat
sequamur, nam sie imperat;
divitus //.
HERDRINGER VAGANTENUEDERSAMMLUNG
omnis mente composita illuc nonne accelerat,
unde \i\ vita reddita iam cristus astra ascenderal?
Explicit.
7, 3 ne //.
19) Comoedia de advcntu A nt ich i isti.
Anfang : Dum conlemplor auimo seculi leitorem.
Auch diese satire auf die Schlechtigkeit der zeit ist in die
form einer vision gekleidet, der dichter wohnt im geiste einer Ver-
sammlung der furien und dämonen bei und hört den Antichrist
mit Alecto und Tisiphone über den Untergang der weit verhandeln,
der englische künig Heinrich n, der einen Thomas Hecket löten
licfs, und der deutsche kaiscr Friedrich i werden als würdige
Vorläufer des Antichrist s gebrandmarkt. in einem schlusswort
fordert der herr der Unterwelt die furien auf, sich in die winkel
der weit zu zerstreuen und alle mit sich hinabzuziehen in die tiefen
der hülle; er werde ihnen nachfolgen, wie er es gelobt habe.
Das gedieht stellt in der schon mehrfach angezogenen Pariser
lis. nr 324ä unter den 10 gediehen des Guallherus de Insula
und ist von Müldener 1<>//' abgedruckt. II liefert eine kürzere
fassung, indem sie die Müldenerschen Strophen 4, IS und 25, welche
alle drei nicht nur entbehr/ich sind, sondern auch den verdacht
einer unglücklichen interpolation erregen, übergeht, mag II muh
durch mehrere versehen entstellt sein, so bietet sie dafür anderseits
an zahlreichen stellen die richtige lesart, xeo Müldeners vorläge einen
fehlerhaften text aufweist.
Lesarien von II.
2, 1. 2. ylem und iubes umgestellt. 3. comparas st. copulas. .">, 3. et
iiuiiilu st. soniluque. li, 4. licuii insanire mit doppelsilbiyer Senkung
st. libuit coire. 7. 1. furenlum st. silentum. 2. soronini irinitas
st. soror Trinacria. 3. que st. <|iii. 8. 1. nee st. non. elealionis
fehlerh. sl. elalionis. 2. nequilie Ulms m. laclw. st. Qlius nequitie.
3. secabat sl. secabit. 9. 1. lacic prominens armala richtig st. faciem
prominens armata. 3. unde quasi lonilrus verständlicher als verum
ul tonilruum. 4. vos interrumpens mtl doppelsilbiyer Senkung st.
des vorzuziehenden vox erumpens. 1(>, 1. Pape richtig sl. Papa.
2. slatum fehlerh. st. fatum. 3. pando fehlerh. st. pande. exi-
turum richtig sl. exiiiiirnm. 4. beelsebu sl. Beelzebub. 11. 'i. dissenlio
fehlerh. sl. dissensio. 3. lumucrunt richtig st. limuerunt, für das
Müld. irruerunl conjicierte. 4. crislum richtig st. ipsum. nimis
richtig st. minis. 12.1. Miserens misereor recolens sl. Miseranler
imseror miseros. 4. instiluam st. resliluam. imlea iiuleos mit
236 BÖMER
doppelsilbiger Senkung st. Juda Jiulaeos. 13, 2. feras sl. seras.
federa richtig st. sidera. 14, 1. excita sf. accita. 15, 1. el demomim
sl. demonium. 16, 1. Ut fehlerh. st. Et. quaeris fehlt. 2. reprobum
st. perversum mtl laclic. 3. Iriplici qui st. qui triplici mit tacltc.
17. 1. sinone st. Simone. 2. quis . . . veulilat st. quid . . . ventilas.
4. rex vere st. re vera. 19, 2. 3 umgestellt. 2 defricala s<. desic-
cata. 4. quo sf. quod. 20. 4. hoc s(. haec. debachare (vgl.
Du Cange) st. debachari. 21, 1. Cui sl. 0 cui. cruciare, wie Müld.
schon statt des fehlerhaften conciare seiner hs. vermutete. 2. in-
sipientem mit auftacl st. impotentem. 3. Cum sl. dum. 22, 1. noslre
st. tuae. 3. Cum prelatis principes, dem praelali cum reprobis vor-
zuziehen. 23, 3. Caput mundi st. mundi caput. scismata fehlerh.
sl. schismate. 4. et pluraliter gut, während Müld.s a veritate keinen
richtigen vers ergibt. 24, 1. novisli, besser als vidisli. 3. scis-
maticam gentem perfecisti st. seismaticae genli praefecisti. 26, 1. auditis
sl. commota. 2. post tumultum sl. prae tumultu. 27, 1. eahos
absortum, gegen den reim verslofsend st. chaos austerum. 2. discerne
sl. disserere. 4. panditur, durch panditur in v. 4 veranlasst, sl.
cognitus. 28, 2/3 umgestellt. 2. Suft'ocabo penitus sl. cum terris
abstulero. 4. Micbi rachel sl. Rachel mihi. 30, 1/2 umgestellt.
2 ( = 1 in H) He mei complices ite gentium dii (einsilbig) sl. ad
vos omnes trabite in centrum profundi. 3. factus richtig sl. des
unsinnigen sanclus.
20) Comoedia magistralis redarguens vitia.
Anfang : Eliconis rivulo modice respersus.
Es gibt zwei ältere ausgaben : 1) Wright Mapes 159/f unier
dem titel : 'De pravitate saeculi ' ; 2) Müldener 37 ff : 'Contra statum
ecclesiae depravatum'. für dieses stück trifft nach den Untersuchungen
Haureaus Not. et exlr. vi 295/ die von Müld. angenommene
Verfasserschaft Walthers vChatillon zu.
Paris besitzt aufser der von Müld. benutzten noch 3 copieen
des gedichtes , sämtlich ohne nennung des Verfassers : nr 11412.
1186" und Nouv. acquis. 1544. vgl. Haureau Not. et extr. n
42/, vi 292 ff. unter Zuziehung dieser 3 hss. hat Haureau vi
293//" eine neue ausgäbe veranstaltet.
Das erste der 10 von Müld. veröffentlichten Pariser gedickte
des Gualtherus de Insula ist : Missus sum in vineanl, das zweite :
Multiformis homiDum, das sechste unser : Heliconis rivulo. diese
drei stücke, die sowol im inhalte (dem gedanken, dass die xoelt
aus den fugen sei und die Sünden der geisllichkeit die schuld daran
trügen) als auch in der form (3 zeilen der vagantenstrophe -f- tnetr.
vers) übereinstimmen, sind in den verschiedenen Überlieferungen
HERDRINGER VAGANTENLIEDERSAMMLUNG
häufig durcheinandergemengt, so sind zb. in Harleian-ms. 978 ua.
M issns sinn. Helicoois rivulo und mehrere Strophen anderer gedichte
zu einem stück von .Vi stn\ vereinigt (Wright 1V2//. anf. : Missus
Bum). dieselbe he. hat aber aurh Heliconis rivulo allein als besondere
nummer (s. oben, Wright l.v.)//". in Sloane ms. 1580 sind aus
den :', gedickten -1 gemacht, indem die Strophen bunt durcheinander
gewürfelt und sogar ein und dieselbe in Variation an zwei oder
mehr stellen verwendet wurde (vgl. Hubatschl2). in der ganzen
vagantenlitteratur yebn die Überlieferungen nur sehr selten so weit
auseinander, wie in diesen '6 voller Interpolationen steckenden
dichtungen. der text von Baureau stimmt in der strophenfolge
mit dem Müldenerschen überein, nur hat er nach der achten eine
strophe eingeschoben und zahlt somit ihrer IS statt 17. von dei
englischen Überlieferung weicht die französische indessen vollständig
ab. Müld.-Ilaur. haben nur die (.i eisten von Wright. s 2 1 Strophen
lies Eliconis rivulo und zwischen diesen b bezw. '.» andere Strophen,
zt. mit anspielnngen auf ganz bestimmte Zeitverhältnisse, die
erwähnte herschaft zweier päpste traf zu für die zeit zwischen
I 159 und 117 7, der das gedieht somit zuzuweisen ist. die franzö-
sischen aufzeichnungen repräsentieren ohne zwei fei die ursprüngliche
fassung, aus der man spater unter auslassung der nicht mehr zeit-
gemäßen Strophen ein allgemeines klagelied zurechtgemacht hat.
II kommt der überaibeiteten englischen Überlieferung am nächsten,
und zwar bis str. S einschl. dem Eliconis rivulo (Wright 159 ff), von
da dem combinierten Missus sinn (Wr. \h1ff), das jedoch nicht
nur stark gekürzt, sondern auch in beträchtlich abweichender folge
der Strophen erscheint, die anordnung ist folgende :
If'r.s Eliconis 1 — 5 Wr.s Missus 38—43
5a, bei ff r. fehlend, 46
= '.I t>. Müld.Hel. 44
45
47—51
51a m. an kl. an str. 1 7
v. ff'r.s Elicc
52
Lesarten von H.
1) Die ersten acht Strophen von Wrighls Eliconis 159/7". m>1
einschub nach str. 5. 1. 2. pressus // (gegen den reim verstoCsendJ
si. mersus. 3. Et quoniam (übergeschrieben : besseres quia i.uni
scriptital //. quem uec scriptitat (keinen vers ergebend) Wr.. Sed
quia illabilur bezw. tarn labitur Mi'/Id.. Haut. 'i. '1. video //, ms.
6—8
// r.s Missus 1
2
22
23S HOMER HERDRINGER VAGANTENL1EUERSAMMLUNG
Sloane 15S (S) st. videro. 3. vilia deslrui iubebo H; nahekommend:
viiiiiin destrui videbo S, siquidem vitio delebo Wr. (vitia Muli., Haut.)
'.). 2. mentes avarilia nun premebal horum // ( völlig abweichend von
der sonstigen Überlieferung), quia ncc simonia dilatabat lorum Wr.,
quia Dec simonia vendicabat cliorum Müld., Quando nee simonia vend.
chor. Haur. 3. in II fehlerh. st. vi. 4, 1. vineani amodo H
Wr., admodo (amodo) vineam Müld. (Haur.) 5, 1. quam diu II
Müld.. Haur., quanlum nunc Wr. 2. trahit H, Wr., rapit Müld.,
Haur. scismatis impetus umgestellt II. 3. per quem mens hie
lenietur UHaur. (relevelur st. lenietur Müld.), per quem aeneus
illimelur [!] Wr. es folgt in H slr. 9 (v. 33— 36J von Müld.,
10 von Haur. 1. bbet HHaur., licet Müld. 2. delicit H fehlerh.
st. defecit. 3. eclipsi H fehlerh. st. eclipsim (eclipsin). (j, 2. sanrla
HHaur., sacra Wr. 7, 3. scoria HMüld., Haur., sordido Wr.
vel lulo H st. est luto. 4. prineeps provinciarum faeia est [vers!]
HWr., Est prineeps provinciae facta (factus) Müld., Haur. 8, 2. caput
mundi HHaur., mundi caput Wr., Müld. 3. ubi non H fehlerh.
st. ubinam. — 2) slr. 1 — 3. 22. 38 — 52 des combinierlen Missus
von Wrighl 152/7*. reihen folge der slr. in H s. oben, hier die Wr.sche
folge innegehalten. 1, 4. nunquamne m. Müld. (Missus sum s. 1),
besser als numquam me Wr. 2, 3. quainvis st. licet, nee st. veL
3, 1. riihmis st. risu. 22, 1. veterum sl. magnatum. 2/3 umgestellt.
3. rilhmulis st. lalibus. 38, 1. Qui virtutes appetit, labitur in imum.
2. querens sapienliam irruit i'n limum. 3. bec st. sie. 39, 1. consi-
dendo st. conhdenler. 41. 2. Sciat quia st. et scial quod. 42, 1. Scias
artes quaslibet. sis sl. sit. 2. fueris st. vixerit. 3. Cum te st.
illum. plenus st. des vorzuziehenden penus. 43, 2. fugio sl. fugiens.
3. feret st. ferret. 4. Tuitius fehlerh. st. Tulius. et nach toro
fehlt. 44, 1. figurat fehlerh. st. praeßgurat. 45,3. arclia fehlerh.
sl. archam, 4lj, 2. cornicanlur st. commentantur. 47, 3. ein heu
fehlt, menlis st. menles. 4. dicere lucanum st. quod semper multum.
48, 4. satur richtig st. des fehlerhaften salus. 50, 4. pascit sl. pascal.
51, 2. inflali hier besser als infiala, das v. 4 am platze ist. respuunt
st. reprimunt. 3. Sic ergo impletum mit hialus sl. ex hoc iam
impl. dieunt st. canunt. 4. Inquirat fehlerh. st. Inquinat. adiuneta
st. inflala. so auch nr 13 dieser Sammlung 1, 4. die in II nach
51 folgende slr., welche im combinierlen Missus sum bei Wr. fehlt,
stimmt im 1 vers und dem anfang des 2 ten mit der defeclen drei-
zeiligen str. 17 von Wr.s Eliconis überein. sie lautet :
Sit pauper de nobili genere giganlum,
Sciat, quantum currat sol et saturnus quanlum,
per se solus babeat totum ferme cantum :
Gloria quanlalibet quid erit nisi gloria lanlum?
52, 2. Indulgeas, si sapis mit laclwechsel sl. miser vaca potius. 3. quid
st. quod. nolles sl. non vis.
Münster i. W. A. RÖMER.
RAGNARÖK IN DER VÖLUSPA.
Bekanntlich besteht auch heute noch hinsichtlich der hand-
schriftlichen Dberlieferung der Völuspa die zuerst von Bugge in
seiner kritischen ausgäbe (Fortale s. xxiuf) aufgestellte und wol-
begründete annähme bei den krilikern im princip zu recht, dass die
beiden bauptnss., in denen das gedieht überliefert ist, der codex
I i »■_; i us und die llauksbok, an sich als gleichwertig anzusehen sind,
wenn auch die Trage, in welchem gegenseitigen Verhältnis sie zu-
einander stehn, ob sie auf ein und dieselbe schriftliche quelle
weisen oder oh sie eine ganz oder nur teilweise gemeinsa
quelle mündlicher Dberlieferung voraussetzen, verschieden beant-
wortet wird, nachdem in der letzten, scharfsinnigen zergliederun.:
des gedichts durch Boer (Zs. f.d.ph. 36, 363) die erste ansieht mit
nachdruck verfochten wurde, hat sich Sijmons in seiner vor-
trefflichen Einleitung zur Edda (s. xxxi) im entgegengesetzten
sinne entschieden, und, wie mir scheint, vorläufig ein wahres und
durchaus abschließendes wort gesprochen, wenn er, gestützt auf
das Verhältnis jeder der beiden handschriften zu dem fragmen-
tarischen Voluspatext der Snorra-Edda, für beide Codices das
ergebnis zieht, dass sie auf verschiedene schriftliche aufzeich-
nungen zurückgehn. von diesen erweckt die II zugrunde liegende
schon deswegen das grüfsere vertrauen, weil sie offenbar auf
einen selbständigen und einheitlichen sträng mündlicher Über-
lieferung weist, während der 11 zugrunde liegende urtexi zwischen
dem mündlichen Überlieferungsapparat von II und der Snorra-
Edda schwankt.
Indes unabhängig von dieser beantwortung der schwierigen
frage darf von vornherein hervorgehoben werden, dass, wenn
auch R ja sicher keine musterhandschrift ist und sich im einzelnen
bekanntlich in der eddischen Überlieferung auch sonst grobe irr-
tümer und fiüchtigkeiten zu schulden kommen lässt, hei der
Völuspa doch in zweifelhaften fällen naturgemäfs der verdacht
der schlechtem Überlieferung entschieden auf H ruht. schon
weil, mag man nun den ansichten, die den codex Regius um 1270
oder erst gegeu das ende des Jahrhunderts verlegen, folgen, der in
der Haukshok niedergeschriebene Voluspatext, der um die mitte
des vierzehnten Jahrhunderts gesetzt wird, auf alle fälle mindestens
ein halbes Jahrhundert später ist. sodann aber, weil sie nur dies
240 IS1EDNER
eine Eddalied überliefert und in ihm der lückenanteil bedeutend
gröfser als in R ist, und weil überhaupt die Überlieferung eddischer
dichtung keineswegs wie bei dem codex Regius Selbstzweck dieser
sammelhandschrift war. endlich vornehmlich, weil auch ein ver-
gleich im einzelnen zu einer reihe von Vorzügen in R führt, die
uach widerholt angestellten einzelbeobachtungen heutzutage nie-
mand mehr bezweifelt.
Zunächst die anordnung der Strophen in H, in der der ganze
mittlere teil des gedichtes lückenhaft ist und daneben eine arge
Verwirrung im einzelneu zeigt, die nur mit hilfe der Überlieferung
in R beseiligt werden kann, auch sonst ist v. R 49 Hvat's
mep ösom, hvat's mep glfom? gnyr allr jgtonheimr, äser' o ä
pinge, stynja dvergar fyr steindurom, veggbergs viser : vitop enn
epa hvat? die einzige im gedieht, die in R nach der bisherigen
auffassung ihren richtigen platz gewechselt hat und die man mit
hilfe von H nach Rugges vorgange (Edda s. 8) an ihre angeb-
lich richtige stelle vor v. 46 in den ausgaben brachte, ich hoffe
später zu zeigen, dass die gründe, welche Rugge zu dieser Um-
stellung veranlassten, bei näherer prüfung nicht standhalten : in-
des, auch wenn man hier dem allgemeinen urteil beipflichtet, so
kann dieser einzelfall auf zufall beruhen und könnte nur als aus-
nähme die regel bestätigen.
Sodann, fast in gleichem umfange, und umsomehr, als die
lexikalische forschung in den Eddaliedern vorgedrungen ist, ver-
dient R den vorzog in der Überlieferung des Wortlauts im ein-
zelnen — auch hier liegen, wo einmal H würklich das bessere
bietet, wie in der langzeile 22, 3 seip , hvars kunne, seip hug-
leikenn, nur ausgesprochene schreibflüchligkeiten in der altern
har.dschrift vor, dass dem tatsächlich so ist, zeigt sich zunächst
darin, dass die fälle, in denen nach der früheren annähme R
mit H gemeinsame fehler aufweisen sollte, immer mehr zusammen-
schrumpfen, ich erwähne hierfür als besonders charakteristisch
das vel valtivar (v. 62), was durchaus mit unrecht von Rask in
ve valliva gebessert worden ist, eine besserung, die den guten sinn,
der in der handschriftlichen Überlieferung ligt, gewaltsam heraus-
interpretiert und dadurch nicht blofs für den Zusammenhang unsrer
stelle, sondern auch für die ganze heidnisch-germanische grund-
auffassung des alten gedichtes verhängnisvoll geworden ist (vgl.
Zs. 41, 42. 307 und Kauffmann Ralder s. 26). und in gleicher
RAGNARÖK IN DKli VÖLUSPA 241
weise den Zusammenhang störend und den gesamlaufbau der
eigentlichen Ragnarökepisode verdunkelnd ist, wir wir Bpäter
seilen werden, die beanstandung der handschriftlich beidemal
durchaus correct überlieferten v. 51, 11 Kjötl ferr anstatt, koma
mono MuspdU of log lyper. dass hier durch die Buggesche
besser ung von anstatt in ttorpan und lMnspel/s in IJeljar (Edda s. 9)
Snorris mythiscbgeograpbischem system zu liehe, der gesamten
Überlieferung zum trotz, der ursprüngliche sinn zerstört ist, da-
für kann ich mich einstweilen auf Olriks ausgezeichnete, von
gerechter indigoation des mylhenforschers getragene bemerkung
in seinem aufsatz Om Ragnarok (Arbeger n. r. 17, 222) be-
rufen, aher auch die fälle verschiedener Überlieferung in R und II
andern an diesem fast grundsätzlichen Verhältnis nichts, mit recht
hat Gering in seinem grofsen Wörterbuch die in R überlieferte
lesart v. 46, 2 at eno (jalla Gjallarhorne, die Wadstein (Arkiv 15, 161)
vortrefflich verteidigt hat und die, wie man auch die schwer ver-
ständliche halbstropbe auffasst, einen viel prägnanteren sinn gibt,
als die lesart von II at eno gamla, als selbständigen wortartikel
verzeichnet (s. 316), und gewis hat Sijmons nicht mit recht in
v. 9 die lesart von R hverr skylde dverga drötten skepja, die allein
in das Dvergalal einen einigermafsen verständigen sinn hinein-
bringt, hinter die von II zurückgestellt (aao. s. xxvm; vgl. Ileiuzel
Edda ii 19).
Auch was endlich die Überlieferung ganzer langzeilen an-
langt, darf man H gegenüber in der regel zum mistrauen geneigt
sein, noch niemand hat sich beispielsweise der Überlieferung von
H 7, 2 afls kostopo, alls freistopo gegenüber R peirs horg ok hof
hUimbropo angenommen, und es ist daher auch in fällen, wo
wir R, da durch Flüchtigkeit eine langzeile ausgefallen ist, nicht
mehr controlieren können, wie 60, 3, naheliegend zu zweifeln,
ob II in der langzeile ok minnask par d megendöma, die merkwürdig
an den regendömr (v. 65) erinnert, der ebenfalls nur in ihr
überliefert und inhaltlich höchst bedenklich ist, das ursprüng-
liche bietet.
Es ist demnach bei aller anerkeunung der principiellen gleich-
berechtigung der beiden Codices auf grund des einzelkritischen
Studiums des handschriftlichen materials doch in praxi seit Müllen-
hoffs grundlegender darstellung der Völuspa, deren ergebnisse
sich auch praktisch noch mit der durch Bugge inaugurierten hand-
Z. F. D. A. XL1X. N. F. XXXVII. 16
242 NIEDNER
schriftlichen auffassung deckten (vgl. DA. v 10), schrittweise, aher
sicher eine Verschiebung der beurteilung zu gunsten von R ein-
getreten, erfahrungsgeschichllich — wenn auch die theoretische
annähme bisher hestehn blieb, somit ist es nur ein natürliches
und durchaus methodisches verfahren, diese prüfung principiell
einmal auch auf die für die höhere kritik so wichtige frage des in
II überlieferten, entweder variantenhaft parallelen, oder R gegen-
über überschüssigen Strophenmaterials auszudehnen.
Ligt doch hier ein sicheres classisches beispiel, das zu
gunsten von R spricht, nach dem einstimmigen urteil der fach-
genossen bereits vor, nämlich die Zeilen II 30 pd knä Vdla
vigbgnd snüa, heldr vgro harpggr hgpt 6r pgrmom gegenüber R 35
Hapt sd liggja und hvera binde leegjarnlike Lohn öpekkjan. ein-
stimmig nimmt man jetzt an, dass wir es hier mit Varianten zu
tun haben, und dass nur R oder H das ursprüngliche im zu-
sammenhange des gedichtes bewahrt haben kann, beide Versionen
neben einander hat keine der neuern mafsgebendeu kritischen
ausgaben in den text aufgenommen, alle herausgeber und er-
klärer aber haben hier der fassung von R den vorzug gegeben
aufser Müllenhoff. es ist aber auch wol sicher, dass dieser bei
dem heuligen stände der forschung aus den von ihm in der
DA. v 9f aufgestellten erwägungen heraus schwerlich noch jetzt
für den principiellen Vorzug von H an dieser stelle plaidieren
würde, wie dem auch sei, auf jeden fall kann heutzutage, wo
durch ßiürn Magnüsson Olsen (Timarit 15, 1 ff . 16, 42ff. Um
Kristnitökuna 56 ff) die isländische herkunft des gedichtes über-
haupt discutabler als jemals vorher geworden ist, der isländische
charakter der visa an sich gewis keinen ausschlaggebenden grund
für ihre Zurückstellung aus dem texte zu gunsten von H ergeben
— ganz abgesehen davon, dass hvera lundr nicht notwendig
auf eine vulcanlandschaft deuten muss (vgl. Heinzel Edda n 46).
die fassung von H stellt sich in jedem falle, mag man sie nun
aus sprachlichen oder stilistischen erwägungen heraus, aus grün-
den des engern Zusammenhanges im gedieht oder aus allgemein-
mythologischen gesichtspuneten betrachten, als eine jüngere dar,
vermutlich entstanden mit bewusler anlehnung an die mit unrecht
von Müllenhoff und andern gestrichenen vv. 32, 3. 4; 33, 1. 2. die
von der rede Valis handeln.
Dasselbe Verhältnis, dh. dieselbe bewuste späte Varianten-
RAGNARÖK IN DER VÖLUSPA
zudichlUDg, ligt nun aber bei allen Übrigen io II überlieferten
plusstrophen vor, auch wo dies die handschriftliche Überliefe-
rung nicht so unmittelbar greifbar veranschaulicht, gelegentlich,
aber niclit in grundsätzlicher durchfuhrung isi darauf schon \<>n
Boer und Heinzel in den genannten arbeiten mehr oder wenig
ausführlich hingewiesen wordeu. übereinstimmend isl bei beiden
der im gegenwärtigen Zusammenhang unursprüngliche Charakter
der v. 40, .'>. I hrdpask aller d helvegom, <i/ir Surtar pann sef<
of gleyper erörtert worden, auch vv. 48 f (die in II ganz frag-
mentarisch überliefen sind), die Boer ebenfalls nachdrücklich als
spätere zudichlung bezeichnet, sind in Heinzeis überaus conser-
vativer ausgäbe nicht in den laufenden Vüluspatext aufgenommen.
dagegen gelm beide gelehrte in der beurleilung der für die höhere
kritik des gedichtes allerwichligsten H-strophe, der v. 65 Komr enn
rike at regendöme, Qfloyr ofan, sds pllo räpr denkbar auseinander.
während Boer die überschüssige halbstrophe ausdrücklich als not-
wendiges eigentum der Vüluspa, wenigstens des in ihr ange-
nommenen zweiten überarbeitenden dichters, proclainierl (aao.
s. 31311), hat Heinzel gerade ihr hinsichtlich des beweises ihrer
unursprünglichkeil in seinem Bddacommentar (s. 81 f) ganz be-
sondere Sorgfalt zugewant. schon, dass die kühnste und sub-
jectivste behandlung der Vüluspa, die im gedicbte alles vom stand-
puncl der höhern kritik allein betrachtet, und die allerzurück-
haltendste und objectivste, die sonst die höhere kritik als solche
principiell auszuschliefsen scheint, in der athelese der plusstrophen
in II teilweise zusammentreffen, ledweise sich widersprechend er-
gänzen, macht die obeu berührte systematische vergleichung des
gesamten II-mehrmateriales, nämlich der vv. 30, 1. 2. 40,3. 4. 4SI'
und 58, zu einer kritischen notweudigkeil. sollte sich dabei
herausstellen, dass sie in ihrer unursprünglicbkeit völlig gleich
zu beurteilen waren, so würde sich ein fesler kritischer aus-
gangspunct hergeben, von dem aus eine neusichtuug des über-
lieferlen lexles, zunächst der vielumstrittenen Ragnarökepisode,
vorgenommen werden könnte, wie diese als grundlage und vor-
trage für die psyche des gedichtes und seiner allgemeinen cultur-
bistorischen auffassung unbedingtes erfordernis ist. wir werden
aber diese nachprüfung des wertes der H-slrophen im zusammen-
hange nicht besser vornehmen können, als, indem wir uns zunächst
an der obengenannten allgemein als Variante anerkannten halb-
1G*
244 MEDINER
Strophe v, 30, 1. 2 den typischen Charakter dieser varianten-
dichtung noch einmal greifbar vergegenwärtigen, dann zu zeigen
suchen, wie in vv. 40, 3, 4 und 48 f dieser erweiterungsprocess
eine vollständige beslätigung findet, und endlich, wie in der halb-
strophe 65 und ihrer ergänzung in den papierhandschriften, die
immerhin als solche relativ all sein kann, diese nachdichtenden
Wucherungen ihren höhepunct erreichen.
Mislich ist in der Valistrophe in erster linie, dass man ohne
besserung überhaupt zu keiner erklärung kommen kann, da der
sprachliche ausdruck verderbt ist, und dass selbst bei der besten
emendation, von Vdla in Vdli, die wenigstens in der bessern der
prosadarstellungen, die von Lokis söhn handeln, der Gylfaginning,
eine stütze zu finden scheint, der ausdruck 'der wolf dreht die
kriegsbande', wie Boer (aao. s. 337) richtig bemerkt, immer etwas
gezwungenes behält, wie denu überhaupt die visa, wie ebendort
mit recht betont ward, in ihrer gekünstelten construclion als uui-
cum selbst unter den jüngsten Zusätzen der Völuspa dasteht,
ebenso zeigt der Zusammenhang, dass eine andre Stellung der
Strophe, etwa als eingang der Vorgänge von Lokis Fesselung, oder
als voregov tiqötsqov im stil der Völuspa hin skamma hinter der-
selben bei der schonen geschlossenheit der visa 35 in R Hapt
sd liggja und hvera lunde Iwgjarnlike Loka öpekkjan. par sitr
Sigyn peyge umb sinom ver velglyjop : vitop enn epa hvat? ein-
fach unmöglich ist. eudlich aber erweckt die Strophe auch aus
gründen des mythologischen zusammenbanges verdacht, denn
wenn auch in den andeutungen wahrscheinlich die darstellung
der Snorra-Edda oder der prosa zur Lokasenna hindurchschimmert
und die hgpt durch hapt in der R-strophe äufserlich zunächst
veranlasst scheinen, die möglichkeit, dass sie doch auf Vali, den
rächer Baldrs, geht, die Heinzel (Edda n 48) an erster stelle
bringt, ist nicht bestimmt von der band zu weisen, zumal wir
ja das mythologische Verhältnis der beiden Vali keineswegs klar
überschauen und möglicherweise Kauffmann recht behält, wenn
er den nur in Jüngern quellen erwähnten söhn Lokis als mis-
verständlich aus dem söhn Odins entstanden ausmerzt (vgl. Gollher
Handbuch s. 396). übrigens würde auch in diesem falle v. 35
ihren charakler als variantenstrophe behaupten uud könnte erst
recht nicht neben der echten Valistrophe (R 33, 3. 4. 34, 1. 2)
bestehn, sich auch in ihrer überlieferten Stellung vollständig
RAGNARÖK IN DER VÖLÜSPA 245
dem charakter ih'i gleich zu besprechenden reinen plusslrophen
des gedichtes nähern, auf jeden rall bleibt der typische gruod-
zu^r dieser dichtungsart der gleiche : 'minderwertige Fassung Dach
inhalt und form gegenüber der in unmittelbarer nähe slehnden
echten in R, deren ausdrucksweise gleichzeitig benutzt wird".
Pen gleichen charakter zeigen nun die beiden zudichtungen,
die Boer aao. s. 3331 und 305 f behandelt hat, von denen die
letztere (vv. 4SI) widerum unmittelbar neben der von ihr nach-
geahmten und benutzten v. 53 K (der Strophe von Thors kämpf
mit der Midgardsschlange) steht, also sich v. 30 II, falls man
diese im landläufigen sinne auf Lokis söhn deutet, bis auf ihren
jdatz in der Überlieferung vergleicht, die erstere (v. 40, 3. 4)
zwar an ihrer jetzigen stelle in den ausgaben von ihrer urbild-
strophe in H (v. 51) entfernt gerückt erscheint, aber, wie ihre
engste Verbindung mit 15 40 zeigt (lival's mep ösom, hvat's me/t
glfom, gnyr allr jplonheimr, d-sero ä /ringe) nach meiner festen Über-
zeugung durch dieselbe handschriftliche Verwirrung, die II auch
sonst beherscht und der unbegreiflicherweise die obengenannte
R-slrophe in ihrer fälschlichen Umstellung durch die kriliker
zum opfer fiel, an ihren jetzigen laischeu platz geriet, gerade,
dass sie nur dort passend stehn kann (v. 51), wo nach dem Zer-
klagen t\r* himmels mit der tat des wolfes der Weltuntergang be-
ginnt, ist für mich ein gewichtiger grund mit, warum ich glaube,
dass auch in diesem einzigen falle, wo nach dem allgemeinen
sich an Bugge anschliefseuden urleile eine R-strophe ihren
platz gewechselt haben sollte, II die richtige reihenfolge nicht
darstellt.
Es ergibt sich denn auch in den Zusätzen von 40, 3. 4 und
48 f ein deutlicher parallelismus, der sie widerum 30, 1. 2 nähert,
wie jene nämlich den für den mittleren teil des gedichtes so
wichtigen act von Lokis fesselung oder den ebenso bedeutsamen
von Valis räche, so paraphrasieren diese beiden visur die beiden
wichtigsten und entscheidendsten götterkämpfe der Ragoarük, die
mit dem tode Odins und Thors enden, der eine Zusatz holt das
verschlingen Odins durch Fenrir nach, was in v. 53 nicht aus-
drücklich ausgesprochen ist, der zweite schildert in geuauerm
detail das gebahren der Midgardsschlange bei ihrer tat, was in
v. 56 ebenfalls nur angedeutet wurde, sprachlich und stilistisch
aber widerholen sich dieselben Ungeschicklichkeiten und bedenk-
246 N1EDNER
Henkelten, wie sie oben bei v. 30 hervorgehoben wurden, die
letzte zeile 40, 4 öpr hann Surtar sefe of gleyper ist widerum
nur unter Voraussetzung dieser Muchschen besserung, die Gering
in seinem grolsen glosser (s. 342) mit recht acceptiert bat, ver-
ständlich, und der ausdruck Surtar sefe ist offenbar au v. 50
angelehnt, übrigens ein weiterer beweis dafür, dass die halbstrophe
einmal in deren nähe ihren platz gehabt hat. paraphrasiert doch
auch der, wie Boer mit recht hervorhebt, einen recht schiefen
gedanken enthaltende ausdruck hrd'pask aller d heloegom das
tropa haier helveg derselben Strophe, nur dort im gedieht ist
bei beginn des Weltunterganges dieser ausdruck recht am platze,
und ßoer hatte vollkommen recht, wenn er ihn, wie hier als
verfrüht, so 53 R als verspätet ausscheidet und dort (vgl. mono
haier aller heimslgp rypja), worauf wir später zurückkommen, als
kriterium für die uuechtheit des visuhelming 3 f in dieser
Strophe verwertet1, und ähnlich ist es bei visa 48 f H, die,
wie Boer (aao. s. 305) und Heinzel (aao. s. 75) zeigten, teils
aus der echten siropbe der Völuspa, teils aus andern liedern,
wie Hymiskvida und Ilyndluljod, ihre ausdrücke, die besonders in
ersterem liede viel besser am platze sind, entlehnten, in den
Zusammenhang der Völuspa aber passt, streng genommen, weder
die zudichtung vom verschlingen des Fenriswolfes noch die Situation,
in der uns die Midgardsschlange im einzelnen vorgeführt wird,
jene zerstört plump die Veredelung, die der Vüluspadichter in
der darstellung der Ragnarökkämpfe mit seinen mythischen motiven
vorgenommen hat — er erzählt nach Olriks feinsinniger bemerkuug
(aao. s. 278 f) absichtlich nur, dass der göttervater durch den
wolf fiel, wie er in der gleich folgenden Strophe von seinem
gegner, das unästhetische des landläufigen mythologischen beriebtes
vermeidend, mitteilt, dass er durch Vidars schwert ins herz getroffen
wurde, wenn aber von der Midgardsschlange erzählt wird, dass sie
hoch empor aus dem meere gähnt, so entspricht das schwerlich
1 zu der slrophenordnung, die Much (Zs. 37, 417 ff) vornimmt, um die
v. 40, 3. 4 an der in den ausgaben üblichen stelle zu halten, kann ich mich
nicht entschliefsen, obwol sie Gering in seiner neubearbeitung von Hilde-
biands Edda (s. 160 befolgt hat. abgesehen davon, dass an jener stelle der
ausdruck hrcepask aller ä lielvegom noch weniger am platze wäre, werden
in v. 46 die, wie die parallele v. 27 zeigt, untrennbaren Vorgänge von Heim-
dalls liornblasen und 0<tins ausspräche mit Mimir bei dieser anordnung un-
passend auseinandergerissen.
RAGNARÖK IN DER VÖLUSPA 247
dem bilde, das der Völuspadichter in seiner nurdiscret andeutenden
Strophe von dem vorgange gemacht hat, da ein solches gebahreo,
wie richtig bemerkt worden ist, wo] dem geköderten ungelüm,
aber nicht dem freiwillig herangeschwommenen zustand, beidemal
isl also der künstlerisch leinen auffassung des dichters aufdringlich
die übliche Vorstellung von dem zudichter entgegengestellt, und
dasselbe Verhältnis spiegelte sich ja auch, wie man sie nun aucli
deuten möge, in der unechten Valistrophe wider, auf jeden fall
aber verraten alle drei besprochenen visur engste verwantschaft
und lassen eine solche an sich auch schon für die letzte H-strophe,
v. (iö, die von lleiuzel so energisch verworfen winde, vermuten.
.Nach Heinzeis Vermutung wäre die visa das werk eines
christlich gesinnten Uberarbeiters des gedichts, 'während der um-
gekehrte weg, dass jemand diese religiös so wichtige Strophe wi
gelassen, vergessen oder ausgemerzt habe, fast — ich würde
getrost sagen 'ganz' — undenkbar' sei. schon diese allgemeine
erwägung ist für mich vollkommen ausschlaggebend für die alhe-
tese von v. 65. noch mehr die begründung der inisverstiiudnisse
des christlichen interpolators hinsichtlich der gesamten Situation,
wie sie vv. 64 und 66 voraussetzen, auf die wir unten bei der
besprechung dieser visur zurückkommen, so überzeugend diese
motivierung aber auch ist, sie gibt keineswegs den einzigen grund
für die lilgung der bisher immer für den gipfelpunct des gedichts
erklärten visa ab. sie bestätigt nur in höchst willkommner weise,
was an bedenklichkeiten in sprachlicher und stilistischer hinsieht,
ferner aus gründen ihrer Stellung in der tradition und dem Zu-
sammenhang der Überlieferung auch sonst, vor allem aber in
mythologischer beziehung von den verschiedensten Seiten über
sie bemerkt worden ist. in alledem reiht sie sich, um dies gleich
vorweg zu betonen, den bisher behandelten drei varianteuzusätzen
würdig an, selbst in dem punet, dass auch sie in unmittelbarster
nähe der zu paraphrasierenden visa steht: es ist nur ein gradueller,
kein principieller unterschied, der sie diesen visur ferner zu rücken
seheint, denn offenbar umschreibt sie — nur in bewust christ-
lich gefärbtem sinne — v. 62 bols mon alz balna, vxon Baldr
koma, die den wahren gipfelpunct des gedichtes darstellte, so dass
also in ihr der unheilvolle einlluss, den II durch ihre zudichtungs-
stropben ausgeübt bat, sich am nachdrücklichsten offenbart, dieser
parallelismus wird aber leicht begreiflich, wenn wir an das äugen-
24S NIEDNER
scheinlich (freilich sicher nicht io einem so weiten umfange,
wie dies Kauffmann aao. s. 58 annimmt) durch Christus beein-
flusste bild Baldrs bei Snorri denken, und im hinhlick darauf
mag man gern über die vorliegende halbstrophe — aber auch
nur über sie — das urteil fällen, das Björn Magnusson Olsen
aao. s. 81 ff. 85 f. 88 über sie aussprach, sicher bemerkt er über
sie ebenso mit recht, wie über die umstehnden vv. 64. 66 mit
unrecht, dass sie nichts weiter als Christus beim jüngsten gericht
ausmalen, sie entspricht tatsächlich in ihren Wendungen christ-
lichen ausdrücken, wie denen des Stockholmer homilienbuches aus
dem anfange des 13 jh.s mep gope almötkom i himinsrikis dyrp,
und mit fug hebt Olsen hervor, dass in der nichtnennung des
namens des höchsten gottes nur die — allerdings nach unsrer
auffassung durch den interpolator falschlich — der Seherin in
den mund gelegte scheu sich ausspreche, den namen Christi zu
nennen, wie dies ja in den Worten der die Völuspa nachahmenden
Völuspa hin skamma : pd kernr annarr, enn mötkare, pö porek eige
pann at nefna direct und ohne jede Verschleierung zu tage tritt.
Vergegenwärtigen wir uns nun im detail die erdrückende
fülle von längst schon an zerstreuten stellen und in verschie-
denstem Zusammenhang von gelehrten beobachteten kriterien für
die bedenklichkeit dieser halbvisa.
Zunächst erwecken die beiden substantivierten adjectiva, die
bei der Charakteristik des neuen unbekannten gottes verwant
werdeu, die grösten bedenken, er heifst enn rike (der mächtige),
es at gllo rwpr (der über alles herscht). diese farblos umschrei-
bende adjectivische bezeichnung für die Charakteristik eines gottes
von so weittragender bedeutung hat in der guten alten eddischen
dichtung sicher keine aualogie. wol aber kehren jene ausdrücke,
wie oben angedeutet, reichlich in der christlichen litteratur wider,
und ebenso der ganz singulär dastehnde ausdruck regendömr, der,
wie oben bemerkt, den nur in H überlieferten ausdruck d megen-
döma (v. 50,3) möglicherweise verschuldet hat, vielleicht aber auch
erst durch misdeutung der dortigen Situation die plötzliche ein-
flechtung des jüngsten gerichts durch Jesus in v. 65 mit veranlasste,
daneben werden in der Strophe aber echte worle des gedichtes nach-
geahmt, so gflngr aus v. 17, wo der ausdruck als bezeichnung der
drei menschenschaffenden Äsen verwant wird, so lehnt sich auch
enn rike an enn dimme an (v. 66); nur dass dort der ausdruck ord-
RAGNARÖK IN DER VÖLUSPA 249
nungsmäfsig durch das substaDtivum dreke ergänzt wird, endlich
zeigt der ganze Strophenanfang komr enn rike bewusle anlehnuog
nicht nur an den anfang eben dieser visa kemr enn (limine dreke
fljhyande, sondern auch an v. 53 pd komr Hlinar harmr annarr
fram, v, 54 komr enn mikle mggr Sifgopor und v. 55 kemr enn
untre mogr Illöpynjar, ist übrigens schon aus diesem gründe,
worauf noch nirgends mit genügendem nachdruck hingewiesen ist,
für einen besonders prägnanten stroplfenanfang, wie ihn das er-
scheinen des höchsten goltes als bedeutsamster schlussact des
gedichtes doch erfordert, denkbar ungeeignet.
Zu diesen sprachlichen und stilistischen harten und un-
gereimtheilen tritt nun die unvollständige Überlieferung in metri-
scher hinsieht, wir haben es mit einer halbslrophe zu tun, und
die ergänzung der papierhss., die in diesem schlussabschnilte gern
und nicht unglücklich lücken auszufüllen suchen (vgl. auch v. Gl)
semr hann dumar ok sakar leggr : veskpp selr, paus vesa skolo,
zeigt deutlich dasselbe fortwuchern der christlichen zudichtung,
dem wir vielleicht, wie bemerkt, auch zeile 60, 3 verdanken, je
besser die ergänzung der papierhss. aber ist und je weniger sie
sich an dieser stelle von dem ganzen tenor der halbvisa unter-
scheidet, so dass sich der sonst so behutsame Müllenboff sogar
zu ihrer aufnähme in den Völuspatext entschließen konnte, um
so mehr bestätigt sie die müglichkeit einer spätem entstehuugs-
zeit dieser ergänzung in II, wie der ihr so nahe verwanten oben
besprochenen parallelslrophen.
Aber auch in den überlieferten Zusammenhang fügt sich die
visa in keiner weise, schon Heinzel (s. 81) hob hervor, dass
es nicht begreiflich erscheint, welche rolle die neuen gülter
von w. 59. 60. 61 — und wir können hinzufügen auch von
v. 62 — dem obersten richter und heirn gegenüber spielen
sollen, man muss doch wol annehmen, dass die gülter, die sich
so eifrig an Fimboltys fornar rünar erinnern, ihren herscher in
ihrer eignen mute finden werden, auch Olrik hat, wenn er auch
von seinem staudpunet aus, da er den ganzen schluss des gedichts
zwar zum teil für christlich gefärbt, aber künstlerisch für einheit-
lich hält, von einer athetese der v. 65 nichts wissen will, doch den
episch wertlosen Charakter desselben klar erkannt, und es ligt
ganz in der richlung Heinzeis, wenn er (aao. s. 283) zusammen-
fassend über das erscheinen des höchsten goltes urteilt : ll VoJospQ
250
NIEDNER
kommer han med stör dramatisk virkning; men episk set er han
ganske overflodig, da den unge gudeslaegt selv mä kunue ordne
den fornyede verlden og allerede bar gjort det\
Das allerschwerste bedenken ligt doch aber sicher darin,
dass dieser oberste gott und die art seiner erscheinung sich
weder mit den mythisch-geographischen noch mit den mythisch-
historischen Vorstellungen des nordisch-heidnischen altertums, wie
es uns sonst in den Eddaliedern begegnet, irgendwie verträgt,
dass der höchste gott von oben {ofan) kommen soll, was auf-
fallend an die genannte stelle des Stockholmer homilienbuches
erinnert, ist ein unicum in der ganzen mythischen geographie
des gedichts, das nur in dem vindheim vipan der, wie wir
später sehen werden, ebenfalls bedenklichen, wenn auch nicht
gleichfalls notwendig christlich gefärbten v. 63 seine entsprechung
hat. wol können der Idavöllr (v. 60) und die neue Valhöll (v. 62
flröpts sigtopter) ohne Widerspruch neben einander in der apo-
theose des gedichts bestehn, da während seines ganzen Verlaufs
ebenso wie götter und menschen, consequent auch götterweit und
meuschenwelt, die ja ohnehin so viel beziehung haben, nicht
streng geschieden werden, ist doch auch im ersten teil, in voll-
kommen genauer entsprechung, die locale entfernung des Ida-
feldes, wo die gölter zuerst auf der erde wohnen, und der
Walhallburg, die sie sich in Asgard errichtet haben, nirgends
angedeutet (vv. 7. 24) : auch hier fehlt jede mythisch-geographische
differenzierung von götter- und menschenweit, dass aber über
dem neuen Idavöllr und der neuen Valhöll (vv. 60. 64) noch eine
neue oberweit da sein soll, hat nirgends eine parallele, das ofan
ist offenbar ganz mechanisch dem nepan in v. 66 nachgebildet,
das aber, da uns Nidhöggs heim unter der erde schon aus vv. 37.
39 genugsam bekannt ist, dort sehr wolverständlich erscheint,
und was nun endlich die erscheinung eines solchen höchsten
unbekannten gottes an sich anlangt, so weifs sie bekanntlich
keine andre ältere eddische quelle, nur in jüngster dichlung,
wie in der von der Völuspa abhängigen Völuspa hin skamma, ist
davon die rede, seihst die doch christlichen einfliissen nicht un-
zugängliche darslellung Snorris kennt wol Gimle, aber nicht diesen
Üeög dyvioTog. nur die Vorstellung von der widerkehr aller ehe-
maligen götter oder einer Jüngern generalion derselben kehrt auch
sonst wider, wenn auch die biirger des neuen olymps nicht immer
RAGNARÖK UN DER VÖLl SPA 251
die gleichen sind, von einem bestimmten oder mehreren herschern
dagegen ist zwar direct auch nirgends die rede, wol aber deutet
die alte bekannte rälselfrage, die Odin in Baldrs ohr (lästerte,
eh man ihn auf »Ion holzstofs hob, die Vafbr. 54 und Hervarar-
i c. II bekanntlich doppelt berichtet wird, deutlich genug,
wie schon oben hervorgehoben wurde und wie schon Müllenhofl
so nachdrücklich betonte, auf die in v. 6*2 erzählte widerkebi
Baldrs in der zukünftigen rolle Odins.
Müssen wir somit sämtliche Zusätze in II für spätere ziem-
lich gleichartige willkürliche erQndungen hallen und stellte sich
dabei ebenfalls schon vorübergehend heraus, dass auch das letzte
privileg, was II bisher noch über R hinsichtlich der stropben-
ordnung betreffs v. 49 zu behaupten schien, ebenfalls sehr ver-
dächtig erscheint — ein ergebnis, das spater weitere bestätigung
erhalten wird — , so verliert diese jüngere handschrift, soweit
die höhere kritik dabei in frage kommt, für uns praktisch jeden
wert, nur auf dem boden der Überlieferung in R betrachten
wir daher nunmehr, von der letztgenannten alhetese von v. 65
ausgehend, die Ragnartikepisode (vv. 45 — 66) in ihrer gesamlheit,
um einen klaren blick über ihre anordnung und künstlerische
composition zu gewinnen.
Unzweifelhaft ist nämlich von den ergebnissen unserer zu-
gammenfassenden betracblung über die Wertlosigkeit der hs. II
das wichtigste und lorderndste die erkennlnis von der unechlheit
der v. 65. denn es kann keinem zweifei unterliegen, dass ihre
bisher immer im rahmen des gedichts als berechtigt und sogar
als notwendig behauptete exislenz, wie verschieden sich auch die
gelehrten zu ihrem Charakter sonst stellen mochten, das haupt-
hindernis bildete für die einheitlichkeit der schönen schlussparlie
vom emportauchen der neuen weit aus dun fluten (vv. 59 — 66).
besonders für alle die, die in Müllenhofls sinne an die erklärung
lies gedichts herantraten, um es als echt heidnisches und alt-
germanisches erzeugnis, wie es sich dieser im Zusammenhang
seiner Deutschen allerlumskunde dachte, weiter zu analysieren,
bat die glanzende Verteidigung dieser Strophe durch ihn (DA. v
331) und ihre ergänzung durch IlolTory (Eddastudien s. L40)
immer etwas erschweremies gehabt, laisächlich stört sie allein
die harmonie des welterneuerungsabschnittes. auch hier ist es
zum mindesten zweifelhaft, oh Müllenhoff seine zuversichtlichkeit
252 NIEDNER
in der betonuug des heidnischen Charakters der Strophe noch
heule festhalten würde, wo der junge isländische Charakter der
Völuspa hin skamma feststeht, deren v. 65 nachgebildete visa
(Hyndl. 44) pä komr annarr enn mötkare : pö pore ek eige pann
at nefna unter der falschen Voraussetzung von dem hohen alter
dieses gedichls eine hauptslülze seiner beweisführung bildete,
schwerlich hätte er, auf den oben charakterisierten Wortlaut der
Strophe allein gegründet, bei der entscheidenden Wichtigkeit, die
auch er der widerkehr ßaldrs für die gestaltung des neuen lebens
beimafs, einer Untersuchung unter der Voraussetzung Baldrs als
des gottes der neuen weit, für die durch die wolbegründete tilgung
von v. 65 bahn ward, principiellen widerstand entgegensetzt,
wenn wir Müllenhoff so stark die widerkunft ßaldrs als nächst
dem erscheinen des höchsten gottes wichtigstes ereignis betonen
sehen, auch bei der betrachlung der Vafbrudnismal (DA. v 245),
und anderseits seine geistvollen, aber nirgends an sich beweisenden
versuche beobachten, eine Charakteristik und psychologische er-
klärung des neuen herschers zu geben, die in Hofforys annähme
(Eddastudieu s. 140), dass in ihm der alte himmelsgolt lrmintiu
widerkehre, ihren sinnigsten, aber auch unwahrscheinlichsten
ausdruck gefunden haben, dann zeigt sich uns selbst in seiner
tiefdurchdachten darstelluug ein riss. zwischen Baldr und dem
obersten herscher klafft eine unüberbrückbare lücke.
Genau dieselbe Schwierigkeit tritt aber ein, wenn man v. 65
im Zusammenhang des gedichtes für die darstellung des jüngsten
gerichts in auspruch nehmen und mit den umgebenden vv. 64
und 66 verknüpfen will, hier kann ich mich auf Heinzel be-
rufen (Edda s. 82). mit recht bemerkt dieser, dass die vv. 64
und 66 in v. 65 keine stütze für ihre erklärung finden können,
da hier der gegensatz nicht ist, dass die menschen der gegen-
wärtigen unvollkommenen weit beim jüngsten gericht nach ihrem
verdienst strafe oder lohn erhalten, wie es die christliche lehre
verlangt, sondern dass alle bewohner der gegenwärtigen weit
strafen zugeführt werdeu , wie sie v. 38 in den höllenstrafen
schildert — wir können hinzufügen, wie sie v. 45 brepr mono
berjask, ok at bgnont verpask, mono syslrunyar sifjom spilla auch
für alle zu gründe gegangenen menschen voraussetzt — : alle
menschen der neuen weit aber sollen in ewiger wonue leben-
und der schlagendste beweis, wie wenig sich v. 65 in dem gegen-
RAGNARÖK IN DER VÖLI SPA
wärtig überlieferten zusammenhange mit w. 64 und 66 unter
der Voraussetzung des jüngsten gericbts zusammenfindet, zeigt
Notwendigkeit, in die sich Boer aao. s. 315 »ersetzt siebt, eine
gewaltsame Umstellung vorzunehmen, in <I<t tat eine seltsame
reihenfolge : die guten werden belohnt, der oberste ricbter
k 1 1 1 zum gericht, die schuldigen werden bestraft! wenn
Boer, um die von ihm gewünschte Interpretation der stelle zu
erreichen, diese Umstellung vorgenommen hat, hat er auf eine
erklärung oder molivieruog ihrer falschen Stellung in II ohne
weiteres verzichtet, immerhin seltsam, da er doch sonst die autorität
dieser hs. nicht principiell verwirft und bei der schon mehrfach
erwähnten v. R 49. II 11 dieselbe nach Bugges Vorgang ohne
bedenken acceptiert. ich meine gerade : in einem so entschei-
denden falle, wo es sich um die frage heimischen sagengutes oder
christlicher einflösse handelt, wäre sie unbedingt notwendig ge-
wesen, indes, ich glaube, sie wäre ihm kaum gelungen, denn
gerade unter der Voraussetzung des gesamtchristlichen Charakters
von w. 64. 65. 66 war wol eine bewuste Umstellung oder auch
nur nachlässige Verwirrung in II, die den christlichen sinn so
töricht entstellt hätte, so unwahrscheinlich wie nur möglich.
Alle die — von welchem gesichlspunct auch immer — die
Schlusspartie ^\c> gedichts in ihrer totalität als christlich bezeich-
neten, haben diesen durch Hein/.el aufgedeckten liefgreifenden
unterschied zwischen v. 65 und ihrer unmittelbaren Umgebung
nicht gesehen, von den drei hauptversuchen nach dieser richtung
-eheidet der von EHMeyer (Voluspa s. 218 ff) für uns aus, da er
in dem mit seinem gesamtstaudpuncte zusammenhängenden streben,
das ganze gedieht als das werk eines gelehrten Christen des 12 jh.s
darzustellen, soweit ich sehe, in der Forschung allein geblieben
ist (s. 253 f). ist er doch selbst Bugge gerade in dieser letzten
partie des gedichts in seiner mythischen Christianisierungssucht
zu radikal vorgegangen, sehr vielmehr zu denken geben natürlich
dessen einwände gegen den heidnischen Charakter (The home of
the eddic poems s. xxvinll). aber irgendwie überzeugen können
sie ebenfalls nicht. zunächst sind die combinationen von
angeblich christlichen einflössen alle gewonnen durch das medium
einer reihe aus dem christlichen England entlehnter fremdwörter,
die zum teil, wie lüavöllr und Nitiavöllr, strittig sind, zum teil
allerdings, wie 'der fliegende drache' in v. 60 und 'die halle
254 N1EDNER
Gimle' der v. 64, diesen einfiuss verraten : aber wie kann daraus
in diesen beiden letzten lallen (s. xxxivf und xxxvif) gefolgert
werden, dass auch die in den einem schon christlichen stamme
angehörenden Fremdwörtern liegende bedeulung, selbst wenn sie
dort reiuehristlich wäre, nur als solche entlehnt sein könnte.
und dann sind die Zusammenstellungen des offenbar neuen Val-
höllsaales und des alten heidnischen Zerstörers Nidhögg, dessen
auch v. 37 erwähntes beim in dieser selbst von den christlichen
beanstandern der nachbarvisur nicht angefeindeten Strophe sicher
nicht christlich gedacht ist, mit dem neuen Jerusalem uud dem
drachen der apokalypse doch würklich nicht so, dass sie die Über-
zeugung notwendigen Zusammenhanges erweckten, vor allem aber
beweisen sie gewis nichts für die herkunft dieser Schlusspartie als
christlichen gesamtbesitzes aus England, da sowol Norweger wie
Isländer auf ihren vikingerzügen jenen wortvorrat — das ent-
scheidende beweismaterial Bugges — sich flüchtig angeeignet
haben konnten (vgl. auch Sijmons Edda i s. cclxxxvi). wird
doch dasselbe argument angeblichen christlichen Charakters dieser
Schlusspartie von dem dritten der hauptgegner ihres heidnischen
Ursprungs Björn Magnüsson Olsen gerade — ebensowenig an
sich überzeugend — für die isländische heimat des ganzen gedichts
angeführt, im gruude genommen bleiben von seinen ausführungeu
(Timarit 15, 80 ff) ja nur die dyggvar drötter und die ynpe, die
sie in Gimle geniefsen sollen, als äufserlich ausdrücken in christ-
lichen Zeugnissen vergleichbar, aber es wird sich nun einmal
nicht beweisen lassen, dass dyggr, das an der einzigen stelle,
wo es sonst noch in der Edda vorkommt (Beginsmal v. 20),
von der treuen folge des doch gewis nicht in seinem beabsich-
tigten werk christlich gesinnten raben «ebraucht wird, absolut
den prägnant christlichen sinn 'rechtschaffen', den ihm Snorri
unterlegt, haben müsse, und dass die drottar dyggvar dieselben
wie die 'guten menschen' im glaubensbekenntnis des Stockholmer
homilienbuches sein müssen, oder dass die ynpe, die an andrer
stelle (Havamal 96) die jarlswonne, die der höchste heidnische
gott bei seinem Billingsmädcben genoss, darstellt, hier nur
durchaus die wonue der rechtschaffenen seelen im paradiese sollte
darstellen können.
Es wird vielmehr die alte ansieht Müllenhoffs (DA. v 30 — 37)
hier wol zu recht bestehn müssen — falls man nur die oben
RAGNARÖK l.N DER VÖLUSPA
besprochene parlie ober \. 65 ausscheide! — , dass echl heid-
oische Vorgänge in diesem neuen götterheime geschildert werden,
immerhin hal auch er Dach meiner aufrassung noch dem dyggr
eine allzu wenig heidnisch gefärbte nebenbedeutung beigemessen,
und auch das oben genannte törichte vi valtiva von Hask be-
lassen, indem er allzueifrig «l.is friedliche m dem Charakter der
neuen weit urgierte. ich habe mich in früheren arbeiten schon
nachdrücklich nach jener riebtun g ausgesprochen, und merk-
würdigerweise werden die typisch heidnischen züge gerade in der
ilcn christlichen Charakter der Schlusspartie bezeugen sollenden
darstellung Olsens ins rechte licht gestellt, auch er erwähnt, dass
Schlachtengötter in der neuen Valhöll wohnen und weisl auf den
ausdrücklich kriegerischen namen Bods, i\w nur in der Ragnarök-
darstellung dieses liedes widerkehrt; ja er gehl sogar so weit, in
dem adler, der auf den bergen der ueuentstandenen weit fische
weidet, eine kriegerisch-unchristliche Vorstellung zu erblicken, er
lieht ferner den von der Snorra-Edda so stark helonten kriege-
rischen Charakter von Thors söhn Magni hervor und fragt mit recht,
was denn Magni und .Modi in den Valihiudnismal eigentlich mit
dem bammer ihres vaters in der neuen friedlichen well anlangen
sollen, freilich, um den unterschied zwischen beiden gedichtet)
zu erweisen, in würklichkeil sind eben die kriegerischen Odins-
söhne in der Völuspa und die kriegerischen Thorssühne in den
Vaflhrdunismal vollkommene parallelen, und der Völuspadichter
hat sich die neue bürg Baldrs nicht anders gedacht wie die alle
Odins und die mannen in Gimle eben als einherjar, die in wonne
leben, wie die krieger in Ueowulfs Ilrodgarhalle, und gewis vom
Waffenhandwerk nicht zu trennen sind, soll man einem harten
schlecht, wie den mannen) der Egils- und Njalssaga, denen
ßoer (aao. s. 358) mit recht seinen ersten dichter an die seite
stellt, nur dass mau diese Vorbilder getrost als cullurelle Voraus-
setzung für die ganze Völuspadichtung in anspruch nehmen kann,
jedes gefühl für weichere Vorstellungen absprechen? sollte auch
bei ihnen, gerade als coulrast, vorübergehnde friedenssehnsucht,
wenn auch gleich wider von neuer tatkraft begraben, nicht zu
denken sein? wol kann ein bedeutender dichter dies gefühl
einmal in den gedanken des künftigen heidnischen paradieses
taghell leuchtend projiciert haben, aber eine schar waffenloser
heiliger haben sich seine landsleule sicher nicht dabei gedacht.
256 NIEDRER
alle schuld, alle verderblichen würkungen des kriegshandwerks
wurden weggedacht; alle wonneu, alle den freien mann im kriegs-
spiel ergötzende beseligung blieb, die form des alten lebens blieb
in der phantasie ßls selbstverständliche Voraussetzung : aber die
in den einherjarkämpfen längst vorbereitete Vorstellung eines hei-
teren, glücklichen spiels war das neue, was nun ewig sein sollte,
bei dem kurzen prägnanten stil der Völuspa kommt dies daher
allein in v. 64 zum ausdruck : in der tat keine abschwächung
der in Vafprudnismal 41 geschilderten Vorgänge, wie Wilken (Zs.
f. d. ph. 33,328) meint, sondern die denkbarste Steigerung, gewis
ist in all diesem kein Widerspruch in der dichterischen phan-
tasie. und ein reiner logiker ist der Vüluspadichter eben seiner
ganzen pythischen Veranlagung nach ebensowenig gewesen, wie die
Vulva, der er seine tiefsinnigen anschauungen in den mund legt.
Ich kann demnach auch Björn Magnüsson Olsen in seiner
polemik gegen FJönsson (Literaturhislorie s. 131 f) insofern nur
völlig beistimmen, wenn er sich gegen dessen auffassung wendet,
dass die heiden sich eine ganz unkriegerische weit consequent
im jenseits aus ihren anschauungsbedingungen heraus hätten
denken müssen! ja, wenn sie abstracte logiker gewesen wären,
aber unbewust empfunden haben diese überkriegerischen
männer als contrast eine solche weit der ruhe gewis tausendmal,
und so konnte ein derartig kriegerisch-unkriegerisches jenseits denn
in ihrer phantasie sehr wol die Voraussetzungen abgeben für ein
bild, dem danu ihr gröster dichter in der Gimlestrophe plastische
gestalt verlieh, überhaupt scheint es mir doch eine verkennung
des künstlerischen Charakters des gedichts, wenn FJönsson es als
eine bewuste tendenzdichtung hinstellt; dass die Völuspa dem
Unglauben entgegentreten sollte, kann ich ebensowenig mir vor-
stellen, wie dass die Lokasenna eine pädagogische waruung vor
demselben enthielte (aao. s. 135. 185).
Ebensowenig wie der tiefgreifende unterschied in religions-
philosophischer hinsieht ist aber das misverhältnis zwischen der
v. 65 und anderseits den vv. 64. 66 in bezug auf die technik des
aufbaues genügend gewürdigt, die dramatisch abschliefsende wür-
kung nämlich, die v. 66 beherscht und sie geradezu notwendig
im gedieht macht, wurde durch die unechte visa vom erscheinen
des höchsten gottes, die, wie ich oben hervorhob, selbst einen
dramatischen höhepunet darstellte, abgeschwächt und unpassend
RAGNARÖK IN DER VÖLÜSPA
vorweggenommen — ein grund mit für mich, seinerzeit, unter
der Voraussetzung der ursprünglichkeil von v. (>.".. die würksame
ausgangsstrophe dem gedicble unberechtigter weise abzusprechen
(Zs. 36, 282CT. 41,35).
Einen weitern beweis für den anders zu beurteilenden Cha-
rakter von vv. 64. 00 und v. r>"> bildet der von Wilken (Zs. f. d. ph.
30, 45S) mit unrecht geleugnete parallelismus von vv. iii — 66 mit
37 — 39 des zweiten leiles des gedichts, der nach Müllenhofl dir
gegenwarl schildert, dass der der sonne ferne saal in Naströnd
und der mit gold gedeckte saal auf Gimle, dass ferner die durch
die eiskalten ströme watenden Verbrecher und die treuen scharen,
die in Gimle hausen, bewusle ^re»ens.:il/.e bilden, darin treffen
uer wie HolTory (aao. s. 133) und Boer (aao. s. 314), die
doch ganz andre beweisführungen verfolgen, zusammen, auch
dass der draehe Nidhögg in v. 39 seine entsprechung hat und
dass hier ebenfalls ein hewuster parallelismus vorliegen muss,
ward schon hervorgehoben und ward längst heohachtet. es ist
indes völlig unstatthaft, aus diesem »runde nur vv. 3S 1 mit
w. 64. 66 in eine engere gruppe zu rücken, die, ohwol sie doch
als charakteristische scene die vom slandpunct des Germauen
so notwendige wasserhölle enthalten (Müllenhoff DA. v 120),
durch den christlichen Charakter auch wider den besprochenen
beargwöhnten Strophen dir Schlusspartie entsprechen sollen, denn
der parallelismus von v. G4 wie v. 66 ist notwendig auch auf die
von Boer streng von v. 38 f geschiedene v. 37 auszudehnen, und
zwar nicht hlofs in dem contrast der leichentäligkeit ISidhöggs.
der nicht gegensätzliche parallelismus von v. 64 und v. 37 ist nicht
zu verkennen, da der goldne saal von Sindris geschlecht mit
dem goldgedeckten saal auf Gimle correspoudiert, wie der
'biersaal des riesen' offenhar auf ähnliche Ireuden deutet, wie sie
in der idealisierten weit die hewohuer der neuen Walhall erwarten
werden, fest und unauflöslich schliefst endlich auch beide
Strophengruppen in ihrer gegenseitigen totalität die gleichuug
Niüavellir — Nifiafjoll zusammen.
Damit ist nun aber auch eine feste brücke geschlagen von
den endvisur 64 und 66 zu den eingangsvisur (vv. 59 ff) der
schönen schlusspartie, da diese gauz in derselben weise auf die
eingangspartie des ganzen gedichtes (311) zurückgreifen und auch
hier offenbar lauter bewusle gegensätze sich finden, hier wir
Z. F. D. A. XLIX. N. F. XXXVII. 17
258
MEDNER
dort treffen die Äsen auf dem Idafelde zusammen, liier wie dort
treiben sie das fröhliche bretspiel, hier wie dort gibt es ein
goldnes Zeitalter, dieselben ausdrücke umschreiben beidemal die
alte wie die neue olympische Seligkeit/ und der parallelismus
würde noch weiter gehn, wenn wir in der unvollständigen v. 61
statt des mit Jöusson in seiner ausgäbe sicher zu streichenden
elenden lückenbüfsers pars i drdaga dltar hofpo den ver-
lorenen visuhelming halten, der offenbar das goldne Zeitalter
weiter ausmalte, denn der schon im rhyibmus wuchtige nach-
haltige ausdruck mon Baldr koma scheint entschieden mehr
vorauszusetzen als die andeutende allerdings sehr charakteristische
noiiz, 'dass die ä'cker fortan unbestellt frucht tragen sollen',
auch die scheinbare abweichung im eingang von v. 59, wo er-
zählt wird, dass die erde von selbst wider aus den fluten empor-
taucht, während sie im eingang der Völuspa (v. 4) von Burs
söhnen aus den fluten emporgehoben wird, ist nicht imstande,
diesen parallelismus zu zerstören, wie Olrik (aao. s. 279)
richtig bemerkt, ist das naturphänomen nur so zu sagen an
zweiter stelle nackt widergegeben, während es an erster in mytho-
logischer umkleidung auftrilt. genau derselbe Vorgang widerholt
sich ja v. 57 in der mit v. 59 correspondierenden darstellung
vom untergange der weit, wo ebenfalls nur gesagt wird, dass die
sonne zu dunkeln beginnt und die hellen Sterne vom himmel
schwinden, während in der proleptischen, dichterisch so würksamen
v. 41 derselbe nalurvorgang {svgrt verpa sölskin) unter dem bilde
des die sonne verschlingenden Ungetüms in mythologisch aus-
führlicher Umschreibung dargestellt wird (aao. s. 272).
Es gehört schon eine ziemliche Voreingenommenheit da-
zu, wenn Boer, dem bei seiner hypothese von einem doppelten
dichter der Völuspa nach seinem eignen geständnis gerade in dieser
farbenprächtigen Schlusspartie des liedes nicht wol wird (s. 33S)
bei der nicht wegzuleugnenden ähnlichkeit der Strophen 64. 66
mit w. 59 ff in der absieht, in bewusten gegensatz zu den ab-
schnitten des liedes vor der katastrophe zu treten, sich mit dem
auswege hilft, der jüngere dichter (w. 62 ff) habe hier eine figur
des älteren (w. 59 ff) nachgeahmt, für jeden unbefangenen wird
die auffassung die nähere sein, dass der ganze abschnitt von
w. 59 — 66 — mit ausnähme natürlich von v. 65 und auch von
v. 63, auf die wir gleich zurückkommen — das werk desselben
RAGNARÖK IN DER VÖLUSPA
dichlers und aus einem guss isl und ebenso einheitlich auf die
vor dem Ragnarökabschnilt liegenden teile des gedieh tes, den
Müllenhoffschen vcrgangenheiis- und gegen war tsabschniit, zurück-
!i. denn auch v. 62 \> « ■ i s t um dem kurzen prägnanten aus-
druck »ton lUildv koma deutlich auf die als bekannt voraus-
gesetzte breil und liebevoll ausgemalte miltelpartie des liedes
(vv. 31 — 35), die die ganze Baldrgeschiclite umfasst, — insbesondre!
wenu die von uns später versuchte ergänzung ^ry unvollständigen
v. 36 das richtige triffl — , als die Beele und den Lebensnerv des
ganzen liedes zurück, wenn es bei diesem wichtigsten ereignis
vor dem Weltuntergang heilst 'Frigg beweint das weh Valhölls',
und wenn hier bei dem wichtigsten ereignis nach der well-
erneuerung Baldr al> einer der 'Valtivar' ausdrücklich auf-
gerührt wird, so isl unschwer zu erkennen, dass auch dii
Wendungen in fester und bewusler sprachlicher correspondenz stehn.
Ebenso verlang! aber Boer meiner auffassuog nach viel be-
dingungslose oachgiebigkeit, wenn mau ihm unter der Voraussetzung
seiner eben genannten hypolhese in der annähme folgen soll
dass sein sonst streng epischer und jede lyrische anwandlung
verschmähender erster dichter hier plötzlich am schluss in v. Gl
empfindsam weich und idyllisch geworden sein soll (aao. s. 3441;,
und man fragt unwillkürlich, wenn der schluss dieses älteren
liedes hinter v. 61 unterdrückt sein sollte, in welcher Stilart
dieser nun eigentlich gelautet haben möchte? empfindet da
nicht Olrik, der die souveräne meisterschaft des dichlers seinem
Stoff gegenüber widerholt so treffend darstellt, viel richtiger, wenn
er die Schaffensfreude, welche die ganze schlusspartie durch-
zieht, in den schönen worten charakterisiert (s. 280): 'Her
hvor de andre kilder forslumme, pä tserskelsen til det nye
verldensliv, synes Voluspädigteren fortrolig med all; bans ilemle
stil ombyltes med rolig udmaling; her elsker haus fantasi at
dvaele'. sicher ligt grade die Stilverschiedenheit hier am seh!
in der sache seihst, und bei aller einheitlichkeil. des mythologischen
Zusammenhangs erfordert diese gradezu eine mannigfach abgetonte
stilistische darstell ung. und wie hatte der dichter kunstmittel,
über die er nach dieser seite so überreich gebietet, nicht ver-
schwenderisch gebrauchen sollen!
Ein solches und zwar besonders virtuoses mittel ist meiner
Überzeugung nach auch das häufige fulurische mon, das Boer (s.341)
17*
260
iMEDiNER
hauptsächlich als beweisrailtel für die partieen des jüngeren dichlers
verwertet, mir scheint, gerade in seiner verschiedenartigen Ver-
wertung zeigt sich eine besonders weise Ökonomie der dichtung.
es tritt im gedieht zum ersten male auf, wo tatsächlich zum
erstenmal von der Zukunft berichtet wird (v. 45 brepr mono
berjask), und bildet für mich mit eine der festesten stutzen für
die allein berechtigte dreileilung des gedichls, die Müllenhoff so
glänzend begründet hat. und wenn es der dichter hier zum
ersten mal ausgiebiger bei dem erscheinen ßaldrs verwendet, so
hat dies seinen sehr guten und wolerwogenen grund. denn das er-
scheinen des höchsten gottes Baldr, des Odin der neuen weit,
der sich gleich darauf mit seiner saldrött, der elite der neuen
gotter- und menscheuwelt, wie Valhölls bewohner in der alten,
einrichtet, stellt allerdings eine Zukunft in der Zukunft dar.
sehr fein eingeleitet wird dieser Übergang durch das prägnante
mono epter (v. 61), das aus der Zukunft, die mit v. 45 begann,
und deren letztes bild die nach der Zerstörung der weit wider-
kehrenden und wol noch halb traumhaft von der Vergangenheit
redenden götter (v. 60) waren, zu der zukunft in der zukunft
hinüberführt, in der sie bereits wider zu in alter olym-
pischer ruhe dahinlebenden göttern (v. 61) geworden sind, ich
werde auf die ungeheure differeuzierungsfähigkeit des Yöluspa-
dichters in der Zeitendarstellung noch in anderm zusammenhange
zurückzukommen gelegenheit haben : für die hypothese eines
älteren und jüngeren dichters scheint sie mir einen sehr geringen
stützpunet abzugeben, da gerade die angeblichen disharmonieen
der schlusspartie bewundernswerte, ja die bewundernswertesten
künstlerischen leistungen im ganzen gedieht überhaupt darstellen.
Ist es doch auch kaum möglich einen riss oder eine naht,
wie Boer sich auszudrücken pflegt, festzustellen, wo diese doppelte
dichtertätigkeit oder auch zwiefache recension, wie man es nun
am bezeichnendsten nennen mag, sich deutlich verriete, der beste
beweis ist, dass eine solche, wo sie aufzudecken versucht wurde,
bald vor, bald hinter die Baldrstrophe gerückt ward, ich selbst
habe (Zs. 41, 39 f) bei meiner damaligen annähme einer doppelten
recension, die, wie schon bemerkt, die irrtümliche annähme des
heidnischen Charakters von v. 65 zur Voraussetzung halte, die
Baldrstrophe 62, 1 — 4 noch zur ersten fassung gezogeu, in dem
instinktiv richtigeu gefühl, dass Baldrs herschaft einmal ein be-
RAGNARÖK IN DER VÖLI SPA 261
sondrer liedabschluss gewesen sein müsse — was nunmehr, \\<>
die interpolatioa vom höchsten unbekannten gölte beseitigt ist,
durch das gedieht selbst erhärtet ward. Boer hat den einschnitt
vor der Baldrstrophe versucht, andere endlich, besonders die
Vertreter der apokalyptischen oder sibyllinischen bypolhesen,
haben, wenn sie die jüngere zudichtung nicht auf den ganzen
abschnitt vv. 59 — 66 ausdehnten, auch wol erst von v. 64 ai>
ihren beginn datiert, ein einheitlicher trennungspunet, der
kritisch überzeugend wäre, ist aber nie nachgewiesen worden,
weil er eben nicht existiert, v. 62 schliefst sich, mag immerhin
einiges aus der Schilderung des neuen goldnen Zeitalters dort aus-
gefallen sein, dem sinne nach doch vortrefflich an das folgende an,
und mein früheres bedenken, dass ein mis Verhältnis obwalte zwischen
der angäbe, die Baldr erst schlechthin kommen lässt und dann
ihn nehen oder gar nach IIOiI erwähnt, vermag ich nicht mehr
aufrecht zu erhalten, dass Baldr zunächst als herscher allein
tannt wird und dann zusammen mit dem bruder, mit dem er,
wie alle andern gülter bekanntlich in den Ragnaröküberlieferungen,
paarweise widerkehrt — und mit wem als diesem sollte er sonst
paarweise widerkehren — dann ligl gewis nichts auffallendes.
würde man denn, wenn etwa die drei allen, mythologisch so oft
zusammengestellten gotter Odin, Thor. Frey in irias wider-
kehrten, und dabei Odins berschaft in ahnlicher weise vorher
angekündigt würde, darin etwas absonderliches erblicken 7 ich
kann daher weder wie in meiner genannten frühem arbeit jelzt
noch mit der gangbaren Vorstellung ein ärgernis daran nehmen,
dass der loter Baldrs mit diesem in der neuen weit in eintracht
widerkehrt, noch auch mit Boer gerade darin eine so tiefpoetische auf-
fassung des gedichts linden, dass nach ihm der schuldig-unschuldige
Hüd mit dem unschuldigen Baldr dieselbe herscherehre geniefseu
soll — beidemal ist ein reflectierender accent auf das Verhältnis
der beiden gölter gelegt, der dem Völuspadichtcr sicher fremd
war : wie sonst die beiden radier Vidar-Vali, wie die beideu
Thorssohne Magni und Modi, so gehören naturgemäfs auch die
beiden Odinssöhne in der neuen weit zusammen, bildet doch
die bemerkung, dass Baldr mit Viid Hropts siegreiche gehöfte
bewohnt, zugleich die beste und unauffälligste Überleitung zu
seiner 'saldröll', die dann in v. 64 des genaueren geschildert wird.
An die echlheit des visuhelmings btia Bgpr ok Baldr Hröpts
262
MED.NEJt
sigiopler, vel valtivar : vitop enn epa Jwatl ist also nicht zu
tasten, und wenn Boer ihn aus der Strophe ausscheidet und
v. 63, 3- 4 ok burer byggva bre'ßra tveggja vindheim vipan; vilop
enn epa hoat? als augebliche Variante au ihre stelle setzt, so dass
die worte bedeuten 'die sühne der beiden hrilder, dh. Hüds und
Baldrs' sollten den himmel bevölkern, so hegeht er einen
doppelten schweren irrtum. zunächst sind es die auch nach
seiner aulTassung durchaus älteren Zeilen, die er zugunsten jener
angeblich jüngeren Variante aus dem Völuspatext ausscheidet,
mit der seilsamen motivierung, dass die ältere Variante
nachträglich aus einer andern darstellung der Völuspa wider auf-
genommen sei. eine sehr unwahrscheinliche für mich den ein-
diuck der höchsten künstelei machende annähme, die dadurch
kaum glaubhafter wird, dass er sich für sie auf einen angeblich
zweiten fall dieser art in der mitte des gedichtes bei der dar-
stellung der Odin-Yggdrasil-Mimir-episode (s. 294 ff. 36Sf.), auf die
wir später zurückkommen, berufen zu können meint, auf derartige
unwahrscheinliche hypothesen hin eine gute alte halbstrophe im
überliefertem zusammenhange zu beseitigen, erscheint mir aber
eine arge gewaltsamkeit. sodann aber setzt sich Boer durch
diese erklärung mit der noch immer besten erläulerung unsres
visuhelmings in Widerspruch, die die Grundtvigsche auffassuug
des Tveggja als genetiv des eigennamens Tveggi-Odin zur Vor-
aussetzung hat, in der Müllenhoff mit recht (DA v 156) eine
erlösende tat sah. ihr gegenüber erscheint mir die deutuug
von byggva burer brepra tveggja in dem sinne, dass die söhne
der beiden hrilder (dh. Baldrs und Höds) nunmehr den himmel
•bevölkern, gewis ebenso künstlich, wie Olriks annähme (aao.
s. 264), die ebenfalls tveggja als genetiv pluralis des Zahlwortes
voraussetzt, die beiden brüder mit Hönir zusammenbringt und
demnach an söhne Lodurs und Odins, welch letzterer dann Vidar
sein soll, denkt — was schon deswegen unwahrscheinlich ist, weil
Vidar bekanntlich sonst in Hagnarökmythen mit Vali zusammen
widerkehrt.
Immerhin hat die erklärung Olriks doch der engen Zu-
sammengehörigkeit der beiden helmingar der v. 63 rechnuug
gelragen, wenn er auch die echlheit der einzigen langzeile der
ersten, defecten halbstrophe pd knä Honer hlautvip kjösa dabei
voraussetzt, dass diese aber der ganzen anläge und idee des
RAGNARÖK IN ULK VÖLÜSPA
1 jedes oach hier niemals ursprünglich gewesen seiu kann, darin
stimm ich Boer durchaus bei : nur mein ich, dass die be-
hauptete unechtheil auf die ganze visa auszudehnen ist. beide
hallten sind augenscheinlich ergänzungen eines interpolalurs, und
zwar glaub ich, ist es beidemal, auch unabhängig von der fraj
<>li sie ursprünglich seihst zusammenhängen, oichl schwer zu
verstehn, nach welchem musler dieser die beiden gölierpaare
Iner einfügen zu müssen glaubte, das vorbild war für ihn, der
offenbar durch die erwähn ung von Baldr und Höd (v. 62) auf
den irrtümlichen gedanken gebracht wurde, dass hier eine kata-
logisierung von götlern beabsichtigt sei, die erwähnung von
Burs Bühnen (v. 1). was lag für ihn näher, als nach dein aus-
scheiden Odins durch den Weltuntergang an dieser stelle die
reste der beiden triade'n Odin-Hönir-Lodur und Odin-Vili-Ve,
die beide schon im gedichte vorher angedeutet waren, bei der
widerkebr der gölierpaare in erinnerung zu bringen, es kann
dabei an sich ganz dahingestellt bleiben, ob er etwa die ebenfalls aus
ähnlichem gründe sicher interpolierten, wenn auch gewis nicht
jungen w. 171' von der menschenschüpfung schon vor äugen hatte:
in diesem falle würde es doppelt begreiflich sein, dass er die
gültertrias in ihrer altern und Jüngern form, die in zwiefacher
Bchüpfertätigkeit bereits eine so grundlegende rolle in der alten
weit gespielt hatte, nun auch bei der constituierung der neuen
Würdig vertreten sein lassen wollte indes v, 1, also der echte
teil des gedichts, genügte doch schon völlig für diese seine ab-
sieht , und nichts hindert uns anzunehmen, dass in v. 63 eben-
falls wie in v. 17 reste eines alten kosmologisch-eschatolngischeu
gedichtes in den gang des alten liedes aufgenommen wurden.
auf keinen fall gehören die gölterpaare hier in die neue weh
hinein, wenigstens nicht mit namen. denn in dem punet hat
Boer natürlich recht, dass eine aufzäblung von dem dichter, der
w. 59 ff die widerkehr der götter im allgemeinen schilderte,
hier unmöglich beabsichtigt sein konnte, erst zu erzählen, dass
die götter zurückkommen, dann ihr treiben zu schildern, darauf,
dass Baldr zurückkehre zur herschaft, und dann, dass eine be-
stimmte reihe gölter widerkomme, ist ein unding, und eine
solche Stümperei hat mau kein recht dem Völuspadichter zu-
zutrauen, es bleibe dabei dahingestellt, inwieweit solche zusätze,
besonders die hindeutung auf Vili und Ve, die ja aufsei lieh an
264 MEDNER
die christliche trinilät erinnern, durch misverständliche aulfassung
mit der ausgangspunct geworden sind für derartige christliche
Wucherungen, wie sie in II 65 und der Fortsetzung der papierhss.
vorliegen, der ausdruck vindheim vißan gibt nach dieser richtung
zu denken.
Es kommt übrigens hinzu, dass auch die auswahl der
gölter, die v. 63 widerkehreu lässt, trotzdem diese im gedieht
genannt waren, wenn schon einmal eine katalogisierung beab-
sichtigt war, sicher vom Völuspadichter ganz anders eingerichtet
worden wäre, der für die frage der composition so fein ver-
anlagte halte sicher Thors sühnen Modi und Magni nach dem
eben geschilderten Schicksal des vaters eher einen platz angewiesen,
als dem unglücklichen Hönir, der für die echten teile des ge-
dichts gar keine rolle spielt, wenn auch seine widerkehr im
Ragnarökmylhus an sich durch eine merkwürdige parallele ge-
stützt sein mag (Olrik aao. s. 281). geradezu gefordert muste
dann aber werden das neuerscheinen Valis und Vidars. beide
treten an entscheidenden wendepuneten des gedichts (vv. 33 u. 55)
in visur, die gewis mit unrecht von Müllenhoff getilgt wurden,
als rächer der höchsten götter Baldr und Odin auf, und wenn
überhaupt andre Äsen, so hatten sie das recht neben Baldr und
Hod zu erscheinen, aber der dichter überliefs eben das bild
des neuen olymps sich auszumalen seinen hörern. nur das mag
noch hervorgehoben werden, dass er sich kaum eine so um-
fassende widerkehr gedacht haben wird, wie sie ßoer annimmt,
der nur die gefallenen hauptgölter Odin, Thor und Frey abzieht
(aao. s. 341). er, der nie einen strengen unterschied zwischen
göttern und menschen machte, wird bei dem Strafgericht, das
nach den v. 45 geschilderten Vorgängen hereinbricht, wonach
alle menschen den Helweg antreten müssen, kaum eine Schuld-
losigkeit der götter in solchem umfauge angenommen haben.
Das gemälde der schlusspartie (vv. 59. 60. 61. 62. 64. 66)
entrollt uns so in grofsartiger weise, wie wir gesehen haben, die
erneuerung der weit vom auftauchen der verjüngten erde bis
zum ewig glücklichen leben in der neuen Walhall, und wir
sehen jetzt, nach tilgung der lästigen interpolation v. 63, erst,
wie voi treulich dieses leben in der neuen götterburg, wo widerum,
wie in Odins halle einst, götter und menschen zusammenhausei),
in den vorausgehenden echten Strophen vorbereitet wird, wie das
RAGNARÖK I.N DER \<>LISI'\
265
ni'iie goldoe Zeitalter der götter unmittelbar zu dem neuen goldnen
Zeitalter der menschen überleitet, wo die Felder uogesäel tragen,
— so leitet das Walhall-Iebeo der ueuen götter in v. 62 ebenso
unmittelbar und ungezwungen das Walhall-leben der neuen
menschen in ».64 ein. in der mitte beider partieen ahn-, alles
überragend, stein die gestall Baldrs, dessen bedeutsamkeit für die
neue weit in der mittelpartie des gedichtes SO glücklich und mit
ungewöhnlicher epischer breite vorbereitet ist: seine gestall knüpft
die vv. ,")'.l — lil und 04 — 6(3 unveräufserlich aneinander, und
dann der prachtvoll düstere und doch heitere abschlussl zu den
Ragnarök will der dichter eben auch diese partie gerechnet wissen.
der ausdruck passt an sieh zur Weiterneuerung wie zur kata-
strophe. auch jene gehurt ja 'zu dem grofsen geschicke der
gülter und menschen'.
Dass der dichter tatsächlich die besprochene Schlusspartie des
gedichts noch in den Ragnarökabschnitt einbegriffen wissen wollte
und somit nicht nur die Ragnarökepisode im eigentlichen sinne
(R 17 — .">1), — db. den abschnitt, der durch die sonst landläufige
auffassung des namens (Olrik aao. s. 203) charakterisiert und
und, mit dem zusammenstofs der götter und riesen anhebend, in
der Vernichtung der weit endete — unter diesem begriff zu-
sammenfasste, vielmehr diesen sogar noch auf die unheilkündende
Vorgeschichte (R 41 — 16) ausdehnte, zeigt klar und deutlich die
Überlieferung von R selbst, an die wir uns allein zu halten haben,
wenn wir uns jetzt zur betrachtung des gesamtabschnittes von
v. 11 an wenden, die Strophe nämlich Geyr Garmr mjok fijr
Gnipahelle : festr mon slitna, en freke riiina, fjolp veit frepa,
fram sek Jengra umb ragna rok , rgmm sigliva kehrt dreimal,
und zwar genau an den stellen wider, wo diese Ragnarök im
weitem sinne entscheidende gedankliche abschnitte aufweisen, das
erste mal (v. 43) leitet sie die unheilkündenden aufruhrscenen in
der sittlichen weit und der natur ein, die der kataslrophe un-
mittelbar vorangeht), das zweite mal eröffnet sie die Vernichtungs-
episode selbst (v. 46). das dritte mal endlich leitet sie den
besproebnen schlussact des grofsen Zukunftsbildes ein (v. 5ü).
das kann kein zufall sein, sondern es war die planmäfsige ab-
siebt des dichter?, durch diese jedesmalige hindeutung auf den ge-
fährlichsten und, so zu sagen mythisch-populärsten feind der gölter
und menschen die kommende wie die überwundene gefabr in
266 MEDNER
diesem plastischen momentbilde auch im ersten und dritten teil
des erweiterten Raguarökabschnittes gegenwärtig zu halten , um
durt die Spannung auf die kommende tragödie möglichst zu er-
höhen, hier durch nochmalige hervorhehung des düsteren gegen-
satzes im schönsten eiuverständnis mit v. 66 den wert und das
glück der erneuerten weit um so nachdrücklicher und greifbarer
hinzustellen. sie ist also keineswegs ein hlofses ornament,
als das sie II zu verwenden scheint, die sie nicht nur vor
v. 41 R unpassend vorwegnimmt, wo vom wesen der Ragnarök
überhaupt noch nicht die rede ist, sondern sie auch dann noch
einmal zwischen R 51 und 53, wo von den beiden grofsen
götterkämpfen mit den Ungetümen die rede ist, an möglichst un-
passender stelle einflicht : vielmehr ist sie in dem erwähnten sinne
ein integrierender teil der handlung selbst, nirgends scheint mir
Roer bei der lilgung von stefstrophen, die er ja überall im ge-
dieht vorzunehmen sucht, so unglücklich zu sein wie gerade hier,
denn seine beiden hauptgründe, warum er die Strophe nur vor v. 50,
wo sie natürlich als einleitung zur katastrophe selbst stehn muss,
lassen will (aao. s. 331 fj, stützen sich einerseits auf die hand-
schrift H, wo die nur an einer stelle vollständig mitgeteilte
Strophe aber keinesfalls beweisen kann, dass nicht auch ihr
zweiter teil als stef verwant wurde, anderseits auf die behauptung,
dass die visa kein typisch zusammenfassender ausdruck für die
katastrophe sein könne, die durch unsere obigen ausführungen
widerlegt ist.
^'ir haben gesehen, wie Roers versuche in der Schlusspartie
auf grund von allgemein cullurhistorischen gesichtspuneten das
schöne schlussbild in die werke zweier dichter zu zerreifseu,
weder in den ergebnissen seiner einzelkritik noch in seinen
stilistischen erwägungen eine überzeugende Unterstützung fanden,
auch hier kann ich seinen athetesenversuchen, soweit sie mit
seiner theorie eines älteren und jüngeren dichters zusammen-
hängen, in keiner weise zustimmen, dass Roer neben der oben
erwähnten prachtvollen malerischen refrai u Strophe auch die
v. 47, 1 — 4 dem ältesten teil des gedi'chtes abspricht, ligt in
derselben richtung einer Unterschätzung der bedeutsamkeit, die der
fesselung und befreiung des wolle» auch sonst, als landläufig-typi-
sches ereignis der Ragnarök, beigemessen wird, die worle Skelfr
Yggdraseh askr standande, ymr et aldyia tre, en jgionn losnar
RAGNARÜK l.\ DER \«>l.l SP.A
gelin in der handschriftlichen Überlieferung \<>n |; unmitleibai
der katastrophe voraus, enthalten also genau dieselbe prägnante
tendenz wie die slefstrophe, die sie vorbereiten, und dass \. 15
dem einheitlichen gefüge der RagnarOkpartie nicht fehlen kann,
ist Bchon widerholl hervorgehoben: die schluss-strophen des
ganzen gedichtes stebn ja mit ihr im engsten Zusammenhang
übrigens erleiden auch di«' gegen den heidnischen Charakter dei
Btrophe erhobenen bedenken eine weitere wesentliche eio-
schränkung, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es lediglich
die heiligsten familieninstitutionen der alten Germanenwelt sind,
en die hier gefrevelt wird (Müllenhoff DA. v 140), und dass
alle bedenken fortfallen, wenn man von der eingeschränkten be-
deutung, die dem mono systrungar sif/om spilla im hinblick auf
die verbotene verwantenehe beigelegt ist1, absiebt, was mir durchaus
natürlich erscheint.
Anders ligts für mich, wie ich schon früher angedeutet
habe, hei einer alhelese Boers, die einen würklichen späteren
znsatz ans dem gefüge des eigentlichen Ragnarökabschnitts, nicht
zu dessen schaden, ausscheidet : ich meine seine reconstruetion
von \. 53 K (s. 306). mit recht hebt er hervor, dass dort die
worte drepr kann af mö/ie mijijnrps veor sich weder stilistisch
noch inhaltlich im überlieferten zusammenhange erklären lassen,
und, wenn sie lallen, trotzdem der sinn bleibt, dass Thor die
schlänge tütete, aber spater selbst, von ihrem gift gelotet. Bei,
ohne jede misdeutung. ja der ausdruck gewinnt unzweifelhaft
an prägnanz, wenn gerade der zug, der unterstrichen werden
1 besonders nachdrücklich von 'Olsen Um Krislnilöliuna s. 5S, wo diese
deutung neben den oben hervorgehobenen angeblich christlichen einflüs!
fiir die späte daüening der Völuspa, zwischen 997 und 1000, wo die ent-
scheidenden Vorgänge für den sieg des Christentums sich abspielen, verwant
wird, so sehr ich 'Olsen in der annähme isländischen einflusses in den vul-
kanischen Anspielungen des gedieh ts beipflichte, so wenig glaub ich, dass
auch diese für eine so späte abfassungszeit des liedes sprechen, wo jene
kirchlichen verböte besonders acut wurden, die seine deulung unserer zeile
voraussetzte, du^s sif/om spilla im Müllenhoflschen sinne aufzufassen ist
als parallele zu brv]>r mono berjask halt ich für durchaus wahrscheinlich.
die sittliche Verwirrung nach jener andern seite gibt hördömr tnikell viel bes
und drastischer an. die Schlusszeile mon nigi- mapr pprom Pyrma zi a .
dass die Vernichtung des gcschlechts durch gewalttal die leitende auf-
iung war. wie bedeutsam, dass auch Snoni (vgl. Heinzel 5 die stelle
auf den mord an verwanten deutete!
26^ INIEDKEIl
muss (Olrik aao. s. 20S), dass nämlich Thor, als die schlänge fällt,
noch leht — da er keinen rächer im gedieht hat — , so einseitig
hervorgehoben würde. Boer selbst vergleicht aufserdem aao. mit recht
die kürze und prägnanz der darstellung, die nach der athetese von
z. 3 f eintreten würde, mit der des ersten teiles in den vv. 25 und
26, die ja von einem parallelen ereignis aus der vorzeit, dem kämpf
der gütter gegen die riesen, aus anlass der erbauung der Asen-
burg, handeln, es darf vielleicht noch ergänzend hinzugefügt
werden, dass der bedeutsame gott, wie es ihm nach dem mythus
zukam, zwar beidemal stark und charakteristisch hervorgehoben
wird, aber doch verhältnismässig kurz, da das interesse des dichters
in der alten weit, nächst Baldr, durchweg zunächst auf Odin und
seiner fürsorge ruht, dort wie hier spielt dieser handelnd ja die
erste rolle, deswegen sind ihm in den Ragnarük auch zwei
Strophen gewidmet, und es wird ausdrücklich noch durch die
Vöiva seine räche durch Vidar berichtet1, nicht nur in der bei-
behaltung dieser visa, sondern in dem ganzen engern Raguarök-
abschnitt überhaupt, befind ich mich mit Boer, da hier die
theorie seiner beiden dichter in seine darstellung nicht eingreift,
soweit er die conservierung des überlieferten textes verlangt, meist
in erfreulicher Übereinstimmung, nicht freilich in einer doppelten
rectificierung des codex Regius, die ich entgegen der allgemeinen
ansieht für falsch halte, im Wortlaut bei v. 48 und in der strophen-
ordnung bei v. 49. in beiden fällen, auf die ich nun ausführ-
licher eingeh, muss ich unbedingt für die autorität der älteren
haudschrift eintreten.
1 dass diese Strophe, die MüllenhofF ja im letzten gründe nur aus
gründen strophischer gliederung ausgeschieden hatte, beibehalten werden
muss, dafür hab ich mich schon widerholt ausgesprochen, gewis mit recht
fand Boer in der bezeichnung Fi'pars bröj>er in der oben besprochenen
unechten H-strophe 48, die v. 53 R paraphrasiert, einen neuen indirecten
beweis für ihre echtheit, da sie diese offenbar, die in unmittelbarer nachbar-
schaft stand, ganz ihrem früheren von uns besprochenen verfahren gemäfs
ebenfalls im sprachlichen ausdruck plündert, wenn endlich 'Olsen (Timarit
15, S3f) in scharfer polemik gegen .MüllenhofT (DA. v 152) und FJönsson
(aao. i 136) auf Vafbr. 53 verweist, wo die antwort erhärtet, dass Odins und
Vidars räche mythisch unlöslich zusammengehören, so ist ja auch dies eine
weitere stütze für unsere aufl'assung der stiophe. ich versteh aber bei dem
stand der dinge nicht, wie 'Olsen dann die Valistiophe der Völuspa, die mit
dem tode Baldrs mythisch ebenso unlöslich zusammengehört, in unserem
gedieht als interpolation ausmerzen kann.
RAGNARÖK IN DEH VÖLUSPA
Es ligt ja nah«- . bei den drei visur, die den Weltuntergang
einleiten (w. 47. 48. 50 !<). in dem anrücken dreier riesischer
beere vollständig parallelgebaute Strophen zu sehen, und gewig
ist der besonders in Müllenhofls glänzender darstellung (DA i 1 I9ff.
so bestechend commentierte aufmarsch riesischer scharen von
osten, norden und Süden ein in den weiten rahmen dreiei
himmelsrichtungen gespanntes, grofsartiges und des Völuspadichters
durchaus würdiges gemitlde, «Ins man ungern zerstörl sieht,
und es lässt sich wol dafür anführen, dass die dreiheil auch
sonst im gedichte unläugbar eine gewisse rolle spielt \\ ic in den
drei unlerwellssälen der w. 37 — 39 oder den drei den welt-
untergangprophetisch herbeikrähenden hähnen vv. 27 f — selbst
die vielbesprochene ebenfalls die phantasie nach drei seilen hin
machtig beschädigende Nornenscene (Helgakv. Hundb. i 4) isi von
[leinzel (s. 71 und 318, vgl. mich Bugge The homeofthe Eddie
poems s. 81. 96 IT) ;ils parallele herbeigezogen, auch dass die
drei visur, wie Heinzel (aao. s. 76) zeigte, in ihrem ähnlichen
Strophenanfang {Hrymr ehr austan, Kjött ferr norpan, Surlr ferr
sunnan) in der gangbaren lesart einen ähnlichen parallelismus
zeieen wie die früher erwähnten mit der anapbora Kemr be-
beginnenden visur des götterkampfes seihst (51. 52. 53). indes
stimmt schon, auch wenn man von der handschriftlichen Über-
lieferung in v. 4S vorläufig absieht, dieser parallelismus äufser-
lich nicht ganz, und dass sie alle drei inhaltlich parallel waren,
kann ich Heinzel auf keinen fall zugeben, in doppelter be-
ziehung nämlich hängen bei näherer betrachtung vv. 47 und 4S
unter sich gegenüber 50 enger zusammen, sowol wenn man auf
die in den malerischen Strophen dargestellten gruppen als wenn
man auf die lortschritte der dramalisch bewegten Handlung, die
sich in ihnen abspiegelt, achtet.
Was zunächst den ersten puuet anlangt, so erscheinen in
vv. 47 und 48 vollkommen parallel die beiden bauptungetümi
der Ragnarök. der wolf, dessen typisebes haften im Ragnarök-
mylhus unzweifelhaft feststeht und dessen tat, wie Olrik (aao. s. 206)
zeigte, öfter als alle andern Vorgänge desselben in Edda- und
skaldenpoesie berührt wird, der also das älteste heimatrecht in
ihm geniefst, wie uns ja auch die dreimal widerkehrende stef-
strophe v. 43 in der betonung seines loskommens typisch ver-
anschaulicht, und die schlänge, der Midgardsorm, die zwar
270 NIEDRER
sonst in den RagnarökdarstelluDgen und den anspielungen darauf
nicht erwähnt wird, indes nicht nur in parallelen mythischen
kämpfen eschatologischen Charakters wie im Beowulf und andern
dracheüsageu alte gegenslücke hat, sondern durch ihr häufiges
rencontre mit Thor, wie es uns die Hymiskvida uml die skalden-
poesie widerholt schildert, auch in diesem Vorspiel zur grofsen
katastrophe ihre berechligung dort erweist und somit von
Olrik auch unbedenklich zum ursprünglichen bestand des
Ragnarökmylhus gezahlt wird (aao. s. 207). mit recht hebt dieser
hervor, dass schon die Verwechslungen, die wolf und schlänge,
Odin- und Thorkampf nicht nur in unserm gedieht in der Über-
lieferung des codex Regius, sondern auch in der Lokasenna er-
fahren, ein untrügliches Zeugnis für ihre enge Zusammen-
gehörigkeit abgeben, sicher sind, wie der gleich darauf folgende
kämpf lehrt, sie die entscheidenden kräfte in diesen scharen,
die in vv. 47. 48 gegen die götter anrücken, indes sie sind
umgeben von andern riesischen wesen. neben der schlänge er-
scheint der adler Hräsvelg, neben dem wolf Loki. und führer
ist im ersten falle der riese Hrym, im zweiten falle sind es je
nachdem Muspells oder Hels leute. dagegen in v. 50 tritt Surt
ganz allein auf, dessen hohe bedeutung für den Ragnarökmylhus
in allen übrigen quellen Olrik (s. 227) erweist, zweimal, in den
Fafnismal 14 f. und in den Vafthrudnismal 17 f, erscheint er
ausdrücklich nicht als einer unter den gegnern der götter, son-
dern als gegner der götter schlechthin : beidemal geht aus der
form der frage wie der antwort hervor, dass er die feindliche
Widerstandskraft gegen die Asengesamtheit dort an sich verkörpert,
keineswegs aber hat er im kämpfe eine correspondierende präg-
nante Stellung inne wie die beiden andern unheimlichen mächte,
in der Völuspa selbst wird er mit der ziemlich nichtssagenden
parenlhese en bane Belja bjartr at Surle (v. 51) abgetan, die Loka-
senna aber nimmt ihm sogar diese charakteristische tat ab, indem sie
den streit mit Frey auf Muspells sühne überträgt (v.42). im schroffen
gegensalz zu seiner uncharakteristischen und unlypischen kampfes-
art aber ist seine zerstörende würkung doch in würklichkeit weit
gröfser als die der beiden ungelüme : denn wenn er med sviga
laeve erscheint, so kann das geisar eime ok aldmare, leikr hör
Itite vip himen sjalfan (v. 54), also der definitive weltbraud, auch
nur sein werk sein, sonach nimmt die Surtslrophe (v. 50)
RAGNARÖK IN DER VÖLUSPA 271
auch ihrem mythischeu hau nach schon eine Sonderstellung ein
gegenüber den völlig einander parallelen vv. 47. 48.
Ebenso aber besteht der dreifache parallelismus in diesen
Strophen nicht, wenn man auf den fortschritt der bandlung in
ihnen achtet, in den beiden ersten paradiert lediglich drohend
ein riesisches beer, wenn in der ersten 'der adler krächzt, der
schnabelfahl leichen zerreifst', so ist das vvol mehr eine Charak-
teristik des nicht genannten namens Hrsesvelgr als eine hin-
deutung auf den tod der menschen, da die zweite visa nach
dieser richtung keine parallele aggressive handlung bringt, beide-
mal sind die begleiter in den beiden ersten Strophen nur der
die furchtbare erscheinung verstärkende poetische rahmen für die
noch nicht in tätigkeit getretenen wasser- und feuerverwanten
gestalten der schlänge und des wolfes, und der tatsächliche
Untergang der menschen tritt erst v. 50, dort aber würklich ein
{tropa haier helveg). ganz anders dementsprechend für die be-
deutung der handlung der Inhalt dieser dritten visa I hier schlagen
aufserdem steinfelsen zusammen, bergriesinnen stürzen, und der
himmel spaltet, hier haben wir kein blcfses paradieren riesischen
Übermutes mehr, hier hat die Zerstörung, deren endergebnis
v. 57 darstellt, bereits begonnen, ja sie ist im besten zuge.
Aus diesem doppelten gründe kann ich die übliche gleich-
stelluug der visur 47. 48. 50 nicht mitmachen1, nimmt aber
v. 50 nun würklich eine deutlich erkennbare Sonderstellung ein,
dann kann ich auch durchaus nicht verstehn, weshalb die
Buggescbe änderung, die das austan der v. 48 in norpan
bessert, so durchaus notwendig sein soll, da die beiden parallelen
scharen riesischer mächte beidemal passend aus der gewohnten
riesengegend, dem osten, kommen, und ebensowenig seh ich
ein Hindernis, die Überlieferung von R im jetzigen zusammen-
1 auch Heinzel (aao. s. 76) hat dies misverhältnis, das bei der Voraus-
setzung eines völligen parallelismus der drei visur obwalten würde, wol
erkannt, wenn er betont, dass v. 50 eine Steigerung der beiden folgen in
vv. 47. 48 darstellt, also doch keine genaue parallele mehr! und mit recht
hebt er hervor, dass bei der gangbaren ansieht die composition hier meik-
würdig wäre, wenn erst von wassersnot, dann von feuersnot und dann noch
einmal von feuersnot die rede sei. er hat daher sogar die athetese von
v. 48 in frage gezogen, diese Möglichkeit scheint mir aber eben an -dem
unzweifelhaft in form, Inhalt und mythischem gehalt conformen charakter
der vv. 47. 48, die sich notwendig ergänzen, zu scheitern.
272 NIEDNER
hange, die sich, wie wir gelegentlich mehrfach schon früher
zeigten, auch aus andern gründen empfahl, beizubehalten, gewis
würde v. 49 mit ihrer bemerkung cesero d pinge und der Schil-
derung der Zerfahrenheit in allen wellen hinter v. 46 f passen,
wo Heimdall ins hörn geblasen hat, der welthaum wankt und
Odin mit Minis haupte redet, aber sie ist sicher nicht weniger
am platze vor der entscheidenden Surtstrophe 50, wo die kata-
strophe beginnt und wo sie doch die beste handschrift nun einmal
überliefert, ja nach meiner auffassung sogar weit besser, zunächst
iuhaltlich. denn die fürsorge und orientiertheit der götter war
in v. 46 in den Worten mceler 'Openn vip Mims hgfop gewis
genügend ausgedrückt, das gegenstück ist die heranwälzung der
riesischen scharen in vv. 47. 48. v. 49 aber fasst dann die
ungeheure aufregung, die in alle weiten kam, noch einmal in
einem emphatischen ausruf zusammen 1 in zwiefacher weise aber
aus gründen der anknüpfung. einmal nämlich rückt dadurch,
doch gewis sehr passend, die schlusszeile (R 45) en jgtonn losnar
unmittelbar vor die verwante kehrstrophe an zweiter stelle (R 46).
prägnant will der ausdruck also sagen 'die sache ist im gange',
sodann aber correspondiert v. 49 in diesem falle, in dem die end-
giltige bereitschaft der götter und riesen noch einmal in dem gegen-
satz gnyr allrjnonheimr und äser 'o d pinge zusammengefasst wird,
vortrefflich auch darin mit v. 50, dass das stöhnen der armen
zwerge dort sofort die drastischste motivierung erhält, da durch
das grjölbjgrg gnata ihr tröstliches attribut veggbergs viser voll-
kommen illusorisch wird, und dass gewis die einzige nachdrück-
liche erwähnung von der Vernichtung aller menschen an keine
passendere stelle kommen konnte, als wiederum in v. 50, wenn
eben in v. 49 unmittelbar vorher die allgemeine aufregung und
Zerfahrenheit aller weiten geschildert war.
Wenn Heinzel (aao. s. 69) hervorhebt, 'dass eine solche gefühl-
volle betrachtung über den zustand der weit unmittelbar vor der
grösten gefahr, der sie erliegen soll, in der altgermanischen dichtung
zu den grösten seltenheilen zählt', so kann diese trefl'endebeobachtung
auch unsrer ansieht von der beibehaltung der Strophe in ihrem
gegenwärtigen handschriftlich überlieferten Zusammenhang nur
günstig sein, es ist wol klar, dass wenn der begabte dichter,
der ja auch sonst in vielen puueten singulär dasteht, für die
Verstärkung der poetischen würkung zu diesem seltenen stilmiltel
RAGNARÖK IN DER VÖLUSPA 273
griff, er keinen kritischeren und geeigneteren zeitpunct wühlen
konnte, als den, bevor die grofse Vernichtung unmittelbar in
scene gieng. denn erst die aus den eben geschilderten beziehungea
der beiden nachbarvisur sich ergebenden zustände machen es
plastisch anschaulich, dass der augenblick der allgemeinen auf-
lösung bereits da ist. und so erscheint gerade in diesem
mittelpunct der gesamten Ragnarökepisode dieser elementare ge-
füblsausbruch nicht nur als vvilrksamer lyrischer accent, sondern
er bereichert gerade hier zugleich durch die gedrängte fülle der
contrastierendeu mythischen bilder am zweckmäfsigsten das epische
detail.
Wenn ich nach diesen ausführuugen der Ruggeschen Um-
stellung nicht beipflichten kann, so muss doch wenigstens her-
vorgehoben werden, dass sie in der Übereinstimmung von H mit
der Snorra-Edda äufserlich zunächst besser fundiert war, als die
schon widerholt von uns berührte änderung in v. 48 Heljar lyper
statt Müspells lyper' : hier stehts bekanntlich so, dass nicht nur H,
sondern auch sämtliche handschriftliche Versionen der Snorra-
Edda in der Überlieferung im einklang mit dem codex Regius
stehn, die änderung also eine handschriftliche grundlage über-
haupt nicht besitzt, ich kann Olrik (aao. s. 222) nur vollkommen
beistimmen, wenn er betont, dass es vollkommen unzulässig sei,
hier Snorris mythisch-geographischem System zu liebe, der im
gegensatz zu allen älteren quellen Müspells söhne und Surt zu-
sammenwirft, eine so tiefgreifende änderung vorzunehmen, sie
eliminiert die im Ragnarökmythus auch sonst wolbezeugten
Müspells sühne — Lokasenna 42, 3 en es Müspells syner ripa
Myrkvip yfer — aus dem gedankengange der Völuspa. und
wenn auch ihre einführung dort eine andere ist, indem sie zu
lande reitend dargestellt werden, und anderseits dort, wie oben
bemerkt, die rolle Surts im kämpfe mit Frey auf sie übertragen
wurde, so kann man doch ihre Zugehörigkeit zum mythus nicht
bezweifeln, ja die parallele Stellung zu Surt spricht für ihre
bedeutung in demselben, anderseits weist die Ruggesche besse-
rung den scharen Hels in einem der mächtigsten riesenanstürme
eine rolle zu, die denkbar ungeeignet ist, da, wie Olrik richtig
bemerkt, die bleichen toten den Äsen kaum einen besondern
schrecken eingeflösst haben können, man wird ihm recht geben
müssen, wenn er sich dahin resümiert, dass durch eine solche
Z. F. D. Ä. XLIX. N. F. XXXVII. 18
274 NIEDNER
besserung der poetische charakter der stelle geradezu zer-
stört wird.
In welchem innern Verhältnis Muspells söhne überhaupt zu
Surt stehu, ist ja eine sehr schwierige frage, die selbst Olrik
nicht völlig zu lösen vermochte, auf jeden fall sind sie im
gedieht streng differenziert, und ihre Identifizierung und gemein-
same localisierung mit Surt ist eine willkürliche construetion
Snorris, wol begünstigt durch Verwechslungen, wie sie die oben
genannte stelle der Lokasenna hinsichtlich des kampfes mit Frey
bot. dieser ist uns indes doch viel zu undurchsichtig, als dass
daraus Schlüsse auf die mythische verwantschaft der ihm an-
gedichteten geguer gezogen werden könnten, in unserm gedieht
spielen sie eine gänzlich verschiedene rolle. Muspells söhne sind
ja nur nebenfiguren im vernichtungsdrama neben dem wolfe, wie
ihre durch Hrym geführten brüder aus dem riesenreich hinter
der schlänge als hauptperson zurücktreten. Surt dagegen ist der
bedeutendste Zerstörer mit feuer und schwert, dessen furchtbares
werk schliefslich in den weltbrand ausmündet.
Überblicken wir nun das ergebnis unserer besprechung der
Buggeschen Umstellung und änderungen, so scheint uns dadurch
dem weltbrand im gedieht sowol seine durchaus dominierende stelle
im zerstörungswerk wie sein nordisch-volkstümlicher charakter ge-
rettet, ich glaube, dass ihm Olrik im verlauf seiner trefflichen
Untersuchung beides mit unrecht abgesprochen hat, und dass er
ihn (aao. s. 290) am Schlüsse seines aufsatzes in der Übersichts-
tabelle über die heidnischen und christlichen einflösse unbedingt
unter die letzteren verweist, will mir nicht einleuchten, ich denke,
aus der Stellung von v. 50 im gedieht geht deutlich hervor, dass
die Zerstörung durch Surt mit feuer keineswegs hinter der Ver-
nichtung durch die Wasserflut in der Völuspa zurücktritt, sondern
einen gleichen mythologischen rang mit dieser und den ver-
herungen des Fimbulvetr an sich behauptet, er wurzelt meiner
Überzeugung nach (vgl. 'Olsen, Timarit 15, 100 f) durchaus in der
lebendigen anschauung localer isländischer natur1 und nötigt
1 wenn Olrik («. 195 IT) hervorhebt, dass die feuerzerstörung nicht den-
selben natürlichen boden gehabt haben könne im norden, wie das versinken
der erde im wasser und der Fimbulvetr, so nimmt er natürlich immer Island
aas, das eben für ihn gar nicht in betracht zu kommen scheint, ich glaub
aber mit 'Olsen, dass die darstellung in v. 57 allerdings auf die vulcanische
RAGNARÜK IN DER VÜLUSPA
275
ebenso wenig dazu, christliche Vorbilder anzunehmen, wie das ver-
schwinden der sonne und das stürzen der Sterne in derselben
v. 57 oder gar Ileimdalls Gjallarhornsignal, die Olrik neben den
oben besprochenen vv. 45. 64 und 66 ebenfalls auf christliche
einflüsse zurückführt (vgl. auch s. 275 ff).
Haben wir somit in der Raguarökepisode im engern sinne
eine wolgeordnete darstellung, die nach der einleitenden kehr-
strophe mit dem ansturm der beiden parallelen riesischen scharen
mit wolf und schlänge anhebt, nach einer emphatischen betonung
der allgemeinen Verwirrung (dem hühepunct des ganzen ab-
schnittes), Surts himmelzertrümmerude tätigkeit schildert, dann
die grofsen kämpfe folgen lässt und endlich in der Vernichtung
der erde durch wasser und vor allem durch feuer gewaltig aus-
mündet, — so ist in den einleitenden visur, die diese katastrophe
vorbereiten (vv. 45 — 47), noch eine Schwierigkeit in der text-
gestaltung zu überwinden, nämlich die im Vollständigkeit, die da-
durch entsteht, dass wir II 40, 3. 4 tilgen musten. die be-
ängstigenden Vorgänge in der uatur schildert nunmehr noch
folgende überfüllte Strophe in R : Leika Mims syner, en mjgtopr
kyndesk at eno gallo, Gjallarhorne; holt blcess Heimdallr, hom's
d lopte : mwler Openn vi[> Mims hofop. Skelfr Yggdrasels askr
standande; ymr et aldna tre, en jolonn losnar. es ist klar, dass,
wenn der parallelismus zu v. 45, in der die memorialverse z. 3f
(die auf einen deu Vafthrudnismal verwanten Ragnarökmythus
deuten) längst ausgeschieden sind, wie er inhaltlich besteht,
auch der form nach da sein soll, eine der drei halbstrophen
fallen muss. dass dabei nicht mit Roer an die letzte zu
denken ist, da sie in ihrem schluss durch die erwähnung vom
loskommen des wolfes direct auf die katastrophe weist, war bereits
bemerkt, und wird jetzt, nachdem wir v. 49 R wider an ihren
alten platz gebracht haben, um so mehr einleuchten, dagegen
eruptionslätigkeit dieses landes deutet und dass diese partie der Völuspa
wenigstens isländischen einfluss verrät, dass damit aber nicht auf einen be-
stimmten vulcanausbrucii im jähre 1000 gedeutet zu sein braucht, ist ohne
weiteres klar, ein indicium temporis, das die übliche datierung des gedichts
um 950 verschöbe, ist also nicht daraus abzuleiten, auf Surt weisen auch
die isländischen orlsnamen, die Olrik s. 288 ff, 'Olsen Um Kristnitökuna s. 60
anführen, sie beweisen zugleich, dass Surt, der feuerdämon, sich wol mit
einem unterweltsgotte, den Olrik darin lindet, verträgt, vgl. übrigens Brimir
in der unterweit, den Heinzel als unterirdischen Surt bezeichnet (Edda s. 54).
18*
270 N1EDNER
die beiden ersten stelin in einem ganz auffälligen tautologischen
Verhältnis zu einander, und schon Olrik (aao. s. 274) hat be-
obachtet, dass die darstellung hier ungewöhnlich breit ist. im
gegensatz zu dem kurzen und markigen ausdruck der übrigen
Ragnarökstrophen füllt das motiv des Gjallarhornblasens in brei-
tester ausmalung fast die ganze Strophe, und wenn man die
beiden visuhelmiugar im einzelnen vergleicht, so kann man wol
keinen augenblick zweifeln, dass sich der -zweite als der mytho-
logisch und dichterisch höher stehnde erweist. 'Odin spricht mit
Wims haupte', in welchem sinne man es auch deuten mag, ist
hier im Zusammenhang einfach uicht zu missen : es ist der natur-
gemäfse, den Vorgängen v. 29 entsprechend notwendig geforderte
Vorgang, der ausdruck leika Mims syner, der, wie er auch auf-
gefasst wird, auf jeden fall eine der götterfreundlichen handlung
in z. 4 entgegengesetzte täligkeit darstellt, ist aber neben Mims
hpfop hart und kaum zu dulden; auch hat er zu dem doppel-
sinnigen ausdruck mjoiopr kyndesk, der, wie Heinzel (aao. s. 62)
richtig bemerkt, 'der weltbaum entbrennt' oder 'das ende kündigt
sich an' bedeuten kann, kaum eine innere beziehuug. dass ferner
die entscheidung hereinbricht oder der weltbaum sich entzündet
'beim gellenden Gjallarhorn', ist weder eine geschickte noch be-
sonders poetische ausdrucksweise, selbst wenn sich der ausdruck
zur not mit Gering im grofseu glossar s. 61 temporal er-
klären lässt.
Dagegen wird nun der gleiche Vorgang in den worten 'laut
bläst Heimdali, das hörn ist erhoben' höchst dichterisch anschau-
lich dargestellt und entspricht völlig v. 27, wo es unter dem
weltbaum verborgen wird, es bildet hier mit dem befragen von
Mims haupte die naturgemäfse einleitung zu dem ceser' o d pinge
(v. 49). dieser zweite visuhelming hätte schwerlich allein jemand
auf den gedanken gebracht, Heimdalls blasen durch die Zusammen-
stellung mit der posaunentäligkeit des erzengels am jüngsten
gericht als christlichen zusatz zu verdächtigen, einen solchen
stellt ja nun auch das erste zeilenpaar in v. 46 gewis nicht dar:
aber zugegeben muss Olrik werden, dass die bemerkung, dass
sich der weltbaum beim schalle des hornes entzünde oder gar
dass das weltende sich bei seinem klänge ankündige, einen sinn
in die stelle hineinbringt, der unmöglich im plane des alten, auf
heidnisch-mythologischer grundlage stehnden dichters liegen konnte.
RAGNARÖK IN DER VÖLUSPA 277
Ich glaube, die erste halbslrophe ist das werk eines inter-
polators, wie wir ihn auch aufserhalb der unechten H- Strophen
schon in der Schöpfung der v. 63 und der erweiterung von v. 53 R
tätig sahen, er liefs, wie an jenen beiden stellen, den alten
dichter mehr beabsichtigen, als es in würklichkeit der fall war.
denn das blasen Heimdalls, wo den göttern gefahr droht, halt
sich allein noch ganz in den grenzen der rolle, die dieser gott
sonst in kritischer läge der götterweit, wie etwa in der alten
Thrymskvida, spielt, heifst es dort (v. 14), wo er den entschei-
denden rettenden rat gibt: senn vgro ceser aller d pinge ok äsynjor
allar d male, so ist dieser thingversammlung sicher wie der in
v. 49 die berufung Heimdalls durch das hörn vor der dräuenden
riesengefahr vorausgegangen, auch hier ist das hornblasen also
nur die warnung vor der riesenmasse , die gleich darauf über-
mütig paradierend einherzieht.
Das entscheidende für die athetese von v. 46 , 1.2 ist für
mich aber, dass offenbar, wie schon oben angedeutet, das Mims
syner ganz in der art oberflächlicher interpolationen durch den
äufserlichen gleichklang an den schönen dichterischen ausdruck
Mims hpfop anknüpft, ich muss gestehn, dass all die zweifei
und bedenken derer, die diesen ausdruck mit der in Völuspa 29
vorliegenden form des Mimirmyihus in einklang zu bringen nicht
vermochten, mich nie überzeugt haben, wenn man allerdings
dabei an die später in den Vanenmythus verflochtene gestalt des
mythus denkt, wie ihn die Ynglingasaga repräsentiert, dann lässt
sich ein solcher Widerspruch und sogar weiter ein Widerspruch
in jener wunderbaren tiefsinnigen visa des ersten teiles des
gedichts, wie dies Gering in seiner Eddaübersetzung s. 12 tut, allen-
falls wol construieren. fasst man aber 'mit Mims haupte reden'
in dem ursprünglichen sich eng an den volkstümlichen Sprach-
gebrauch und die volkstümliche anschauungsweise anlehnenden
sinn Müllenhoffs (DA. v 106), wonach der ausdruck nichts weiter
bedeutet als 'die äufserste quelle der Weisheit und voraussieht,
die eben in dem elementargeist beschlossen ist, aufsuchen', dann
ist von einem Widerspruch beidemal nichts zu bemerken, aber
eben mit dem uns aus Müllenhoffs tiefsinniger erklärung (DA. v
101 ff) geläufigen bilde des welterhaUenden elementargeistes lassen
sich 'die spielenden Mims söhne' auf keine weise vereinigen, was
heifst überhaupt Mims syner ? in Vigfussons Übersetzung 'die
27S MEDKER
winde' (Dictionary s. 432 b), die sich sprachlich kaum recht-
fertigen lässt, spiegelt sich jedesfalls wol die richtige erkenntnis,
dass mau hei dem folgenden beben und ächzen des allen well-
haumes doch an diese zuerst denken sollte, bezeichnend ist über-
haupt, dass dieser doch sonst so kühne änderer des Völuspatextes
in seiner reconstruction des gedichts (Corp. Poet. Bor. n 626) mit
dem ausdruck schlechterdings nichts anzufangen wusle und ihn
nicht einmal in den text aufzunehmen wagte, 'die gewässer'
übersetzt es Gering im ausführlichen glossar (s. 1324) : aber die
einsame bemerkung 'die gewässer spielen, dh. geraten iu be-
wegung', bevor irgend ein beginn der katastrophe da ist, ist
gewis merkwürdig genug, und wollte man sich auch mit einem
solchen präludium eines Ragnarökereignisses schon an dieser
stelle befreunden, was ja im hinblick auf andere schon erwähnte
pioleptische hindeutungen im gedieht an sich möglich wäre, sollte
man dann nicht eher einen ausdruck wie 'Rans tüchter' erwarten?
denn das Weltmeer ist es doch, in dem später die erde versinkt,
nicht die überquellenden wasser des naturdämonen Mimir, die
im gegenteil den weltbaum, die weit, erhalten1.
Vergegenwärtigen wir uns nun aber noch einmal die Zu-
sätze in R in der Ragnarökepisode, so sind sie doch wesentlich
andrer natur, als die nur iu H bewahrten, von einer flickarbeit
mit benutzung echter ausdrücke des gedichts ist hier keine rede,
man könnte sich alle drei wol als reste paralleler lieder denken,
so v. 63 aus einem gedieht, wo das aufzählen von göllern in der
neuen weit, vielleicht noch schematischer als in den Vafthrudnis-
1 Heinzel in seinem commentar s. 61 liebt hervor, dass Mims syner
die riesen darstellen, und vergleicht die ausdrücke Ymes nipjar, Sultungs
syner, jptna syner; er meint also, dass die stelle bedeute 'die riesen ge-
raten in hewegung'. mir erscheint, wenn man den worten einen sinn bei-
legen will, dies tatsächlich auch die einzige möglichkeit. denn der ganze
Zusammenhang erfordert diese deulung. dies ist aber für mich ein grund
mehr, weshalb ich mir die Strophe nicht im Zusammenhang des folgenden
helmings, der von Mims haupte redet, denken kann, denn den grösten er-
halter der götter neben Oilin unmittelbar neben seine söhne als Zerstörer
zu stellen, wäre ein unglaublicher contrast und stimmte nicht mit der auf-
fassung Mimirs als quelldämon. wol aber könnte man sich in einem liede
parallelen Inhalts einen derartigen ausdruck in ähnlicher Situation denken,
und das bestärkt mich nur darin, den visuhelming vom Gjallarhorn als ver-
sprengtes stück aus einem solchen, das hier unter dem eindruck der gleich-
klänge von Mims syner und Mims lipfo]> eingefügt wurde, mir vorzustellen»
RAGNARÜK IN DER VÖLÜSPA 279
mal, zum vorwarf des dichters gehörte, so die überschüssigen
zeilen in der Thorstrophe 56 als bruclislilcke eines Raguarük-
liedes, in dem die tat Thors noch eine entscheidende rolle spielt'
so dass sein tod dort tatsächlich veranlasste, dass 'alle menschen
die heimstatt räumten' — die wichtige rolle, die die Thorssöhne
mit dem hammer in der neuen weit nach den Vafthrudnismal
spielen, lässt die einstige exislenz eines solchen liedes wol ver-
muten, so die letztbesprochene visa, die gleichfalls aus einem
parallelen eschatologischen gedichte, das den Weltuntergang in
andrer form schilderte, stammen mag und dessen misverstandener
torso vielleicht ähnlich wie die heidnischen göttertrinitäten in
v. 63 die oft genannten christlichen zusätze in H und den papier-
hss. mit verschulden halfen, zu all diesen drei eingefügten lied-
resten hüte dann die überschüssige halbstrophe in v. 45, die
längst von der forschung ausgeschieden ist, ein treffliches ana-
logon : skeggpld, skalmgld, sküder'o klofner; vindgld, vargpld, äpr
vergld steypesk. die ausdrücke 'wiudalter', 'wolfsalter' hat schon
Müilenhoff (DA. v 141) auf den letzten grofsen winter bezogen,
der dem Weltuntergänge voraufgieng. und stellte dieser nach
Olriks nachweis in andern Ragnarükversionen selbst die endgillige
Zerstörung dar — wofür die überlieferten Vafthrudnismal widerum
ein deutliches beispiel abgeben — , so könnten eben diese zeilen
der Völuspa sehr wol bruchstück eines auf jenem mylhenboden
erwachsenen eschatologischen gedichts sein, da es ihnen an selb-
ständigem poetischen gehalte nicht gebricht.
Nachdem wir nunmehr den künstlerischen aufbau der ganzen
Ragnarökepisode nach abzug aller zusätze, die wir auszuscheiden
uns genötigt sahen, in ihrer gesamtheit überblicken, lohnt es wol,
ihn noch einmal in seiner gedanklichen gliederung innerhalb des
in R überlieferten Strophenschemas zusammenfassend zu ver-
anschaulichen.
i. Die einleitung, und zwar 1. die kehrstrophe (v. 43
= Rugge 44). 2. die beiden parallelen Strophen von den unheil-
kündenden anzeichen (vv. 44. 45,5—12 = R. 45, 1 — 6. 11 — 12.
46,5—8. 47,1 — 4). n. die hauptpartie (die Ragnarökepi-
sode im engern sinne), und zwar 1. die kehrstrophe (v. 46 =
R. 49). 2. die beiden parallelen Strophen von den anrückenden
riesenheeren (vv. 47. 48 = B. 50. 51). 3. der angstschrei des
tiefinnerlich an seinem Stoffe anteilnehmenden dichters (v. 49 =
2S0 NIEDNER
B. 48). 4. der beginn der Zerstörung durch Surt (v. 50. = B. 52).
5. die drei parallelen Strophen von den entscheidenden götter-
kämpfen (w. 51. 52. 53, 1—4. 8—12 = B. 53. 55. 56, 1—4.
8 — 12). 6. der abschluss der zerstöruug (v. 54 = B. 57). in. der
Schlussabschnitt, und zwar 1. die kehrstrophe (v. 55 = B. 58).
2. die drei Strophen von der welterneuerung und der widerkehr
der götter und menschen (vv. 56. 57. 58 = B. 59. 60. 61). 3. der
neue herscher Baldr (v. 59 = B. 62). 4. die beiden parallelen
Strophen von der neuen Walhall und Nidhögg, des Helrepräsen-
tanten, endgiltigem verschwinden (vv. 61. 62 = B. 64. 66).
Unzweifelhaft ist die Ragnarökpartie innerhalb des gedichts
ein bewundernswertes künstlerisches ganze für sich : inhaltlich
geschlossener, formell feiner gegliedert und stilistisch reizvoller
variiert als alles vorhergehnde, konnte man sie fast für ein selb-
ständiges kunstwerk zu halten versucht sein.
Trotzdem ist dies, wie schon unsere bisherige erörterung
widerholt zeigte, sicher nicht der fall, und die episode ist gewis
nur in jenem festen Zusammenhang mit dem ganzen denkbar,
wie ihn Müllenhoff in seinem gedanklichen aufbau und seiner
äufseren gliederung der beiden ersten teile des gedichts, die die
Vergangenheit und gegenwart umfassen, so meisterhaft darlegte,
nirgends treten die ergebnisse unserer Ragnarökbetrachtung mit
seiner kritischen sichtung der beiden ersten abschnitte des liedes,
wo seine forschung im eigentlichsten sinne aufbauend genannt
werden kann, in Widerspruch, im gegenteil, sie erhalten gerade
durch sie ihre beste bestätigung. dies im einzelnen erschöpfend
darzulegen und auf die neuerlichen versuche, über seine kriti-
schen ergebnisse hinaus umfangreiche athetesen in diesen beiden
abschnitten vorzunehmen, principiell hier einzugehn, fiele aus
dem rahmen dieser arbeit heraus, dass ich hier nicht nur dem
radicalsten jener vorschlage, dem von Wilken (Zs. f. d. ph. 30, 464.
477. 481 und 33, 290), der den ganzen ersten abschnitt bis zur
Völuspastrophe 27 ausscheidet, sondern auch den vorsichtigeren
kritischen eingriffen Boers (aao. s. 291 ff) nicht beipflichten kann,
ergibt sich naturgemäfs aus den engen beziehungen, die wir
überall im verlauf unsrer darstellung mit den ersten beiden ab-
schnitten des gedichtes fanden, unabhängig aber von einer solchen
erschöpfenden erörterung, die ja im gründe einer gesamtbetrachtung
des gedichts gleichkäme und allein die innerste seele desselben
RAGNARÖK IN DER VÖLÜSPA 281
enthüllen könnte — und mit der Ragnarökepisode als mit der
verhältnismäßig bestüberlieferten und übersichtlichsten milste eine
derartige Untersuchung immer einsetzen — : scheint es mir doch
zum schluss angebracht, ja notwendig, auf die hauptsäch-
lichen Übereinstimmungen zwischen dem letzten teil der Völuspa
und den beiden ersten abschnitten noch einmal zurückzukommen,
um durch ihre etwas eingehendere betrachtung die tatsache der
engen Zugehörigkeit des Ragnarökabschnitts zum ganzen gedieht
unbeschadet ihrer künstlerischen Sonderstellung im liede noch
einmal scharf zu beleuchten und die bisher dafür vorgefundenen
gründe zu vertiefen und zu verstärken.
Es ist zunächst bei besprechung der interpolalionen in R
im ersten teil schon auf die verwantschaft hingewiesen worden,
die vv. 17 f von der menschenschöpfung mit der von uns ge-
tilgten Strophe v. 63 von der widerkehr bestimmter götter ver-
band, ob sie nun aus demselben oder verschiedenen liedern
kosmogonisch-eschatologischen inhalts stammen, ihr charakler ist
beidemal derselbe, wie er sich auch in den übrigen inR interpolierten
visur des Ragnarökabschnitts zeigt : eine variantenhafte weiter-
ausführung des vom dichter angeschlagenen themas, die aber
über das ziel hinausgeht, das sich dieser gesteckt hat. dass der-
selbe Charakter auch in den übrigen visur des grofsen inter-
polationenstockes (vv. 5. 6. 9 — 16. 19. 20), wie ihn Müllenhoff
(DA. v 91 IT) zuerst im gedichte nachwies, widerkehrt, ergibt
sich, wie eine kurze vergleichende betrachtung zeigen wird, un-
schwer auf grund von Müllenhoffs einschneidender athetese, die
mir durch Boers abweichende kritik weder eine schmaleruug
noch eine bereicherung erfahren zu haben scheint.
An zweiter stelle handelt es sich um die frage, ob der früher
beobachtete parallelismus der vv. 59. 60. 61 und 4. 7. 8, der
unmöglich auf zufall beruhen konnte und der deutlich zeigte, dass
beide partieen ursprünglich im bewusten gegensatz gedichtet waren,
sich nicht in gleicher weise auf die abschnitte der Zukunft und
der Vergangenheit in ihrer gesamtheit ausdehnen lässt. da die
inhaltliche correspondenz für den dritten abschnitt des ersten
teiles (vv. 27 — 30) und den ersten des dritten (vv. 44 f) ohne
weiteres in die äugen springt, indem beide von der fürsorge
Odins für die erhaltung der bedrohten weit, das erste mal nach
dem verhängnisvollen eidbruch gegenüber dem riesen, das zweite
2S2 NIEDIS'ER
mal vor dem drohenden heranrücken des riesischen heeres han-
deln, — so ist diese frage aus dem nachweis des engsten Ver-
hältnisses der Gullveig-Heid-Freyja-episode (w. 21 — 27 R) zu
dem Ragnarökmythus im engem sinn (vv. 47 — 54 R) zu erhärten,
wozu ebenfalls wider am natürlichsten die Müllenhoffsche auf-
fassung dieser alten partie uns verhelfen wird.
Am wichtigsten und entscheidendsten für die frage der Zu-
sammengehörigkeit ist aher unzweifelhaft eine weitere eingehnde
hetrachtung der mittleren partie des gedichts, die nach Müllenhoff die
gegenwart darstellt, mit dem schlussabschnilt der Ragnarök. in dop-
pelter hinsieht war uns hier früher engste innere correspondeuz her-
vorgetreten, einmal in der charakteristischen gegenüberstellung der
schönen endvisur vv. 64. 66 und der unterwellspartie vv. 37 — 39.
sodann in der offenbar engen beziehung der Raldrpartie (vv. 31 — 35)
mit der Strophe von seiner widerkehr (v. 62). es wird sich
hier bei näherer hetrachtung zeigen, dass die abschnitte von den
unterirdischen sälen und dem vorgange bei Baldrs tode ursprüng-
lich in einem engern Verhältnis zueinander standen — entsprechend
den vv. 62. 64 — und dass dieses, das den eigentlichen mythischen
und dichterischen ausgaugspunet des gedichts darstellt, offenbar
durch die empfindliche lücke in v. 36 verdunkelt worden ist.
Um nun mit dem vergleich der interpolationen zu beginnen,
so waren vv. 17 f im gedieht zunächst, wie früher bemerkt, genau
wie v. 63 veranlasst durch die echte Strophe 4 : äpr Bors syner
bjgpom of yppo, peir es mipgarp moeran sköpo. die schöpferische
tätigkeit der drei Borssöhne, denen hier die drei Äsen Odin-
Hönir-Lodur entsprechen, wie v. 63 die doppelte trinität, indem
Odin-Vili-Ve hinzutreten, wurde hier auch auf die erschaffung
der menschen hin erweitert, der zusatz vergleicht sich also auf
diese weise am ersten mit dem Dvergatal vv. 9 ff, nur dass nicht
etwa ein reeiprokes Verhältnis mit diesem hier vorligt, wie es
Golther (Handbuch s. 526 f) annimmt, dass die zwerge hölzerne
menschenbilder schnitzten und die götter, die diese dann am
meeresstraude vorfanden, sie beseelten, wie Golther unter com-
bination der beiden Voluspainlerpolationen mit Gylfaginning
c. 9 annimmt, ist im höchsten grade unwahrscheinlich, es sind
ollenbar zwei ganz getrennte, auf andern Voraussetzungen
beruhende schöpfungsmythen, die in den beiden Zusätzen vor-
liegen : schon dass, 'wie Müllenhoff zeigt, v. 17 f offenbar als
RAGNARÜk IN DER VÖLÜSPA 283
allerer zusatz sich durch die anknüpfung verrät (unz [>rir
kvömo ör pvi lipe), spricht dagegen, mit dieser gleichklang, der
durchaus nicht dem interpolator zugeschrieben zu werden braucht,
souderu vermutlich dem allen liedrest ursprünglich angehörte,
hat die einfilgung erleichtert, wie ja in v. 46 der ausdruck Mims
syner offenbar die anfügung des parallelen helmings vom gellen-
den Gjallarhorn vermitteln half, anderseiis gehört aber unser
zusatz von der menschenschöpfung in die kategorie jener er-
weiterungen, die im liede das bestreben zeigen, die menschen-
weit auch äufserlich mehr zur geltung zu bringen, und vergleicht
sich daher dem oben berührten zusatz R 53 mono haier aller
heimstop rypja, übrigens auch dem in R. 44, der vermutlich aus
einem den Vafthrudnismal analogen liede slammt, wo der menschen-
welt beim Welluntergang viel directer erwähuung getan ward,
die weise Ökonomie des Völuspadichters, die trotzdem die menschen-
schicksale durchaus gegenwärtig hielt, indem sie sie gerade an
den entscheidendsten stellen des liedes erwähnte, — vgl. aufser
v.44 noch vv. 50. 59. 61 R, wozu auch die ausdrückliche hindeutung
durch das krähen des hahns in Walhall in v. 42 tritt — wurde
schon durch jene erweiterungeu zerstört, in diesem zusatz des
ersten teils aber hat sie die empfindlichste beeinträchtigung erfahren.
Ganz ähnlich ligt die sache nun bei dem unmitlelbar voraus-
gehndeu Dvergalal, das ja in seiner gesamtheil selbst von so
ängstlich auf die einheit des überlieferten Völuspatextes bedachten
forschem wie Heinzel (Edda s. 25) und Rjörn Magnüsson 'Olsen
(Timarit 15, 102) ausgeschieden wird, aber auch in einer ur-
sprünglich kürzern form, die etwa den umfang des Valkyrjatal
(v. 31) gehabt hätte, wie Heinzel meint, kann das gedieht aus
denselben gründen, nur in verstärktem mafse, nie ein teil des
ursprünglichen liedes gewesen sein, tatsächlich hat die zwergen-
welt für den gang der handlung ja nicht die geringste bedeutung.
das eiuzige mal wo sie nachdrücklicher erwähnt werdeu, in dem
emphatischen ausruf (v. 49), haben sie, die armen bestürzten, nur
eine ornamentale bedeutung : auch wenn in v. 37 der goldne
saal der zwerge aus Sindris geschlecht neben den saal Rrimis, Okol-
nir, in der Unterwelt gestellt wird, kann ich darin eine bange frage
und bedenkenerregende hiudeutung auf die katastrophe mit Müllen-
hoff (DA. v 119) nicht finden, auch hier dienen sie nur, wie
sich später zeigen wird, mitsamt dem bierfröhlichen riesen, als
284 MEDNER
würksamer contrast zu dem (lüstern verbrecliersaale. wol aber
hat dieser ursprünglichste und echteste kern des Dvergatal, wie
er übereinstimmend von forschem wie Müllenhoff (DA. v 93)
und Heinzel (Edda s. 19) angenommen wird, widerum genau
dieselbe erweiternde tendeuz wie die zusätze der Ragnarökpartie,
die über das ziel des dichters hinausschiefsen, und auch darin
zeigt sich das variantenhafte wider, dass die nach Heinzeis vor-
schlagen probate erklä'rung der vv. 9f widerum einen mythus
ergibt, der schwerlich mit den Voraussetzungen der echten
schöpfungsstrophe der Völuspa in einklang gewesen ist. das
zwergenpaar nämlich, Motsognir und Durin, das nach Heinzeis
auffassung durch seine kuustfertigkeil nur zwergenbilder schmiedet,
nicht durch zeugung die menschenbildende Schöpfung fortführt,
ist schwerlich sehr alte Vorstellung, und die art, wie die götter
dieses ahnenpaar der zwergenwelt erschaffen, erinnert an eine
dem Ymirmythus der Snorra-Edda verwante auffassung, die sicher
ebensowenig wie dieser unserem Hede eigentümlich war. aber
auch die art der äufseren anknüpfung, die diesen ältesten zusatz
veranlasste, ist der der vv. 17 f und v. 46 im letzten teil durchaus
verwaut. es ist der gleichklang durch die kehrstrophe gengo
regen oll d rekstöla, ginnheilog goß, ok of pat gcettosk, die Boer
allerdings auf kosten eines einheitlich redigierenden schöpfungs-
dichters setzt, der die alten liedfragmente durch rahmenzudichtungen
anflickte : aber schon FJönsson (Litteraturhistorie i 136) deutet an,
dass diese formelhafte halbstrophe dem parallelen liede ursprünglich
eigentümlich war, und es ist wol das nächstliegende, anzunehmen,
dass sie, wie auch v. 6 zeigt, in liedern kosmogonischen inhalts gern
refrainartig verwant wurde, haben wir doch eine vollkommene
analogie in der dem sinne nach ziemlich synonymen visa der
Thrymskvida Setin voro dser aller d pinge ok dsynjor allar d
male (v. 14), die in Baldrs draumar bekanntlich wörtlich wider-
kehrt, auch wenn man mit Sijmons (Edda s. cccxlviii) und Kauff-
mann (Balder s. 26) die annähme eines älteren Vegtamliedes, aus
dem die Völuspa wie die jetzige Vegtamskvida gemeinsam schöpften,
die mir noch immer wahrscheinlich ist, leugnet, könnte der
formelhafte anfaug als altererbtes dichtergut sehr wol auch ohne
bestimmte nachahmung eines liedes dem jüngeren gedichte eigen-
tümlich gewesen sein, dort wie hier handelt es sich ja um
typisch widerkehrende Situationen, die eine bestimmte fürsorge
RAGNARÜK IN DER VOLUSIW 285
oder Vorsorge erheischen, und die Wahrscheinlichkeit, das> nicht
erst der iuterpolator die formelhaften Zeilen zur anknüpl'ung be-
nutzte, würde um so gröfser, wenn würklich, wie MüllenholT an-
nahm, vv. 9f aus demselben alten liede stammten, dem v. 5f an-
gehörten, in diesem falle würde ja auch in jenem hruckstück
eines Schöpfungsliedes die halhstrophe darin stef-artig verwendet
sein, wie der Völuspadichter dies so würksam in dem prägnanten
gegensatz von vv. 24 und 26 getan hat.
Dass dies in der tat der fall ist, scheint mir die glänzende
deutung, die Hoffory dem unzweifelhaft alten Strophenpaar
vv. 5f gegeben hat, nur zu bestätigen (Eddastudien s. 73 ff):
und diese erklärung wird ja, da ihr sachlich nichts widerstreitet
und sie die einzige ist, die ein wahrhaft grofsarliges dichterisches
gemälde in v. 5 vor uns entrollt, noch immer last allgemein
geteilt, gewis ist es, worauf Olsen (Timarit 103 IT) mit recht
hinwies, nicht so ungeschickt in das gedieht eingefügt, wie
MüllenholT und nach ihm Hoffory annahmen, aber zum gedieht
selbst kann die hochpoelische visa von der mitternachtssonne nie
gehört haben, und anderseits ist der innerste Zusammenhang mit
der allerdings weit weniger dichterischen v. 6 durch Hoflbrys aus-
führungen (s. 83) durchaus gesichert, wider ist aber bei dieser er-
klärung der typische Charakter, der sämtlichen R-zusätzen eigen zu
sein pflegt, klar, die uuregelmäfsigen, unsern dichter erschreckendeu
naturvorgänge bei der mitternachtssonne, die ein neues chaos
heraufzu führen scheinen (v. 5), entsprechen der echten v. 3; die
Strophe, die Ordnung in die natur durch die götler wider hinein-
bringt (v. 6), entspricht völlig v. 4. also auch hier wird dem
gedanken des Völuspadichters eine erweiterung gegeben, die
seine absieht überschreitet, und die ähnlichkeit des ideenganges
im alten liedfragmente war neben der gemeinsamen kehrstrophe
der innere grund der anknüpfung.
Auf jeden fall hat man es in vv. 5f. 91, wenn sie zusammen-
gehören, dem mythischen Charakter nach, kaum mit einem Jüngern
zusatz zu tun als vv. 17 f, wenn auch die ausführungen Ilofforys
zeigen, dass heziehungen zum VVessobrunner gebet in den worten
söl ne visse, hvar sale alle, mäne ne vüse, hvat megens alte, bei
der bestimmten Situation, die diese verse hier zeigen, nicht liegen
können, und es ist daher keineswegs richtig, wenn Roer (aao.
s. 299) den zusatz mit der echten v. 4 in Zusammenhang bringt,
286 NIEDNEK
die er aus dem gedieht ebenfalls ausscheidet, v. 4 zeigt diese
gemeingermanischen Beziehungen und die übrigen von Bugge
(The home of the Eddie poems s. xxxm) hervorgehobenen zu alt-
englischen gedichten allerdings deutlich, wie dies auch der alten
Völuspa ganz natürlich ist, und hat mit unsrer auf einem singu-
Iären mythenbilde aufgebauten Strophe nichts zu tun. im übrigen
ähnelt das interpolierte strophenpaar dem letzten der grofsen
Müllenhoffschen interpolation (vv. 19 f) äulserlich insofern auf-
fällig, als auch dies mit einer hochpoetischen Schilderung des
weltbaums einsetzt, der die folgende, unzweifelhaft dazugehörige
nornenpartie nicht gleichkommt.
Auch dieser, wie die sachliche beziehung zu den drei nornen
(v. 8) zeigt, sicher älteste zusatz zeigt ganz den Charakter der
übrigen erweiterungen, indem er in doppelter weise erst das bild der
nornen näher ausmalt, dann aber eine paralleldarstellung zu der
echten Völuspastrophe vom weltbaum v. 27 bringt, die Boer zu
einer transposition der v. 18 B. an jene stelle veranlasste, um
auf diese weise eine ungemein complicierte erklärung der eut-
stehung des strophencomplexes vv. 28 — 30 zu gewinnen, die mir
indes noch künstlicher erscheint als die früher besprochene
Charakterisierung der visur 62 f (vgl. die tabellarische übersieht
s. 368 f). indes auch den versuchen 'Olsens (Timarit 15, 391)
und Heinzeis (aao. s. 18), durch annähme eines verschollenen
mythus in der echten v. 8, oder slatuierung einer kühnen pro-
lepsis, durch die die nornen an jener stelle im voraus angekündigt
wurden, steh ich im hinblick auf MüllenholTs vortreffliche aus-
führungen (DA. v 103) skeptisch gegenüber, der echte kern
des strophenpaares, zu dem freilich die aufzählung der nornen
kaum gehört, steht nämlich offenbar in seiner gesamt heit in
parallele zu vv. 28 ff. mit recht weist Müllenhoff jeden gedanken
einer combination der beiden mythenformen vom wellenbaum,
wie sie in widersinniger weise die Gylfaginniug versuche, als
unnötig zurück, nirgends wie hier zeigt sich der so oft beob-
achtete Vorgang, dass eine echte partie der dichtung ausgiebiger,
als im plane der dichtung ligt, zu illustrieren versucht wird,
dass der weltbaum über dem Mimirbrunnen, aus dem der quell-
dämon diesen durch stete bewässerung pflegt, nach Müllenhoff
die ältere nordische Vorstellung des mythus darstellt, macht die
jüngere, die in dem Wortlaut unsrer interpolation vorligt, deshalb
RAGNARÖK IN DER VÖLUSPA 2S7
nicht wertlos, als schöne dichtung bezeichnet er sie ebenfalls
und weist ihr, die den hohen bäum immergrün Ober dem Urdar-
brunnen stehn lässt, wo die nornen, die der Zeiten wallen, seine
pflegerinnen sind, eine durchaus selbständig berechtigte poetische
Stellung, nur nicht im zusammenhange des gedichts, an. nirgends
wie bei diesem R-zusatz wird aber das zusammentreffen rein
äufserlicher und innerlicher anknüpfungsmotive so deutlich, wie
gerade hier, war die äufsere anknüpfung durch den gleichklang
in vv. 8 und 20 (drei mä'dchen) einmal gegeben, so wurde sie
durch die denkbar naturgemäfse Verknüpfung der nornen mit
dem Schicksal des weltbaums, wie eine solche in parallelen liedern
vorlag, aufs würksamste unterstützt.
Worauf es uns hier lediglich ankam : wir sehen in allen
Zusätzen der grofsen interpolation denselben Charakter wie in der
Ragnarükpartie. an eine einheitliche interpolierung möcht ich
indes hier wie dort nicht glauben, schon die anordnung in
den erweiterungen spricht in den Zusätzen des ersten teils gegen
einen einheitlichen schöpfungsdichter.
Interessant, wenn auch nicht irgendwie von beweisender
kraft, ist das Verhältnis zu der Überlieferung der Snorra-Edda.
fast sämtliche Zusätze in R nennt oder kennt diese wenigstens:
die ausnähme mit v. 63 kann auf zufall beruhen, da hier die
quelle der Vafthrudnismal ausgiebig ausgebeutet wurde und die
Überlieferung beider gedichte sich durch contamination schwer
vereinigen liefs. von den H-strophen aber kennt die Gylfaginning
v. 65 und 40, 3. 4 sicher nicht, kaum auch hat sie v. 48 f und
30, 1. 2 vor äugen gehabt, auch dies spricht für den späten
litterarischen Charakter dieser zusätze im gegensatz zu den my-
thisch-organischen der R-zusalzstrophen.
Spricht so die gleichartigkeit des interpolationengewächses,
das allmählich das alte gedieht umrankt hat, für die einheitlichkeit
des Völuspakernes, so ergibt schon eine oberflächliche belrachtung
der anläge auch den völligen parallelismus der abschnitte, die die
Vergangenheit und die Zukunft darstellen, in ihrer gesamtheit. die
entsprechung der früher besprochenen visur, die das goldene Zeit-
alter der götler in der alten und in der neuen weit schildern, würde
sicher noch lebendiger hervortreten, wenn nicht die halbstrophe
v. 61, 3. 4, die offenbar eine weitere ausmalung der glücklichen
neuen ära enthielt, verloren wäre, hervorgehoben zu werden
288 N1EDNER
verdient auch, dass, genau wie der blick des dichters im neuen
götterreiche nach ßaldrs erscheinen in eine unendliche ferne
zukuuft schweift, er vor der weltschöpfung und dem seligen
Zeitalter der Äsen sich in die unermessliche urzeit verliert, und
eine ähnliche differenzierung der zeit findet noch einmal in den
abschnitten vor den gölterfehden statt, die beidemal den kern-
puuct des vergangenheits- und Zukunftsabschnittes bilden, die
partieen, die von Odins Verhältnis zu Mime und seiner göttlichen
fiirsorge handeln, ragen, obvvol der dichterischen einkleidung
nach zu Vergangenheit und Zukunft gehörig, doch in ihrer actu-
ellen bedeutung beidemal hart in den gegenwartsabschnitt hinein,
die beiden partieen aber, die den eigentlichen kern der ver-
gangenheits- und zukunflsepisode enthalten, correspondieren
ebenfalls in der anläge auf das glücklichste, stellen hier die
götterfehden in der tötung des riesischen baumeisters durch Thor
das entscheidendste document der machtstellung der Äsen dar,
enthalten sie jedoch in dem bruch der beschworenen eide schon den
keim ihres Unterganges, so war dort der riesenkampf das end-
giltige zeugnis ihrer Zertrümmerung, indes, da auch die riesen
fallen, zugleich die vorbedinguug für ein neues mächtiges Asen-
reich. und dem bedeutsamsten ereignis vor dem neuen goldnen
Zeitalter dort entspricht hier gleichfalls das folgenschwerste, die
Verkettungen unglücklicher fehden, die in v. 26 ihren höhepunct
erreichen.
Sind auch die Vorgänge, die in fortschreitender Steigerung
zur entscheidenden Verschuldung der götter führen, complicierter
als der riesenkampf im zweiten, und die drastik und kürze des
ausdrucks, die uns schon die beiden Thorstrophen R 27 und 53
vergleichen liefs, hier noch stärker, der beherschende grund-
gedanke, wie er in Müllenhoffs'ausführungen (DA.v95 — 99) zutage
tritt, verbreitet doch über das ganze durch die identiücierung
der Gullveig-Heib-Freyja vollkommene klarheit, die Boers athetesen
nirgends notwendig erscheinen lassen. Boers bedenken sind im
wesentlichen dreierlei art. zunächst sieht er eine unerträgliche
tautologie darin, dass es in v. 21, wo von der mishandlung der
Gullveig die rede ist, heifst: pat man folkvig fyrst i heime, und v. 24,
da von Odins speerwurf geredet wird, noch einmal: pat vas enn
folkvig fyrst i heime (s. 300). sodann, dass die Gullveig- Heid-
geschichte nicht nur nach der absieht des dichters, sondern auch
RAGNAKÖK IN I»EK VÖLÜSPA 239
des angeblichen interpolators mit dem Vaneukriege nichts zu tun
habe, wodurch die tiefsinnige iuterpi etation dieses mythus durch
Mülleuhoff verurteilt sei (s. 303). endlich aber, dass auch v. 23
im gegebenen Zusammenhang interpoliert sein müsse, da offenbar
die beratungen in ihr vor dem Vanenkrieg eine ganz andre form
des Vanenmythus voraussetzen als v. 24, indem im ersten fall
die gölter sieger blieben wie in der darslellung der Ynglingasaga,
während im letzten die Vanen den sieg davon trugen (s. 304 f).
keines dieser drei argumente scheint mir indes stichhaltig, wenn
man sich nur die souveräne art vergegenwärtigt, wie der dichter
die überlieferten mythen seinen zwecken auch sonst dienstbar
macht (Olrik aao. s. 270), so dass er sowol den Vanenkrieg wie
die episode mit dem riesischen baumeister anders als die land-
läufige Überlieferung vorträgt, um sie zu verknüpfen, anderseits
aber die beabsichtigte, offenbar auf höchste Spannung der Zu-
hörer berechnete kunst erwägt, mit der er das voteqov nQÖreqov
doppelt (w. 21 f. 23 f) verwendet.
Der gedanke von der verderblichen macht des goldes, der
ja gerade in germanischer phantasie und dichtung von jeher eine
so groi'se rolle gespielt hat und insbesondere in den Eddaliedern
auch sonst spielt, ist das einigende band, das diese ganzen
Strophenreihen ungezwungen aneinander schlielst. kann man
doch darin eine deutliche, sich immer dramatischer steigernde
scala verfolgen, in den worten vas peim vcetterges vant ör golle
sehen wir das gold noch in seiner unschuldigen würkung auf
die phäakenhaft sorglos dahinlebenden götter, die sich an der
anfertigung goldener Schmiedearbeiten ergötzen, die v. 21 leitet
danu allmählich aus der Vorstellung des metalls zu der auffassung
einer persönlichen, verführerisch würkenden dämonischen gottheit
über, anders kann ich mir den sinn nicht erklären, wenn die
mishandlung der göttin durch die götter auch in der darslellung
des gedichts in derselben weise erfolgt, wie von altersher die
procedur der goldläuterung vor sich gieng (Müllenhoff aao. s. 36.
Heinzel aao. s. 31). in den nach dieser richlung doppelsinnigen
worten prysvar brendo, prysvar borna ist das deutlich zum aus-
druck gebracht, die nächste Steigerung finden wir dann in der
gestalt der Heid, die als Zauberin spuk treibt, wie sie kann:
hier ist die personification bereits vollendet, und mit recht sehen
Müllenhoff und Heinzel in ihr eine hypostase der Freyja, die ja
Z. F. D. A. XL1X. N. F. XXXVII. t9
290 N1EDNER
auch sonst als zauberin gedacht ist. durch sie wird die Ver-
knüpfung mit dem Vanenabenteuer vorbereitet: von den Vanen näm-
lich, aus denen Freyja stammt, kommt den Äsen das weitere unheil,
das dann zum moralischen eidbruch führt, einerseits wird näm-
lich durch die aufnähme der Vanen, der reichen handelsgütter,
die olympische naivelät des alten göttergeschlechts endgiltig er-
schüttert, anderseits wird widerum die Vaniu Freyja das streit-
object bei dem ganzen vertrag mit dem riesen, das dann in v. 27
zur Verschuldung führt.
Hält man diesen gedaukengang fest, dann schwinden alle
gegen die innere einheit der parlie erhobenen bedenken leicht,
nimmt man nämlich eine solche kette von würkungen der Gullveig
an, so ist es ganz natürlich, dass auf den ersten kämpf zweimal
hingewiesen wird, das erste mal an der stelle, wo die unheil-
volle würkung, die streit und Zerwürfnis heraufbeschwört, beginnt,
das zweite mal, wo sie in dem tatsächlichen kämpfe Odins ihren
höhepunct erreicht und wo dann zugleich das folgenschwerste
ereignis des ersten teils, der Zwiespalt mit den riesen, einsetzt,
das enn (v. 24) ist also von der gröslen Wichtigkeit, der un-
gemein prägnante sinn, der in ihm ligt, wird vielleicht durch
Gering (grofses glossar s. 211) noch treffender als Müllenhoffs
'ferner' durch 'immer noch' übersetzt, die vorausdeutung an
erster stelle aber gehört in dieselbe kategorie würksamer pro-
lepsen, die wir schon widerholt im verlauf unserer darstellung
fanden, gerade bei dem sprunghaften und sich fast durchweg
nur in andeutungen ergehenden Stile dieser ganzen episode war
eine hindeutuug auf den kernpunct des mythischen Zusammen-
hangs hier besonders erwünscht.
Ebenso ist bei unserer auffassung an einer Zusammengehörig-
keit des Gullveig-Heid-mythus mit dem vom Vanenkriege nicht
zu zweifeln, die worle Heipr — seip, hvars kanne, seip hug-
leikenn und knötto vaner vigskö vgllo sporna bedeuten, wenn
würklich Heid-Freyja eine abgesante der Vanen ist, wie Müllen-
hoff, gestützt auf die parallele von Ynglingasaga c. 4 annimmt,
inhaltlich genau dasselbe, nämlich den verderblichen einfluss, den
das neue, den reichtum darstellende dement auf die götter ausübt,
einen weitem Zusammenhang freilich, wie ihn Olsen zwischen
w. 22 und 23 ansetzt (Timarit 15,331), im hinblick auf die
beratungen der götter, kann ich nicht annehmen.
RAGNARÖK IN DER VÖLÜSPA 291
Vor allen dingen aber : die behauptete uneinheitlichkeit der
vv. 23- 24 besteht in keiner weise, wenn in der Ynglingasaga
e. 4 ausdrücklich die Äsen als die angreifer der Vanen bezeichuet
werden, die dort ihr land verteidigen, und wenn von längeren» krieg
und wechselndem kriegsglück gesprochen wird, so weicht unsere
Völuspadarstellung zwar ab, indes doch nur gerade so weit, als
die Verbindung mit dem Gullveig-mythus dies notwendig machte,
naturgemäfs muste die initiative der Vanen hier urgiert werden,
so dass die worte brotenn vas borpveggr borgar dsa, knötto vaner
vigskö vgllo sportia sie nicht nur in die rolle der angreifer rücken,
sondern auch als endgiltige sieger erscheinen lassen, genau auf
diesem boden des abgeänderten mythus aber stehn die angaben
der visa 23. was die götter dort beraten, kann sich unmöglich
auf die Vorgänge in v. 22 beziehen, wie Olsen (Timarit 15, 3311)
meint, so dass es sich um die frage gehandelt hätte, ob die Äsen
allein oder zusammen mit den Vanen die bufse für den tod der
Gullveig-Heid entrichten sollten, von einer bufse für deren tod
konnte füglich überhaupt keine rede sein, da v. 21 deutlich zeigt,
dass sie wol mishandelt, aber nie getötet wird und immer in
anderer gestalt, ganz ihrer symbolischen bedeutung gemäfs, wider
auflebt : die ervveiterung opt ösjaldan : — pö enn Ufer bringt
diesen selbstverständlichen gedankeu überflüssiger weise noch
zum ausdruck. es kann sich, und in diesem puncte stimmen ja
Müllenhoff (aao. s. 98) und Heinzel (aao. s. 33) völlig zusammen,
durchaus nur um mafsnahmen handeln, die die einrichtung des
neuen, gemeinsamen götterstaates betreffen : unter dieser Voraus-
setzung aber scheint mir die Mülleuhoffsche erklärung, dass die
Aseu und Vanen gemeinsam erwogen, 'ob die Äsen schoss zahlen
sollten, oder die götter alle sollten opfer haben', noch immer die
natürlichste, die dem Zusammenhang am meisten gerecht wird,
auch die sprachlichen einwände, die gegen die deutung von
afrdp gjalda im norwegischen sinne als 'abgäbe, tribut zahlen'
und gegen gilde eiga als 'anrecht auf opfer haben' erhoben sind,
und die zu anderer erklärung der Situation anlass gaben, können
sein ergebnis, glaub ich, sachlich kaum verändern *. denn das
1 Heinzel entscheidet sich an erster stelle für die erklärung 'ob die
Äsen hier bufse erleiden und alle götter (Äsen ebenso wie Vanen) opfer er-
halten sollen' und bezieht die erwägung auf einen entsprechenden ansprucli,
den die Vanen an sie gestellt haben. Boer (aao s. 304) denkt an eine
19*
292 NIEDNER
ergebnis, dass es zu einer Vereinigung, zu einem göücrstaate
kam, worauf der vielbesprochene visuhelming 23,3-4 abzielt,
war ja nicht neuerung des Yöluspadichters, sondern, wie der
vergleich der Ynglingasaga zeigt, eigeutum des mylhus selbst.
Ist so die genaue entsprechung der ganzen vergangenheits-
uod zukuuflsparlie in vollem umfange zu tage getreten, so können
daran die nachdrücklichen erwähnungeu der Vojva in v. lf und
vv. 28 ff, die im dritten teil kein gegensliick haben, natürlich
nichts ändern, denn noch in diesem ersten teil, bevor sie mit
der Vergangenheit abschloss, muste sie sich ja als prophetin
legitimieren, hier ist eben deutlich die stelle, wo noch das muster
der Völuspä , das alte Vegtamslied , klar hindurchschimmert,
'vv. 28 ff lassen noch ganz deutlich das alte vorbild erkennen',
ich freue mich, diese worte Wilkens (Zs. f. d. ph. 33, 328), mit
dem ich sonst so wenig berührungspuncte habe, voll unter-
schreiben zu können.
Treff ich in der auffassung, dass der dichter der Völuspa
durch ein solch älteres Vegtamslied angeregt wurde, die zukuufts-
prophezeiungen, die sich dort auf Baldrs Schicksale allein be-
zogen, auf die gesamtentwicklung der götter- und menschen-
geschicke auszudehnen, vollkommen mit Wilken zusammen, so
kann ich ihm doch schon darin nicht mehr folgen, wenn er die
mittlere partie des gedichts, zu der wir uns ja zum schluss
wenden wollten, als gegenwartsabschnitt im sinne Mülleuhoffs
läugnet. ich meine, dass dies im hinblick auf das alte Vegtams-
musterung vor dem kämpf, die Äsen erwägen, ob sie, wenn der krieg aus-
breche, eine niederlage erleiden {af'raü = afhroü) oder endlieh den !«ieg
davontragen werden. 'Olsen endlich (Timarit 15, 33 ff) erklärt gilde eiga
für gjalda, afräp prjalda = ferJ5a firir nkada. in seiner beziehung auf
v. 22 steht er, wie oben bemerkt, einsam da, ebenso in der auffassung von
gilde eiga, die Boer sprachlich nicht völlig mitmachen kann. Boers auf-
fassung selbst steht aber sachlich überhaupt nicht notwendig in Widerspruch
mit der form des Vanenmythus in v. 24: diese erwägungen konnten die
Äsen doch auch anstellen, wenn sie einen angriffskrieg der Vanen befürchteten.
Heinzeis erklärung. endlich würde — da die Äsen doch die besiegten sind —
ebenso gut auf die Situation nach dem kämpfe passen, seine auffassung des
afräp gjalda ist ja augenscheinlich die jetzt ziemlich allgemein angenom-
mene, und ich meine, dass, wenn man sie, die 'Olsen von seinem isländischen
standpuncte aus eingehend verteidigt hat, acceptiert, kann Mülleuhoffs iots-
qov tiqoxeqov doch ruhig bestehn.
RAGNARÖK IN DER VÖLUSPA 293
lied ebensowenig notwendig ist, wie jene umfangreiche atlietese,
die er mit dem ganzen ersten teil des gediclits vornahm, soweit
der anfang unseres liedes durch die oil'enhare verwanlschaft vou
v. 28 ff mit dem älteren gedichte, die wir ja beide annehmen,
festgelegt werden soll, kann ich ihm in keiner weise mehr bei-
stimmen, wenn ich in meiner frühern arbeit (Zs. 41, 38) an-
nahm, dass der Völuspadichter durch das ältere gedieht angeregt
wurde, die Weltschicksale nicht nur in die Zukunft hinein, sondern
auch tief zurück in die Vergangenheit durch die Seherin beleuchten zu
lassen, so glaub ich dem künstlerischen Charakter des dichters, wie
er auch sonst hervortritt, gerechter geworden zu sein als Wilken.
unterstützt wird meine Voraussetzung schon durch den eben be-
handelten vollkommenen parallelismus der abschnitte der Vergangen-
heit und zukunft aufs würksamste. ich meine aber, eine eingehnde
betrachtung der mittelpartie, die Wilken als gegenwart verwirft,
dürfte sie noch fester begründen, es ergibt sich nämlich hier
innerhalb des gegenwartsabschuittes sofort die gleiche, bewust-
kunstvolle auordnung hinsichtlich der zeit, wie bei der ver-
gangenheits- und zukunflsschilderung, und die eigentlichste gegen-
wart, von der der dichter ausgeht, ligt offenbar in vv. 36 — 39.
Es sind deutlich drei gruppen von Strophen zu unterscheiden.
die erste (vv. 31 — 35) erzählt die tragodie von Baldrs tode. die
zweite (vv. 36 — 39) gibt, äufserlich zunächst scheinbar ganz zu-
sammenhangslos, eiue Schilderung der verschiedenen säle hei Hei.
die dritte (vv. 40 — 43) beschäftigt sich mit hindeutungen und zum
teil auch prokptischen erürterungen der Zukunftstragödie, für die
Wichtigkeit, die dem gegenwartsabschnilt als kernpunet seiner
dichtung vom dichter beigemessen wird, spricht schon die breite
der ausmalung, die in allen teilen dieser partie in keinem ver-
hiillnis zu dem sonst rapiden fortgang der handlung im liede
steht, die eigentliche Baldrpartie umfasst fünf visur, die dar-
stellung der Unterwelt, falls man v. 36, wie man muss, als defect
betrachtet, vier visur. zwei Strophen nimmt der sonnenwolf, zwei
die hähnepartie in anspruch (40 f. 42 fj. von diesen abschnitten
fällt der tod Baldrs, streng mythisch genommen, noch in die Ver-
gangenheit : das letzte, bedeutsamste ereignis derselben, das durch
seine actuelle hedeutung aber ein lebendiger teil der gegenwart
wird, die saalparlie schildert, wie schon ein vergleich von vv. 38 f
mit 45 zeigt, einfach gegenwärtige zustände, dagegen greift der
294 N1EDNER
letzte abschnitt — das bedeutungsvolle krähen der bahne ' —
schon hart in die Zukunftsereignisse über, der innere Zusammen-
hang, der die drei teile verbindet, ist im ganzen vollkommen
klar, naturgemäfs führt Baldrs tod auf das reich Hels, und ebenso
uaturgemäfs schliefst sich die kündung kommenden Unheils an
die verbrecherscenen im höllischen saale. nur in der äufseren
anknüpfung klafft nach v. 35 eine lücke. hier ist die defecle
v. 36 verhängnisvoll geworden.
Dass die ergänzung des zweiten helmings von v. 36 nach
der erwäbuuug des höllenflusses Slip — so fasst mau diesen ja
jetzt allgemein auf — eine bedeutsame bemerkung enthalten
haben muss, die über die gesamte höllensaalpartie licht verbreitete,
zeigt die Ungereimtheit der ganzen Vorstellung, die sich bei der
jetzigen Überlieferung ergibt, dass erst der reifsende fluss mit
messern und Schwertern, der durch gifttäler strömt und schon
dem wortlaut nach au den INaströudsaal in v. 39 erinnert (vgl.
d feür aiislan um eilrdala und fello eitrdropar inn of Ijöra), so
drastisch ausgemalt wird, dann plötzlich zwei unterweltliche
Phäakenheime erwähnt werden, und dann widerum die fürchter-
lichste höllenlandschaft geschildert wird, darin ligt ein mis-
verhältnis. FJönsson hat dies misverhältnis wol empfunden,
wenn er (Literaturhistorie l 136) die Strophe von den Phäaken-
sälen glatt streicht, jedesfalls nicht weniger gewaltsam als diese
atbetese, die ja widerum nur unter der annähme derselben lehr-
haften tendenz des Verfassers dieser Strophe verständlich würde,
die Sijmons dem echten Völuspadichter beimessen wollte, ist doch
wol der versuch der inhaltlichen ausfüllung unsrer lücke, zu der,
wie ich meine, am besten widerum das zurückgreifen auf das
vorbild des Völuspadichters, jene alte Vegtamskvida, verhilft.
1 an die ursprünglichkeit dieser darstellung ist trotz Boers einwänden
durchaus nicht zu tasten : in treffender weise wird in diesen mythischen not-
signalen noch einmal am schluss auf den ganzen abschnitt vv. 40 f (götter-
weit), v. 36 ff (unterweit) und v. 31 ff (Äsen weit) zusammenfassend zurück-
gewiesen, ich treffe in dieser beibehaltung des überlieferten mit Sijmons
(Edda s. cccxlvii) zusammen, nicht aber in der begründung. denn mit dem
mafsstab didaktischer dichter darf die Völuspa sicher nicht gemessen werden,
nur die Überlieferung ist offenbar daran schuld, dass die bedeulung der drei
säle, die Sijmons als parallele für die lehrhafte neigung des Völuspadichters
herbeizieht, verdunkelt wurde, und in der charakteristischen auf-
zühlung von walkürennamen (Müllenhoff DA. 5,111) ligt ebenfalls kein heitatal
RAGNARÖK IN DER VÖLUSPA 295
Retrachtet man die jüngere» 'Raldrs draumar', die ja ebenfalls
aus jener schöpften, so ergeben sich — wie bekannt — zwischen
diesem gedieht und der Völuspa die auffallendsten sachlichen Über-
einstimmungen, nahezu alle motive des jüngeren liedes kehren in
unserm gediebte wider, nämlich die Völva in ihrem Verhältnis zu
Odin, das Heireich, der hölleuhund, die episode von Raldrs tötuog,
seine räche durch Vali und endlich die beziehung auf die Rag-
uarök selbst, ja wenn die rätselhafte anspielung in v. 12 auf
Fiiggs äugen gedeutet werden könnte (Edzardi Germ. 27, 337)
— eine unbestrittene erklärung fehlt noch — , würde selbst das
weinen der götlermutter nicht fehlen, auf keinen fall haben wir
grund, auch dieseu letzten zug wie alle übrigen genannten, dem
alten Vegtamsliede abzusprechen, wenn auch jenes, worauf
FJönssou (aao. s. 147) mit recht weist, sicher mit einer würk-
samereu, dem schluss der Vafthruclnismal ähnlichen rätselfrage
schloss.
Sicher nicht correspoudiert mit dem vorliegenden text der
Vüluspa Vegtamskvida 7, wo von Raldrs verweilen in der unter-
weit gesprochen wird, und wo es, nachdem vorher (v. 3) von dem
hoben gemach der Hei die rede war, heifst : 'hier steht für Raldr
gebraut das mahl, der schimmernde trank, ein schild ligt darüber',
kann es nun eine passendere ausfüllung der lücke in v. 36 geben,
als eine einfügung dieses bildes dem sinne nach in unsre paitie?
dächte man sich die visa 36 mit bezug auf Vegtamskvida 3. 7
etwa so hergestellt : A fellr austan um eidrdala spxom ok sverpom,
Slipr heiter sü. pytr at hövo Heljar ranne: par stendr Baldre
of bruggenn mjopr, so wäre jedesfalls in dreifacher hinsieht eine
dem sinne nach angemessene anknüpfung gefunden.
Zunächst ist die härte des äufseren Zusammenhangs ge-
mildert, die reihenfolge 'hölleufluss — unterweltselysium —
unterweltstartarus' wird nun erst recht verständlich, da auf der
einen seite ein hüllenstrom, der von Raldr überritten werden
muss, ehe er in sein unterweltliches domicil gelaugt, auch in der
Gylfaginuing c. 43 erwähnt wird, also zur mythischen tradilion,
die der Völuspadichter vorfand, gehörte, auf der andern seite
aber die phäakenhaften riesen- und zwergensäle in v. 37 äufser-
lich zunächst den guten zweck verfolgen, die andeutung von
Raldrs elysäischer wohnung würksam zu unterstützen, der gold-
saal Siudi is wie der biersaal des jöten Rrimir schliefsen sich eng
296 NIEDNER
au diese Vorstellung vou Baldrs behausung an, wie sie nach
der weiten ausführung Vegt. 6 vorausgesetzt werden muss.
Sodann fällt aber bei der vorgeschlagenen ergänzung auch
auf den inuern Charakter der visa 37 erst das richtige licht, es
ist höchst bedeutsam und der anläge des liedes durchaus ent-
sprechend, wenn im gegensatz zu den menschen, die vernichtet
werden sollen und deren schon vernichtete exemplare uns in
vv. 3Sf vorgeführt werden, in v. 37 der triumphierende riese
Brimir sein leben ebendort in walhallischer wonne verbringt
und in seinem saal in Unkühlbeim symbolisch die zunächst ja
auch siegende vßqig der riesen widerspiegelt, aber erträglich
wird dieses bild doch erst, wenn gleichzeitig der künftige herscher
der erneuten well hier schon als tröstendes gegenbild in der
unterweit daneben steht, wie in einem schattenhaften, aspho-
delischen Vorspiel erscheinen hier also die drei hauptmotive der
kommenden Ragnarök : 'die zunächst die Zerstörung herbeiführen-
den, dann aber selbstfallendeu riesen, die vernichteten menschen, die
aber der Verjüngung der götter entsprechend, neue glückliche nach-
folger in der widererstandenen weit erhalten, und endlich der künf-
tige herscher der neuen weit, der bei Hei seiner widerkehr wartet'.
Endlich — und dies erscheint nach vornähme unserer er-
gänzuug der v. 36 das wichtigste — wird auch die oben er-
wähnte centrale Stellung der vv. 36 — 39 innerhalb der gegenwarls-
partie vollkommen in ihrer berechtigung deutlich, denn nicht
die Vorgänge bei der tötung stellen ja recht eigentlich den aus-
gangspuuet der betrachtung, die gegenwart, von der die Seherin
ausgeht, dar, sondern der zustand, dass Baldr bei Hei weilt,
er erst vervollständigt das gegenbild, das vv. 36 ff zu vv. 62. 64.
66 darstellen und lässt mon Baldr koma dort wolvorbereitet und
verständlich im gedichte erscheinen.
Obwol ich meine, dass eine ergänzung, ungefäbr wie die
vorgeschlagene, auch unabhängig von der annähme einer älteren
Vegtamskvida als anregende quelle des Völuspadichters, aus der
anläge des ganzen gedichtes wahrscheinlich wird, bin ich doch,
wie ich schon oben hervorhob, durch die ansichten, die eine
solche ältere vorläge verwerfen, bisher in meiner auffassung nicht
erschüttert worden, am wenigsten durch die ganze bebandlung,
die der für diese frage in betracht kommende teil des Völuspa-
textes durch die letzte ausführliche Untersuchung des Baldrmylhus
RAGNARÜK IN DER VÖLÜSPA 297
vou Friedrich Kauffmaun (1902) gefunden hat. erschöpfend auf
seine singulare auffassung Raldrs einzugehn, ist hier nicht der
ort, und es wird dazu gelegenheit sein, wenn ich einmal, wie
dies meine absieht ist, die Untersuchung über den Ragnarökmy-
thus, auf den ich mich hier beschränkte, principiell auf die
ganze Völuspa auszudehnen unternehme, dass aber KaulTmanns
erklarung von dem wesen Raldrs in dieser unsrer besten und ältesten
erhaltenen quelle ohne gewaltsame zurechlschneidung des Völuspa-
textes keine stütze findet, darauf hat ja schon Heusler in seiner
kurzen, aber inhaltsreichen recension (PLZ. 1903, 488 ff) hinge-
wiesen, der ich mich in allen hauptpuneten nur anschliefsen kann.
Ich hebe hier nur zum schluss meine hauptsächlichsten
einwände noch kurz hervor, es erscheint mir unrichtig und gekünstelt,
in die worte blöpgom tivor (32, 1) nach Rugges Vorgang (The
home of the Eddie poems s. xxxrxff), wenn auch mit andrer
gruudauffassung, den sinn 'blutiges opfer' hineinzutragen (s. 240).
es erscheint mir gezwungen und sprachlich keineswegs not-
wendig (vgl. Atlakv. 17, 4), aus dem ausdruck erlog folgen zu
schliefseu , dass Raldrs Schicksal hier in Sicherheit gebracht
werde wie Odins äuge und Heimdallar hljop , das noch immer
mit Müllenhoff gegenüber KaulTmanns erklarung 'Heimdalls
stimme' oder Heinzeis (aao. s. 36) 'Heimdalls gehör' am natür-
lichsten als 'Heimdalls hörn' gedeutet wird, was bei der
im Geringschen Wörterbuch (s. 450) aus dem altdänischen bei-
gebrachten parallele sehr wol möglich ist (s. 23). es erscheint
mir weiter ebenso unnotwendig und gekünstelt, unter dem ein-
drucke der Detterschen sagenauffassung (Reitr. 19, 495 ff) die
änderung meer in mjö (v. 33, 1) vorzunehmen, da einerseits die
auffassung der mistel als bäum bei der geringen bekauntschaft
der pflanze in nordischen landen sich ungezwungen erklärt, ander-
seits die Stellung des relativsatzes bei der beziehung auf härm-
flaug haettlig immerhin sehr auffällig bleibt (s. 25). endlich er-
scheint mir ebensowenig überzeugend die begründung der athetese
der Valistrophe, die, wie wir widerholt schon hervorgehoben haben,
in unserem gedichte auf keinen fall fehlen darf, nicht weil Snorri
sie bei seiner paraphrase der Völuspa nicht vorfand, fehlt sie bei
ihm, sondern einfach deshalb, weil er sie bei seiner redactions-
tätigkeit, dieLokis schuld urgierte, nicht brauchen konnte, widerholt
hat Kauffmann auch sonst die älteste und beste quelle des Raldr-
298 MEDNER RAGNARÖK IN DER VÖLl'SPA
mythus, wie sie uns in der mitlelparlie der Voluspa vorligt, nicht
genügend gewürdigt und Snorris Zuverlässigkeit zu sehr vertraut.
Dass trotzdem selbst die Völuspa in 6inem wichtigen puncte
ihre vorläge, das alte Vegtamslied, misverstaud, diese 'seltsame
combination', wie sie KaufTmann (s. 25) nennt, halt ich auch
heute uoch aufrecht, erst dann werde ich mich davon über-
zeugen lassen, dass das schwert 'Misteltein' im mythus nicht
das ursprüngliche auch im norden war, wenn der charakter der
mistel als unglückspflanze in der volkstümlichen Überlieferung
wahrscheinlicher gemacht wird, als durch die wenigen bei Bugge
(The home of the Eddie poems s. xlv) verzeichneten christlichen
combinationen.
Berlin, 1 1 Juni 1907. FELIX MEDNER.
EIN GÖTTINGER WIGALOISFRAGMENT.
Am 4 august 1820 bedankt sich FJMone bei GFBenecke für
die anzeige seiner Einleitung in das Nibelungenlied, schickt ihm
umgekehrt eine solche des im vorhergehnden jähre erschienenen
Wigalois und legt einige pergamentblätter 'der in der anzeige er-
wähnten handschrift' bei : 'ich glaubte dieses geschenk meines freundes
von Lassberg nicht ehrenvoller verwenden zu können, als wenn ich
es dem herausgeber des Wigalois zustellte'. — es sind dieselben
blätter, die 8 jähre später nach angäbe des accessionsjournah der
Göttinger Universitätsbibliothek 'von hm hofrat Benecke verehrt'
wurden und die jetzt die Signatur cod. ins. philol. 1S7 tragen.
WMejer hat sie 1893 kurz beschrieben (Verz. d. hss. i. pr. st.:
Gott. univ. i 47). aber trotzdem sie früher als alle andern Wigalois-
bruchstücke bekannt waren, sind sie meines Wissens noch nicht zu-
gänglich gemacht. Mone in der oben erwähnten anzeige in den
Heidelberger Jahrbb. der litteratur xm Jahrgang 1 hälfte p. 475 — 6
beschränkt sich nur auf wenige mitteilungen.
Die beiden blätter, die Lassberg von einem bucheinband gelöst
hat, gehörten zu einer hs. in kleinquart von ungefähr 19 cm höhe,
14 cm breite, sie sind abgesetzt geschrieben und enthielten auf
jeder seite zwei columnen: bl. 2 enthält 30 Zeilen auf der spalte;
von bl. 1 ist ein stück oben abgerissen, so dass nur 26 zeilen
erhalten sind: merkwürdigerweise schliefst gleichwol sp. \c glatt
an sp. 1 b an und auch an sp. 1 b vermissen wir oben nur eine
zeile des textes! zwischen bl. 1 und 2 werden 16 blätter fehlen. —
EIN GÖTTOGER WIGALOISFRAGMENT 299
vom ersten blatt — jetzt verkehrterweise nach dem andern und
so eingeklebt, dass die zweite seile der ersten vorausgeht — ist
am obem und innern rande je ein stück weggerissen, so dass von
den ursprünglich auf diesem blatt enthaltenen vv. 201, 11 bis
204, 13 vollständig nur in der 2 sp. : 202, 7 — 33, in der 3 sp.
202, 39—203, 23 erhallen sind, auch 202, 6 und 202, 38 sind,
obwol etwas beschädigt, noch deutlich zu lesen, von den vv. der
1 sp. sind 201, 16 — 40 und 2<)2, 4 immer nur in ihrem letzten
teile erhalten, 201, 30 ist ganz verloren, 201, 23 bis auf wenige
striche, in der 4 sp. sind 203,29 — 204, 13 immer zum gröfsern ersten
teil erhalten, von 203, 28 nur wenige striche, das blatt ist an einer
stelle (202, 25. 26 und 203, 14 — 17) durch moder flecke verdorben,
2 löcher im pergament (202, 32 und 203, 22) sind vom Schreiber vor-
sichtig umgangen, die linienstriche sind, wie auch beim zweiten blatt,
nur noch undeutlich zu erkennen. « — bl. 2 ist am innern rande
beschnitten, von den versen, die es enthält, 252, 25 — 255,24 ist
die ganze 2 : 253, 15 — 254, 4 und 3 sp. : 254, 5 — 33 vollständig
erhalten, von 254, 34 ist das erste wort abgerissen, von den vss.
der 1 sp. : 252, 25 — 253, 14 sind infolge des beschneidens nur die
zweiten hälften, in der 4 sp. : 254, 35 — 255, 24 immerhin die
weitaus großem ersten vershälften, kürzere verse zuweilen ganz
erhalten (254, 35. 40 — 255, 17. 19). auch dies blatt hat zwei vom
sein eiber vermiedene löcher (253, 2 und 255, 12). die erste seite
ist stellenweise unleserlich (252. 25 — 30 besonders). — im ganzen
sind also von den 240 vv., die wir auf den beiden blättern erwarten,
16 ganz, 111 teilweise verloren gegangen, während 113 vollständig
erhalten sind, ich gebe nun unten einen genauen abdruck und
bemerke dazu folgendes : die schreibtechnik beider blätter ist die-
selbe, die zweiten Zeilen der reimpaare sind uneingerückt. jeder
vers fängt mit großem, rot gestrichnem buchstaben an, die ab-
schnitte werden zuweilen (202, 40. 254, 2), aber nicht immer
(204, 13) durch große rote initialen markiert, einmal ist ein a
(klein) mit tinte markiert, aber nicht ausgeführt (255, 7). die namen
sind immer klein geschrieben (201, 17. 31. 40-202, 15. 38
— 203,4. 5. 6—252,30. 31. 34—253,26. 30-254,25. 33.
37), nur ein einziger groß mit rot gestrichnem anfangsbuchstaben:
203, 3 LAPJE (sie), die abbreviaturen sowie die übrigen gra-
phischen lind vor allem die sprachlichen eigentümlichkeiten sind im
abdruck genau widergegeben, lediglich graphische bedentung hat
300 SCIIAAFFS
die Schreibung ü für u in der nachbarschaß von nasal : gebunden,
Wunsches, an verschiedenen stellen finden sich offenbare fehler,
icie 201, 33 : doas — 202, 21 schie — 253, 23 sichereil — 254,
IS volgel — 253, 30 wider.
bl. la
201, 15 burglor.
l'i vor.
vou alarie.
rii*.
sins hant.
20 sin laut.
alt gegeben.
leben.
e.
ere.
25 erheit.
g erslagen.
iche solte trage.
mendoue.
30
or doas.
or lange was.
eut gewesen.
e lie er in genesen.
35 n do er in vie.
orte hie.
ne tot.
hcit gebot.
getan.
40 ge ds graue adä.
202, 4 . . . • uf getan.
bl. lb
6 Do vant er de gesiude gar.
In iamerlicher rüwe.
Ir klage du was nüwe.
Vinb den wirt der da wc erslage.
10 0Tch müsen sü mit trüwe klage.
Die reine wirtinne.
Div gutes wibes miue.
EIN GÖTTWGER WIGALÖISFRAGMENT 301
Bracht vns an ir ende.
Ane missewende.
15 Lag ilü viöwe iaphite lot.
Des twang si gaucer trüwe not.
Vn hszeliche n.Ine.
Sele lip vn sinne.
Schie dii hszekit.
22 Wie wirt de yezelich geseit.
Sit ich sin nit gesagen kan.
Wa ist nü en wiser man.
25 Der mir den stril bescheide.
Starp si vö hszeleide.
De iiiüs vö hs/.eliel>e sin.
Dil gab ir hscen solchen pin.
Da vö ir schöner lip uMarp.
30 Ich wene si vö den beiden starp.
Anders ich mich nit usstan.
Solle ich dem strite nache gä.
So wurde ds rede licht ze uil.
bl. 1° 38 Genist vro iaphite wol.
Wan si was gancer trüwe uol.
HJe ist du auelur geholt.
Wa ist nü ds miue solt.
Des Wunsches amye.
Du schöne LARJE.
Hie lit ir frünt her wigoleis.
5 Den der milte hritoneis.
Der küng artus hat gesant.
Zer auentur de er de lant.
Solt erwsben vn die magt.
Owe de den nieman sagt.
10 Er lit hie leider ane craft.
Der mit rechter ritlsschaft.
Vn mit gancer manheit.
Als vns dii auenture seit.
Vil mangeu höhen pris gewan.
15 Er lag da als en toter man.
Ane craft vn ane sin.
Die iungvröweu halten in.
302 SCHAAFFS
Vö dem höpt eutwafenl gar.
Vn uame des uil rechte war.
20 Ob er lepti oder were tot.
Do waren im du hüfel rot.
Vn aller lebelieh getan.
23 Do wolten in erslage hau.
bl. ld 28 Ey
De ir diseni r
Sine lip nem
Der ritterlich
Die auenture
De ist en gröz
Wan er durch
35 Lip vn gut
Hatte uil nach
Nu nemet ed
Wa ein so gut
Wie mangen . . .
40 Lat mich in ne .
Ja wen ich de ie
Bezzer ritter d . .
Nu gebent sine
Vnz eren uslies
204, 5 Jo chan er wol.
Ritterlich den t
würd er vö w
Des lip ane mi
Sine zit geleb
10 VIT der mit siu
Den aller hochs
De wer en iemsl
IR mugent in
bl. 21 252, 25 enit (?) nicht.
bieten.
do rieten.
nie baz.
hsrre wissent de.
30 e seruie.
urchie.
EIN GÖTTLNGEIt VV1GAL01SFRAGMENT 303
I manig ntter yut.
in vil holden um!.
vn die kriechen.
35 .... maogeo siechen.
gewineu.
r vi! innen.
tnme vil.
.... ame des todes spil.
40 pris beiagen wil.
253, 1 sin geselleschaft.
. . . . r nu zwifelhaft.
reise wil besten.
asier nit ensten.
vn im geschieht.
ensumet üch nicht.
aweiu der degen.
des rechten enphlege.
het getan.
o
10 s nit geschaden kan.
o
e
gute ritterschaft.
ir trüwe kraft.
e erzeigen hie.
ekein küng nie.
bl. 2b 15 In disem lande so mange hell.
Dise ritter siut erweit.
Vs .mange küngriche.
Do lopt im geliche.
Helfe an der stünde.
20 Mit gemeine münde.
Die sin vn och die geste.
Dil sichseit wart veste.
Vbs den vngetrüwe man.
Der dis mort het getan.
25 Vü iu de laster het erbotten.
Hs wigoleis do sine botten
Mit dem garzün saute dar.
Vö im vn von den fürsten gar.
Wider bot er indie stat.
30 Lion dem fiirsten wids mat.
304
SCI1AAFFS
Mochte er nach sine schache get . . .
Sus schiet der botte vö im da.
Dem karzun wold er kleius gebe.
Do sprach er nein ich wil leben.
35 Mit hszeleide uns an die zit.
De gottes gerichte räche git.
Nach sine wsken vbs in.
Der mir vröde viT gewin.
Ane schulde genome hat.
40 Owe der grozen meintat.
254, 1 De si noch ungerochen stat.
Cus nam er urlop vö schiet d . .
Wider zv dem toten man.
Der dan noch uf dem uelde lag.
bl. 2C 5 Des got mit siner bäte phlag.
Vor uogeln vn vor hünden.
Sin ors de wc gebunden.
Vil uaste an eius linden ast.
Also gewafent lag ds gast.
10 Sin schilt wc ubs in geleit.
Nach des landes gewonheit.
De swert vnds sine höhte lag.
Dis wc der sibende tag.
De der helt wart erslagen.
15 Man sach in iemslichen clagen.
Zwene winde die bi im lagen.
Des heldes si da phlagen.
Vor uolgel vü vor wilde
Vngas uf dem geuilde.
20 Dolton si des hungers not.
Vns si da bi im lagent tot.
De ors vü sine winde.
Schatten gab im du linde.
Mit ir lobe de wc bereit.
25 Min viöwe liamere erleit.
Nach dem helde grozze pine.
Im waren die sinen.
254, 24 bereit vielleicht schon in breit gebessert.
EIN GÖTTINGER WIGALOISFRAGMENT 305
Gar geuangen vü erslagen.
De begonde si hszeklige clagen.
30 Mit wiplicher swere.
Ir wart der lip unmere.
De si ir trüt het u'loren
Do het abs lion si erchoren.
. . fründin siue lihe.
bl. 2d 35 Disem reine wibe.
Erslüg er ir liebe m . . . .
Mit eine sper vö ä
Ir »rozze schöne ga
Der iamer ir nach im g . . .
40 Vil pinliche swere.
255, 1 Swie schöne ir va . . .
Du erlasch nü gar n . . . .
Ir vröde ir so gar g
De si uit wau iamss ....
5 Beidü nacht vil la . . . .
Des libes si sich gar
a ls ir der trüwe ....
Ir schöne zoph
Die wäre lang ze r . . . .
10 Der rege vö ir öge
An die wägen vü . . . .
Der bitter t
De er zeigte si der ....
Si zarte vö ir den
15 Der vö golde gab 1 . . . .
Vü eine beltz herm ....
Vö ir schone übe.
Dem uil reine wib .
Wart vö hszeleide.
20 De si ir ogen weid .
Ane schulde stachen
Vö disem leide ir hsz . .
Da vö si och den lip . . .
Ir gäze sinne si och . . .
Göttingen, juni 1907. GEORG SCHAAFFS.
Z. F. D. A. XLIX. N. F. XXXVII. 20
WINILEODES.
In dem capitulare Karls d. Gr. vom 23 märz 789 findet
sich folgende bestimmung: De monasteriis minutis ubi nonnanes
sine regula sedent, volumus ut in unum locum congregatio fiat
regularis, et episcopus praevideat, nbi fieri possint. Et nulla
abbatissa foras monasterio exire non praesumat sine nostra ius-
sione nee sibi subditas facere permittat; et eamim claustra sint
bene firmata et judlatenns ibi winileodos scribere vel miltere
praesumant: et de pallore earum propter sanguinis minuationem
(Boretiiis i p. 63). ich glaube der bisherigen auffassung dieser
slelle getreu zu bleiben, wenn ich sie so übersetze: 'bezüglich
der kleinen klöster, wo die nonnen ohne regel leben, wollen
wir, dass eine regelrechte Vereinigung an einem platze stattfinde
und der bischof zusehe, wo das geschehen könne, und keine
äbtissin soll sich unterstehn, ohne unsern befehl das kloster zu
verlassen, noch es ihren untergebenen zu gestatten, und in ihren
klöstern soll strenge clausur gehalten werden, und in keiner
weise sollen sie sich dort unterfangen liebeslieder zu schreiben
oder zu schicken: der bleichsucht infolge von blutarmut (ader-
lass) wegen'.
Es findet sich zwar, soviel ich weifs, diese Übersetzung oder
eine andere nirgends, aber das was man aus dem texte herausgelesen
hat, fordert sie. von denen welche sich über die winileodi geäulsert
haben, will ich hier zweien das wort geben. Kögel schreibt in
seiner Geschichte der deutschen litteratur bis zum ausgange des
mittelalters (i s. 61 f): 'es sind erzählende lieder erotischen in-
halts, die man den nonnen vorzuenthalten für zweckmäfsig hielt . . .
da den nonnen verboten wird dergleichen zu schreiben (dh. wol
abzuschreiben oder aufzuschreiben) oder zu schicken, so müste
man schon die Verhältnisse des ausgebildeten minnedienstes, wo
in der tat die lieder zwischen den liebenden auf losen blättern
oder streifen hin- und herflogen, auf diese alte zeit übertragen,
wenn man die winiliod von einer eigentlichen liebeslyrik ver-
stehn wollte'. Kögel selbst tut das, denn in Pauls grundriss
schreibt er: 'ich halte es für zweifellos, dass unter den winileod
zunächst nur liebeslieder verstanden werden können: es wird
den nonnen verboten dergleichen zu schreiben oder zu schicken,
0
WINILEODES 307
auch vvol sich schicken zu lassen, und ihre bleichsucht wird
damit in Zusammenhang gebracht'.
Etwas vorsichtiger urteilt Kelle (Gesch. d. d. litt, i 78): 'ein
capitulare vom jähre 789 verordnete in can. 3, dass die nonnen,
deren leben, wie man aus den beschlossen der concilien sieht,
vielfach anstofs erregte, strenge clausur halten und sich nirgends
unterstehn sollten, winileodos zu verfassen oder zu versenden, in
glossen des 9 und lOjahrh. steht der ausdruck gleichbedeutend
mit rustigiu sanc, mit scofleod . . . winileod hatte also damals
entschieden die ganz allgemeine bedeutung: volkstümlicher welt-
licher gesang. später (bei Neid hart) wird das wort zur bezeich-
nung von liedern gebraucht, welche, wie es scheint, zum spiel
oder tanz gesungen wurden. zur zeit des capitulares muss
winileod aber ausschliefslich, oder speciell: liebeslied bedeutet
haben, das ergibt der Zusammenhang. ... die grundbedeutung des
ersten teiles scheint nämlich: geliebter, geliebte gewesen zu sein,
wie später hieng schon damals die ganze lyrik mit dem leben
zusammen, die liebesliedchen waren liebesbriefe, die, wie sie von
bestimmten personen ausgiengen, an bestimmte personen ge-
richtet waren', ähnlicher ansieht sind die meisten gelehrten,
während es allerdings auch nicht an solchen fehlt, welche den
begriff von winileod weiter gefasst haben, wenn und solange man
indes den ersten worlteil mit wini freund, geliebter zusammen-
stellt, werden diese einen schweren standpunet haben und be-
halten, eine ganz andre auffassung aber hat nach dem berichte in
der Zs. f. d. ph. bd 38 (1906) s. 123 auf der letzten Versammlung der
deutschen philologen und schulmänner in Hamburg Uhl vertreten,
indem er wini-leod als 'gemeinsames arbeitslied' erklärte und das
erste compositionsglied mit gewinnen zusammenstellt; es sei
kein Substantiv- sondern ein verbalstamm, wie er auch in rü-
geliet, twingeliet vorliege, ob diese deutung, die augenscheinlich
unter dem einfluss von ßüchers 'Arbeit und rhythmus' entstanden
ist, beifall finden wird, muss man abwarten, ich meinerseits
muss gestehn, dass mir das wini wenig kopfzerbrechen machen
würde, wenn ich die hergebrachte deutung von leodes oder leodos
für richtig halten könnte 1 gegen sie habe ich aber schwere
bedenken, die mir noch mehr ins gewicht zu fallen scheinen,
wenn mau den canon einer gründlichen prüfung auf seinen In-
halt hin unterzieht, von der 'bleichsucht' der fränkischen nonnen
20*
308 JOSTES
will ich nicht reden, auch nicht voü ihrer Ursache, die der grofse
Karl gegebenenfalls doch schwerlich dem schreihen und schicken
von liebesliedern zugeschrieben haben würde, sondern nur fragen:
traut man denu Karl eine derartig sonderbare Verfügung über-
haupt zu? und wenn schon, würde man hier nicht an erster
stelle das verbot des singen s von liebesliedern erwarten müssen?
und endlieh: müsle man nicht winileoda oder winileod stall
tcinileodes und winileodos erwarten, wenn es hier sich um lieder
handelte? lied ist doch von je ein neutrum gewesen! ich glaube
jeder, der das capitulare gelesen hat, wird die bisherige auf-
fassung gerne preisgeben, wenn sich eine andere auch nur als
möglich ergibt; und meines erachtens lässt sich in der tat eine
linden, die erheblich annehmbarer erscheinen dürfte, das will
ich zu zeigen versuchen.
Wer leodes oder leodos als den acc. plur. von leod auf-
fasst, geht über das schwere grammatische bedenken, welches
dabei das geschlecht des wortes bildet, leicht hinweg, wenn
überhaupt, würde das aber nur in dem falle als statthaft geduldet
werden können, dass eine andere erkläruug überhaupt gram-
matisch und logisch unmöglich wäre, nun sind aber leodos und
leodes durchaus richtig gebildete accusative von leodi (oder leudi)
und leodes = 'vasalli, subditi', und diese Wörter kommen (oft in
der Zusammenstellung mit fideles) in den Schriften der mero-
wingischen und karoliugischen zeit geradezu unzähliche male vor.
nur eine stelle aus dem sog. Fredegar möge hier angeführt
werden, weil sie ein zweites in uusre Untersuchung hinein-
spieleudes wort enthält1 : Rex Pippinus in qualtuor partes
comites suos, scaritos et leudibus suis2 ad persequendum Waio-
farium transmissit. die bedeutung des Wortes schillert etwas:
am treffendsten dürfte es sich im allgemeinen durch 'mannen'
widergeben lassen. dazu passt sehr gut das erste compo-
sitionsglied wini, von dem eine reihe von ableitungen usw.
sich im latein der fränkischen zeit finden, so xoinegiator3 , gui-
niator, guinitor, das Du Cange als 'judex viarum' seu qui
1 Script, rer. Merov. n cap. 135.
2 für leudes suos. die belege für das wort hat Krusch in den lexica
zu den einzelnen bänden der SS. rer. Merov. zusammengestellt.
3 das merovingische latein einmal generell auf seine deutschen besland-
teile hin zu untersuchen, wäre eine dankenswerte aufgäbe.
WINILEODES 309
itinerautium securitati invigilabal, atque adeo wiona-
gii exactor' erklärt, dementsprechend heifst wionagium, guio-
naghtm: 'praestatio a tenentihus facta pro tutela et pro-
tectione personarum'. wer mehr heispiele wünscht, möge
unter deu Stichwörtern (sowie unter guiare, guidare, missi dis-
currentes) bei Du Cange nachsehen, winileodi ist also eine ganz
natürliche Zusammensetzung, deren erstes glied die bedeutung
des zweiten ein wenig specialisiert: die winileodi sind schutz-
oder sicherhei tsman nen!
Kann aber dieses wort als object zu scribere und mütere
gedacht werden? zu mütere selbstverständlich, aber auch zu
scribere; denn dieses wort heifst bereits im classischen latein
nicht blos 'schreiben', sondern auch 'einschreiben', 'anwerben,
einstellen', und diese bedeutung hat es auch hier, es gibt das
altdeutsche scerian wider, das latinisiert scarire lautet, von dem
das oben bereits angeführte substant. pari, scaritus gebildet ist.
wenn Hildebrand zu seinem söhne sagt: dar man mih eo scerita
in folc sceotantero, so heifst das: 'wo man mich einstens als
bogenschützen eingestellt hatte'.
Karl verbietet also den nonnen, 'sicherheitsmannen' anzustellen
oder auszusenden, im folgenden interpungiere ich den text an-
ders als die herausgeber, indem ich vor et statt des doppelpunctes
ein komma setze und (was freilich nicht gerade nötig ist) nach
earum einen doppelpunct, also: et de pallore earum: propter
sanguinis minuationem lese, dass pallor 'bleichsucht' heifsen
kann, finde ich nicht, wol aber kann es 'furcht' bedeuten; und
da sanguis auch 'blutvergiefsen' heifst, so ist der sinn klar,
dass das latein nach wie vor barbarisch bleibt, ist nicht meine
schuld ; wer aber in den quellen der Merowingerzeit belesen ist
— uud in diese zeit scheint mir der von Karl wahrscheinlich nur
wider aufgefrischte canon zurückzugehn — wird sich daran nicht
stofsen. meine Übersetzung der ganzen stelle lautet demnach
folgendermafsen :
'Hinsichtlich der kleinen klöster, wo die nonnen ohne
regel (in einzelwohnungen) leben, wollen wir, dass ein gemein-
sames leben an einem platze eingerichtet werde, und der (zu-
ständige) bischof soll zusehen, wo das geschehen könne, und
keine äbtissin soll sich unterstehn ohne unsern befehl das kloster
zu verlassen oder ihren untergebenen es zu gestatten; und
310 JOSTES
ihre klöster sollen gut befestigt sein, und unter keiner
bedinguug sollen sie sich unterslehn dort schutzmannen an-
zunehmen oder auszusenden, seihst nicht ihrer furcht
wegen: zur Verminderung des blutvergiefsens' (verordnen wir das),
nach meiner auffassung haudelt es sich hier also um die Um-
wandlung der offenen klöster in geschlossene und befestigte, die
das halten einer bewaffneten schutzmannschaft überflüssigmachten,
ob diese auffassung ansprechender ist als die bisherige, mag
dem leser zu beurteilen überlassen bleiben, jedesfalls haben wir
hier kein palliativmittel vor uns, wie es das verbot, liebeslieder
zu schreiben oder zu schicken, zur minderung der sittenlosigkeit
in frauenklöstern immerhin gewesen wäre, selbst wenn es sich
aus der Verordnung herauslesen liefse. es fragt sich nur noch,
ob für das verbot in dem von mir angenommenen sinne die tat-
sächlichen Verhältnisse jener zeit einen anlass gaben, dafür
verweise ich auf folgende stelle in der Vita Columbani : Paratque
deinde (Brunichildis) insidias moliri : vicinus monastirii per nun-
tios imperat, ut nulli eorum extra monastirii terminos
iter pandatur, neqae receptacula monachis eius vel qnaelibet
subsidia tribuanlur1. die merowingischeu klöster besafsen also
würklich bewaffnete mannschaften zur gewährung freien geleiles;
dass sie auch zu anderen zwecken gehraucht und misbraucht
wurden, lehrt uns eiue erzählung Gregors von Tours : im jähre
589 entbrannte zwischen Chrodechilde, der tochter des königs
Charibert, und ihrer äbtissin eine heftige feindschaft, die dahin
führte, dass die mannen der beiden uonnen sich schlachten
lieferten; selbst nach schliefslicher aussöhnung war die fehde
noch nicht zu ende : Postea vero multi inter has scolas inimicitiae
ortae sunt; vel quis unquam tantas piagas tantasque strages vel
tanla mala verbis poterit explicare, ubi vix praeteriit dies
sine homicidio, hora sine iurgio vel momentum ali-
quod sine fletu?"1 solche zustände bestehn zu lassen, war
Karl nicht der mann; es ist aber leicht einzusehen, dass sie nur
dann dauernd beseitigt werden konnten, wenn die nonnen, que
in proprios domus resedent (wie es in dem edicie Chlotars vom
18 oct. 614 heifst), in feste klöster zusammengezogen wurden;
1 Script, rer. Alerov. iv s. 87 (über i cap. 19).
8 Script, rer. Merov. i s. 425 (über x cap. 15).
W1NILE0DES 311
anders konuteu sie bei den damaligen Verhältnissen der 'wini-
leodes' einfach nicht entraten.
Damit ist das, was ich über die wiuileodes zu sagen habe,
erledigt, es ist aber begreiflich, dass mich das ergebuis meiner
Untersuchung reizte, nun auch die so oft angeführten leodes des
Venautius Fortuuatus auf ihren Charakter hin zu prüfen, es ist
nicht überflüssig gewesen 1 ich führe hier die beiden stellen in
vollem umfange an, so wie sie in den Mon. Germ.1 abgedruckt
sind, die bemerkuugen dazu verdanke ich der liebeusvvürdigkeit
meines collegen Souneuburg.
Quid inier haec extensa viatica consulte dici potuerit, censor
ipse mensura, ubi nie non urguebat vel metus ex iudice vel pro-
babat usus ex lege nee iiwitabat favor ex comite nee emendabat
lector ex arte, ubi mihi tantundem valebat raueum gemere quod
cantare apud quos nihil disparat aut Stridor anseris aut canor
oloris, sola saepe bombicans barbaros leudos arpa reli-
dens; ut inier illos egomet non musicus poeta, sed muricus deroso
flore carminis poema non canerem sed garrirem, quo residentes
auditores inier acernea pocula salute bibentes Baccho iudice de-
baccharent.
'Fortunat entschuldigt die mangelhaftigkeit seiner gedichle
mit den umständen, unter deuen sie entstanden : alles, was in
seiner Umgebung sonst den dichter fordert, muste er hier ver-
missen (ubi nie ... arte), und die Umgebung, die er hier hatte,
besafs kein Verständnis (ubi mihi oloris). trotzdem schweigt
er nicht, sondern trägt, wie der schluss-satz zeigt, seine den
umständen angepassten lieder den zechenden vor, und dass er
so handelt (ut inter illos etc.), dazu veranlasst ihn, was in den
wurlen sola saepe .... relidens ausgedrückt ist. Sola saepe
bombicans arpa kann wol nur harfenspiel ohne text bedeuten;
würde nun barbaros leudos relidens, wie man annimmt, heifsen:
'barbarische lieder ertönen lassend', so wäre entweder mit leudos
auch nur 'musikalischer Vortrag' bezeichnet, so dass bombicans
und relidens parallel stünden und ein verbindendes et fehlte, oder
leudos bezeichnete eben text im gegensatz zur musik. ersteres
ist undenkbar, weil jedesfalls seine sonstigen gedichte (dh. texte)
in gegensatz gestellt werden zu denen, die seine zuhürer gewohnt
1 Auetor. antiquissimi iv p. 2 und ib. Carm. üb. vn 8, 61 ff.
312 JOSTES
sind und die ihrem geschmack oder vielmehr ungeschmack ent-
sprechen, und weil bei dieser auffassung die beiden participien
ganz in der lufl schweben und der gedanke weder an das vor-
hergehende noch an das folgende sich natürlich anschliefsen
würde; und letzteres scheint ausgeschlossen, weil dann ein gegen»
satz zwischen instrumentalmusik (sola bombicans arpa) und lieder-
texten (barbari leudi) vorläge, der doch irgendwie ausgedrückt
sein müste. fasst man aber leudi in der bedeutung 'mannen',
und relidere nicht in der für diese stelle besonders angenommenen,
sondern in der gewöhnlichen 'zurückstofsen', und nimmt man an,
dass die participien entsprechend dem fehlen einiger verbindungs-
partikel im Verhältnis der unter- und Überordnung stehn, so
ergibt sich mit der unbedenklichen ergänzung von est der ein-
fache sinn : 'wenn die harfe oft allein ertönt, stöfst sie die bar-
barischen mannen ab, so dass trotz der vorher angegebenen
mängel ich als verschlechterter poet mein lied herleierte, um
ihren beifall zu finden'.
Und nun die andere stelle:
Sed pro me reliqui laudes tibi reddere certent,
et qua quisque valet te prece voce sonet,
Romanusque lyra, plaudat tibi barbarus harpa,
Graecus Achilliaca, crotta Britanna canat.
Uli te fortem referant, hi iure potentem,
ille armis agilem praedicet, iste libris.
et quia rite regis quod pax et bella requirunt,
iudicis ille decus concinat, iste ducis.
nos tibi versiculos, dent barbara carmina leudos:
sie Variante tropo laus sonet una viro.
Hi celebrem memorent, Uli te lege sagacem:
ast ego te dulcem semper habebo, Lupe1.
'Würde hier leudos lieder bedeuten, so wäre es neben bar-
bara carmina unverständlich, da nun aber zum ersten gliede
des verses aus dem zweiten ein demus (oder damus) ergänzt
werden muss, so ist offenbar ein gegensatz gewollt zwischen
versiculi, dh. verseu classischer art, wie sie Fortunatus widmet,
und barbara carmina. dann aber muss im zweiten gliede ein
gegenstück vorhanden sein zu dem nos am anfang des verses,
1 Lupus war unter Sigebert herzog in der austrasischen Champagne
und ein freund Fortunats.
WINILEODES 313
dli. es muss gesagt sein, wer die barbara carmina spenden soll,
und dies ist der fall, wenn das letzte wort, das dann leudes zu
schreiben wäre, eben bedeutet : die mannen germanischen slamms;
so stimmt der vers genau mit vers 3 : Romannsque lyra, plaudat
tibi barbarus harpa'.
Wir werden demnach künftig in der lilteraturgeschichte
sowol auf die winileodes des karolingischen capitulares wie auf
die einfachen leodi des Fortunatus verzichten müssen, aber hat
es denn überhaupt keine 'winelieder' gegeben? zweifelsohne 1
doch ist das worl für die Karolingerzeil nicht belegt und damit
die sache nicht bezeugt, die späteren glossatoren haben bereits
die stelle des capitulars misverstanden, und wenn ihnen auch
das wort selbst bekannt gewesen sein mag, so beweist doch
schon ihre eigene Übersetzung, dass sie den begriff 'liebeslied'
damit nicht verbanden, ebensowenig wie esNeidhart getan hat. die
ursprüngliche bedeutung von wineliet erkennen wir vielleicht am
deutlichsten im friesischen, in den allgemeinen gesetzen des westerl.
Frieslands1 heifst es c. 22: Hweerso ma claget om een aeft dat
hit tobrüsen se, end ma hit riucht greta schil, soe schilma hit
aldus greta, dat dio frie Fresinne coem oen dis fria Fresa wald
mit hoernes hluud ende mit bura oenhlest, mit bakena brand ende
mit winna sang, ende hio breydelike sine besma op stoed, ende
op dae bedde herres lives netta mitte manne, ende an moerne op
stoed, to tzierka ging, kerkstal stoed, alter arade, da prester offa-
rade, ende dal aeft also bigingh, alsoe di fria Fresa mitter frie
Fresinne schulde.
Sonst finde ich das wort nur noch in 'Het Freeske rym',
einem werke, das Siebs und andere zwar nicht mit unrecht sehr
hart beurteilen, dessen urheber aber jenes wort doch noch ge-
kannt zu haben scheint:
To Ulracht in thine dorn
AI thet herscip him2 to ghins com
And habbad him blidelike ontfan:
Tha basuna dedense blian,
Tha clocka dedense hluda
End tha liacht tho gins him cruda
1 vRichthofen Friesische rechtsquellen s. 409.
2 SWillibrord.
314 . JOSTES WLMLEODES
End mit grata winnena(l) sang
Ont [engen hia him tha strata lang1.
Hier wie dort ist au einen erotischen cliarakter des 'winne-
liedes' nicht zu denkeu: der Zusammenhang fordert vielmehr die
bedeulung : 'jubel-, freudenlied', ursprünglich wol 'siegessang',
und diese bedeutung schliefst nicht einmal einen religiösen iuhalt,
noch auch eine fremdsprachliche form aus. wenn die glossen
das wort durch secularis cantilena, psalmus vulgaris, secularis,
ylebejus, canticum rusticum widergeben, so beweist das nichts
anderes, als dass der erste urheber das karolingische capitular vor
äugen gehabt, aber nicht verstanden und den sinn des wortes
an der stelle aus dem Zusammenhang zu erraten versucht hat.
1 Het Freske Rijm (Werken, uitgeven door het Friesch genootscliap
van geschied- oudheit- en taalkunde. Leeuwarden 1853) v. 1344 fl".
FRANZ JOSTES.
AISL. EDDA 'URGROSSMUTTER'.
EIN BEITRAG ZUR GESCHICHTE VON URGERM. AI.
Augenscheinlich hängt aisl. edda 'urgrofsmutter' zusammen
mit aisl. eida, got. aipei 'mutier' (Noreen Au. gramm. l 95. 153;
anders Kluge Stammbildung 22); die laulform begreift sich aus
*aißifiön. aber diese ableitung ist keine erkläruug; *aipipön ist
so dunkel wie edda. das formans -ipa kann nicht darin stecken,
denn die T^a-bilduugen sind von haus aus stark, und überdies
würde es der vorauszusetzenden funclion des sufüxes an jeglicher
aualogie fehlen : *aipipa könnte nur 'mutlerschafl' oder 'mütter-
lichkeil' oder 'Versetzung in den zustand der mutterschaft' be-
deuten, niemals 'urgrofsmutter' (vgl. die beispiele JGrimms Gr. n
242 ff), hat also das wort jemals *aipipdn gelautet, so kann es
nicht durch eindringen des formans -ipa entstanden sein; die
lautliche gleichheit mit diesem muss secundär sein, wir erklären
laulform und bedeutung gleichmäfsig, wenn wir von einem com-
positum *aip-aipön 'mutler-mutter' ausgehn. der sinn dieser
bildung war ursprünglich etwa 'mutier v.ut' iioyvrjv, mutler aller
mutier' (wie 'buch der buchet'), dh. sie bezeichnete die älteste
frau der familie, die stamm-multer. diese bedeutung stand nicht
NECKEL A1SL. EDDA 'URGROSSMUTTER' 315
im wege, dass *aipaipön sich vou seinem grundworl lautlich
isolierte, es wurde üher *aipipön zu edda.
Eine solche entwickhing hätte m. e. für lautgesetzlich zu
gelten, und zwar hauptsächlich wegen der Verhältnisse in der
sog. vierten schwachen verhalclasse. mau hat formen wie hafbi,
hafat bisher falsch heurteilt. sie sind mit den got. tri-bildungen
habaida usw. hmt für laut identisch, es ist schon au sich be-
denklich, hier durchweg von 'bindevocallosen' formen auszugehn,
wie man seit Sievers Beitr. 8, 90 ff allgemein zu tun scheint,
bei dieser hypothese bleiben die parlicipia wie lifat, hafat, sagadr
(EJönsson Skjaldesprog 109), aschw. saghaper u. dgl. unerklärt.
Pauls annähme (Beitr. 7, 145), dass hier ueubildungen vorliegen,
stufst auf die ernstesten Schwierigkeiten, das Vorbild konnte nur
die ö-classe hergegeben haben, aber diese ligt sehr fern, sie ist,
soweit wir sehen können, ohne jeden einfluss auf die flexion
unsrer gruppe geblieben, viel näher ligt die /a-classe. wie eine
ganze reihe von präsentien zwischen der ai- und /a-flexion
schwankt (Noreen i 321), so zweifle ich nicht, dass auch die
kurzen parlicipia wie haftir, sagbr dieser analogie ihr dasein
verdanken, gegenüber Paul muss betont werden, dass zwar hafa
und segja zu den häufigst gebrauchten verben gehören, dass aber
von allen ihren Stammformen das part. prät. die seltenste ist.
je häufiger präsens und präteritum waren, um so leichter konnten
diese von der ja-classe groslenteils nicht zu unterscheidenden
lempora das participium nach sich ziehen, (dasselbe ist bei
lujggja der fall gewesen : hugür neben hugat in der alt aussehndeu
redensart hugat mcßla.) die somit für lautgesetzlich zu haltenden
participialformen mit a entsprechen genau den got. auf -ai/js;
ai ist über 3 zu a geworden, wahrscheinlich unter denselben
Bedingungen wie in 'Olafr, Hröarr. Lifat verhält sich aber zu
lißa nicht anders als taliftr zu talüa; vor langer silbe wurde
ai > e > i (wie in endsilben : imper. lifi = got. libai) und
schließlich syncopiert.
Beweisend sind vor allem prälerita wie mürifti 'gedachte'
und unüi 'war zufrieden', sie können uicht auf bindevocallose
formen zurückgehn (AKock Beitr. 18, 4461) wie etwa mundi
'wurde1 = got. munda, unni 'liebte' << *unttpe. Noreens hülls-
couslruclion eines urnord. *munföe (Grundr. i2 635) schwebt
aber angesichts des got. munaida völlig in der luft. ganz ahn-
316 NECKEL
lieh verhält es sieh mit vakpi gegeniiher den sicher biodevocal-
losen sötti, pötti, orti, ae. weahle, genahte (Sievers Beitr. 5, 100.
Ags. gramm. 256). solauge keine tatsachen dagegen sprechen —
und solche scheint es in der tat nicht zu geben — , sind wir
gezwungen, munfti = munaida , utibi = *u>unaida (ahd. woneta,
vgl. got. unwunands) usw. zu setzen und zu schliefsen, dass
ai in mitlelsilben vor langer ultima im nordischen syn-
kopiert wird.
Vsp. 22, 4 begegnet ein nicht befriedigend erklärtes Prä-
teritum vitti in dem halbvers vitti hon ganda. die stelle wird
alsbald klar, wenn wir vitti zu got. witan 'auf etw. sehen, beob-
achten' stellen und auf *uitaiüe zurückführen, die zauberin tut
dasselbe, was die Hymiskvida von den göttern berichtet : hristu
teina ok d hlaut sdu. gandr 'stab' hat also hier die specielle
bedeutung 'runenstab'. — die form vitti ist sicher schon früh
verdunkelt gewesen. aber auch in dem gebrauch des ver-
bums vita 'wissen' zeigen sich spuren des einst lebendigen
schwachen vita. Alv. 8 hefik . . . vitat vetna hvat bedeutet
'alles habe ich gesehen', ähnlich in der Vojundarkvicta : vissi
ser ä hpndum hofgar naufiir ('bemerkte'). Egilsson 880 führt
an : vissu hjpltin nibr ('wies', im sinne von 'speetabat' mit
richtungsadverbium; got. witan übersetzt auch öoäv). weil in
manchen formen beide verben zusammenfielen, sind sie vermischt
worden.
Die abstraeta hgfn, sogn, pggn, tign, die zu verben der ai-
classe gehören, stehn in dringendem verdacht, die got. bildungen
ßulains, libains zu reflectieren, also hpfn aus *haiainö (ae. heefen).
ebenso lausn, vorn = got. lauseins, *wareins (vBahder Verbal-
abstraeta 84, vgl. Noreen i § 148 a. 1). dagegen ist ursprüng-
liches 5 als a bewahrt in der sehr produetiven classe, zu der an.
laftan (Igüun? Fritzner n 391), got. lapöns gehört, ganz ent-
sprechend den präteritis der ö-classe. es gab urgerm. auch
m'-bildungen ohne mittelvocal, zb. got. sökns. wie Kluge Stamm-
bildung § 147 sehr richtig bemerkt, liefert allein das got. sichere
belege, spärlich wie diese sind, können sie doch die Vermutung
stützen, dass fehlen des mittelvocals bei n- und ^-ableitungen,
bei abstractum und präteritum zusammenging, man vergleiche
nicht nur sökns mit urgerm. *söhte, sondern auch got. siuns, an.
sjön, syn mit ae. gesiehü und mhd. siht. zu urgerm. *haiJai<Se
AISL. EDDA 'URGROSSMUTTER' 317
gehörte demnach nicht ein *hatni, sondern ein *hatjaini. doch
hleibt dies natürlich Vermutung.
Nunmehr bedarf auch die zurückführung von blindrar,
blindri, blindra auf *blindiRöR usw. gegenüber got. blindaizos usw.
einer revision. Sievers hat Beilr. 2, 110, gestützt auf das ai.,
als urgerm. erschlossen : gen. dat. sg. fem. *blindizüs, blindizai,
gen. pl. masc. ntr. blindaize , fem. blindaizö. das got. hat den
diphthong auch in den gen. sg. eingeführt (blindaizos). ebenso
haben nach Sievers die andern dialecte das i verallgemeinert,
letztere auffassung erregt aber bedenken, das e der as. und ahd.
formen (ahd. blinlera, -u, -6) verträgt sich besser mit got. ai
als mit i : dieses hätte bei dem starken übergewicht der lang-
und mehrsilbigen stamme auch im continentalgermanischen syn-
kopiert werden müssen1, andererseits spricht nichts dagegen,
dass e <1 ai in mittelsilben wie im absoluten auslaut (ahd.
blinte <C blindai) gekürzt wurde; verbalformen wie ahd. lebeta
können sich nach den zweisilbigen typen lebet, leben (= got.
libains) gerichtet haben, sicher war auch das kurze e von blin-
tera usw. eng associiert mit den kurzvocalischen formen des
artikels (dera usw.), ebenso wie blintem mit dem. vielleicht sind
diese associationen bei der kürzung des e von blintera winksam
gewesen; lautgesetz und analogie fliefsen hier, wie so oft, in-
einander, was das nordische betrillt, so spricht hier das fehlen
des t-umlauts, der bei vielen lang- und kurzsilbigen adjectiven
zu erwarten wäre, gegen i. allerdings kann ausgleichung im
spiele sein, und die pronominalformen hennar, henni lassen
sich nur aus *häniR~öR, *häniRe ableiten, sie bezeugen das i
aber nur für den sing., in dem es schon vorgerm. zu hause war.
ein sichereres Zeugnis haben wir für ai im gen. plur. , nämlich
den nom. plur. blindir <1 *blindaiR. das secundäre r dieses
casus leitet man heute wol durchweg aus der 'allgemeinen
nominalivendung des plurals der substantiva' (Sievers Beitr. 2, 114)
her. aber das ist weit entfernt, überzeugend zu sein, sämtliche
nominalclassen weisen, neben blindir gehalten, weit gröfsere Ver-
schiedenheit als ähnlichkeit auf; einen substantivischen nom. plur.
auf urnord. -aiR gibt es nicht, wir verstehn *blindaiR ohne
1 einmal as. mahligro, Sievers Beitr. 5, 83. das ahd. allein beweist
hier übrigens nichts; Notker hat noch abstracta wie bemeineda mit als e
bewahrtem ?, vgl. Sievers aao. 89 ff.
31 S NECKEL
weiteres, wenn wir von einem alten paradigma blindai —
HlindaiRe (*blindaiRö) — blindaim ausgehe (vgl. ai. sdrve, sdr-
veshdm, sdrvebhyas). das R ist in den nom. gedrungen, wie um-
gekehrt in fallen wie erlr, ertra in den gen. dabei werden
allerdings die substantivischen nom. pl. mitgewirkt haben, und
zwar durch Vermittlung des Femininums *blindöR; aber sie allein
hatten ein -aiR nicht herbeiführen können.
Halten wir daran fest, dass die westgerm. formen auf ai,
nicht auf i weisen — das ae. kann wie das nord. synkopiert
haben (vgl. Sievers Beitr. 5, 74) — so erhalten wir ein urgerm.
paradigma mit ai in allen hierher gehörigen formen, ein solches
paradigma ist an sich wahrscheinlich, der plural hatte von an-
fang an die besten aussiebten, vorbildlich zu werden, denn nur
hier greifen die anformen auch in das masc. und ntr. hinüber:
blindaize, blindaizö, blindaim waren sicher bei weitem häufiger
als *blindizös, *blindizai. dieselbe entwicklung zeigt das pro-
nomen : an. peirar, peiri, ae. paire nach peira, pdra. durch-
gehnde ae-formen setzt auch das got. voraus, mau begreift näm-
lich die rückkehr des got. dativs blindai zur nominalflexion kaum,
wenn man die Vorstufe *blindizai annimmt, letztere form hätte
mit gibai , maujai, anstai in ebenso gutem einklang gestanden
wie *blindizös, blindaizös mit gibös, maujds. und doch soll nur
der gen. seine längere, vom nom. abweichende form bewahrt
haben, während der dat. den nomina vollends angeglichen wurde,
denken wir uns dagegen ein *blindaizai , so enthielt diese Form
das charakteristische dativ-ai' zweimal, und es konnte durch
eine art haplologie Verkürzung zu blindai eintreten. — der von
Sievers Beitr. 2, 111 als analogon angeführte dat. plur. an. ae.
as. blindum verlangt eine besondere beurteilung. im nord. wurde
blindaim (*blindaimiz) zu *blindim und trat dadurch in parallele
mit den /-stammen (got. gastim). als der dat. plur. der «'-stamme
der analogie der consonantischen und andrer flexionen unterlag
(gestumR, torumR auf dem vermutlich um 700 zu setzenden stein
von Stentofta), bekamen auch die adjeetiva die endung -um.
der nominale dat, plur. der nordischen adjeetiva beruht also auf
lautlichem zusammenfall mit einer nominalen endung, und ähn-
liches darf mit Wahrscheinlichkeit auch für das ae. und as. ver-
mutet werden, wo es jedoch, so viel ich sehe, an directen
anhaltspuncten fehlt.
AISL. EDDA 'URGROSSMUTTER' 319
Setzen wir also für das urgerm. starke adjectivum durch-
geh öden ersatz des mittleren i durch ai an, so stell t nicht blofs
an. bh'ndra, sondern auch blindrar, blindri weitere fälle der
synkope des ai dar. bei mehrsilbigen formen wie mikillar ligt
wahrscheinlich nicht rein lautgesetzliche entwicklung vor —
diese hätte «loch wol *miklirar ergehen — sondern es ist die
proportion heil : heillar = mikil : x im spiele gewesen. die iso-
lierten singularformen urn. *häniäöR, *häniRe erscheinen als ein
letzter rest des ursprünglichen, sie waren vor dem eintluss des
plurals durch die Stammverschiedenheit geschützt (aisl. hön .' peer,
hennar : peira).
Es wurde oben angenommen, dass mittleres ai vor kurzer
ultima nordisch zu a wird : daher sagaür «<. *sagaipall. aber im
aschwed. stehn neben saghaper, havaper parlicipia wie doghit,
und got. arbaips erscheint als aisl. erfvSi, aschwed. wrvipi (da-
neben anorw. cerfaüe, aschwed. cervadhe und andre formen),
hier ist also älteres ai bald durch a bald durch i vertreten, es
ist geboten, nach einer gemeinsamen erklärung für alle falle
dieser art zu suchen, beginnen wir mit erfifti. gehn wir von
einem nom. acc. sing, mit synkopiertem i aus, wie die formen
im got. und somit aller Wahrscheinlichkeit nach auch im urnord.
einmal lauteten, so erhalten wir isl. *arfiü(r) wie 2 plur. lifift =
got. libaip. der gen. got. arbaidais und die andern casus mit
langvocalischen endungen ergaben *arfüis usw.; der umlaut
stammt wol aus dem nom. plur. got. arbaideis > *arßis ^>
erßir, wäre übrigens ohne die synkope des ai schwerlich ein-
getreten (das aschwed. kennt auch formen mit ar~). aus den
formen mit und ohne synkope entstand durch contamination der
nom. acc. erftüi nebst der /a-flexion. an sich hätten der gen.
und dat. leichter zu *<?r/ö« führen können, aber der teilweise
zusammenfall der synkopierten casus mit denen von er/3 'be-
erbung' halte zur folge, dass die formen mit bewahrtem vocal
obsiegten, wenn gleichwol die endungen -is, -i ausschlaggebend
wurden, indem sie das wort in die /a-flexion hinüberleiteteu, so
ist der grund jedesfalls der, dass man es als compositum empfand;
schon urgerm. hat sich bekanntlich der typus der zusammen-
bildungen mit -Ja festgesetzt, die a- formen entstanden bei kurz-
vocalischer endung : got. arbaidim, arbeidins. — eine stütze für
die vorgetragene auffassung liefert das wort erfiüi somit nicht.
320 NECKEL AISL. EDDA 'URGROSSMUTTEFV
man kommt hier eben ohne annähme von contaminationen nicht
durch, doch denk ich so viel annehmbar gemacht zu haben,
dass das wort sich der theorie fügt.
Ein interessantes gegenstück zu erfibi bildet das wort ertr
*erbsen' (gen. plur. ertra mit secundär stammhaft gewordenem r).
es kann nicht als bekräfligung dafür dienen, dass as. erit, mhd.
erwiz eine alte ablautform neben ahd. araweiz (arawiz) dar-
stelle (so Noreen Urgerm. lautl. 92), sondern erlaubt herleitung
aus einer grundform *arbait-. der umlaut ist die folge des
Übertritts in die analogie von mgrk, merkr.
Ganz entsprechend wie bei erfvbi müssen wir uns die Vor-
gänge denken, die zu dem adj. erfvSr 'beschwerlich' und den
partic. wie doghit geführt haben, auch hier hat der diphthong
ai schon urnord. in gewissen casus in der ultima gestanden
und ist dann zu i geworden, so im nom. sing. masc. (got.
*dugaips) und besonders ntr. , soweit nämlich letztere form
nominal gebildet wurde, und dies war höchst bemerkenswerter-
weise gerade im ostnord. verhältnismäfsig häufig der fall, zumal
bei participieu (Noreen n 344). wenn im westnord. die parti-
cipia dugat, unat usw. lauten, so hängt das damit zusammen,
dass hier der typus blindata den kürzeren typus blind so gut
wie vollständig verdrängt hat; dugat beruht auf einer *gruudform
*dugaipata, die urnord. noch dreisilbig war, als ursprüngliches
*dugaipam längst auf zwei silben reduciert war. die Wichtigkeit
dieses Unterschiedes erhellt daraus, dass die verben, um die es
sich hier handelt, überwiegend intransitiva sind und das part.
prät. fast ausschliefslich in neutraler form gebrauchen, anders
hgt die sache natürlich bei erfibr, wo auch mit dem einfluss
des substantivums erfifti zu rechnen ist. aschwed. doghit, livit
stehn analogisch für *doghip, *Hvit nach livat udgl., man ver-
gleiche sagp.
In mehreren casus hätte lautgesetzlich synkope eintreten
müssen, doch ist diese theoretische nolwendigkeit wol sicher
ohne praktische folgen geblieben, weil diese casus eben kaum
vorkamen, höchstens das fem. (spgft für *sagfi) mag bei einigen
verben eine rolle gespielt haben, i. a. beruht die synkope in
den participien der a?-classe, wie oben hervorgehoben, auf dem
muster des Präteritums.
Breslau, 5. october 1906. G. NECKEL.
HANDGEMAL UND SCHWURBRUDERSCHAFT.
1 CAP1TEL. DIE LITTERATUR.
Der mittelalterliche Zeichner, der zu ende des 12 jh.s den
prächtigen codex des grafen Sihoto vFalkensiein mit illustrationen
versah, inalte neben dem capitel 'de cyrografo' auf fol. 2a an den
rand eine offene, flache band, die nach dem texte hinweist, in
dieser Zeichnung finden wir den ersten, schüchternen versuch,
das Jahrhunderte hindurch viel umstrittene wort hantgemahele
wenigstens nach seinem ersten bestandteil etymologisch zu erklären.
Im zweiten viertel des 14 jh.s tritt ein zweiter interpret auf,
Johann vBuch, der glossator des Sachsenspiegels, der zu III 26
hemerkt : hantmal dat is dat gerkhte, dar he schepen tu is eder
wesen scholde .... unde het darumme syn hantgemal, dat he eder
syne olderen met der hant up dy hilgen tu deme rechte gesworeti
hebben unde dat sy des noch mal hebben, dat is warteiken, an
deine stule, dar sy up hir mede schepen sin. — ihm folgen die
glosseu zum Weichbildrecht (14 jh., ed. Zobel, 1589, hl. Lxvba)
und zum niederländischen Sachsenspiegel (15 jh.) in wörtlicher
Übereinstimmung.
Als die deutschen gelehrten vom 16 jh. ab sich wider dem
Studium des Sachsenspiegels widmeten, suchten sie auch den be-
griff des haudgemals festzulegen und etymologisch zu erklären,
wobei sie meist auf die alte glosse zurückgriffen. Christoph
Zobel, der herausgeber des Sachsenspiegels (1535 und 1537),
übersetzte im glossar : forum competens unius cuiusque, und er-
klarte es von der schwörenden hand und vom mahl = Gerichts-
stand, seine auffassung teilten JGWachter (Glossar. German.,
1737, s. v. mahl), ChrGHaltaus (Glossar. Germanic. medii aevi,
1758, s. v. handyemal) und Scherz-Oberlin (Glossar. Germanic. med.
aevi, bd i, 1781, s. v. handgemahl). demgegenüber hatten Schilter-
Scherz im Thesaurus aut. Teut. (bd in, glossar, 1728) das wort mal
dem alten mallus, gerichtsplatz, gleichgesetzt und die hand als die
gewaltige, mächtige, erklärt, sie übersetzten also : 'mallus juris-
diclionis, de jure et sede scabinali'. ihnen folgte nur ChrUGrupen
Deutsche altert, d. sächs. u. schwäb. land- u. lehnr., 1746, p. 91sqq.
Diese beiden etymologieen, die -mal entweder mit dem ahd.
mal 'zeichen' oder dem lat.-fränk. mallus 'gericht' zusammen-
brachten, waren es bis in die mitte des 19 jh.s allein, die den
Z. F. D. A. XLIX. i\. F. XXXVII. 21
322 SCHÖNHOFF
begriff des handgemals erklären sollten, indessen fügte Andreas
Schmeller zu der bisher allein bekannten Sachsenspiegel-steile
im jähre 1828 (Bayerisches Wörterbuch u s. 560 f) noch zwei
stellen aus den Monumenta Boica vu 434 (codex Falkensteiueusis)
und xiv 361 (Rihni), sowie aus dem damals noch ungedruckten
Windberger psalter : hantgemahele, testamentum, und im jähre 1840
(Glossar zum Heliand) die drei stellen der altsächsischen bibel-
dichtung und eine glosse aus einem codex Emmeram. : hant-
gemehele, mundiburdium. im Glossar zum Heliand (s. 74 s. v.
mahal) übernahm er Zobels alte Übersetzung 'forum competens'
aus dem Sachsenspiegel auch für den Heliand1. — 1849 u. folg.
wurden durch Mafsmanns und Diemers gleichzeitige ausgaben
der Kaiserchronik, 1849 durch Diemers ausgäbe der Vorauer
Genesis (in den Deutschen gedienten des 11 und 12 jh.s) neue
Zeugnisse für die weitere Verbreitung des handgemals bekannt.
JosDiemer aao. (anm. s. 10 zu z. 3) erklärte das hantgemahele
der Genesis als handmahl, versprechen, vom got. meljan, scri-
bere, während Schmeller aao. das wort entschieden zum ahd.
mahal 'concio, pactio' zog. nachdem endlich Chabert in den
Denkschriften der Wiener akademie 1852, bd. 4, s. 4 noch das
vorkommen des handgemals aus Kleimayrns Nachrichten der
gegenden und Stadt Juvavia (Salzburg 1784, dipl. anh. s. 145 —
146. 155 — 156. 175 — 176; ohne das wort selbst 194) nachgewiesen
hatte, stellte im selben jähre 1852 der Jurist GHomeyer in der
classischen schritt 'Über die heimat nach altdeutschem recht,
insbesondere über das hantgemal' (Berlin 1852; Sonderdruck
aus den Abhandlungen der Berliner akademie, phil.-hist. cl.,
s. 17 — 104) die bedeutung dieses interessanten rechtsinstitutes aus
den verschiedenen quellen fest — ohne' rücksicht auf die mannig-
fachen namensformen, zu den schon bekannten stellen fügte er
noch s. 56 die beiden extravaganten der Lex Salica hinzu (zu-
erst gedruckt 1846, dann in Merkels Lex Salica 1850), sowie
Parzival 6, 19. bekanntlich sieht er als ausgangspuncl des hand-
gemals ein handzeichen des freien besitzers an, das an dem grund-
eigen haftet (hausmarke) und seinem herru die freiheit garantiert.
Homeyers darstellung des tatbestandes ist (aufser für den
Sachsenspiegel) mit einigen modificationen bis auf den heutigen
1 diese Übersetzung bietet nach ihm OSchade Altdeutsches Wörter-
buch s. v. handmahal.
HANDGEMAL UND SCHWUBBBUDERSCHAFT 323
tag als endgültig angesehen worden; auch gegen seine sprach-
liche herleitung hat man von Seiten der deutschen Sprachwissenschaft
last keine einwendungen erhoben, obgleich schon im jähre 1856
Gustav Eschmanu (f 1906 als Oberlehrer a. d. in Bürgst ein fürt)
in der 6 these hinter seiner Bonner disserlation * behauptete : 'quam
Homeyerus statuerit vocis handgemal interpretationein cum forma
saxouica handmahal aut mesotheotisca hantgemahele nequaquam
convenire'. Eschmanns einwand blieb aber weiteren kreisen un-
bekannt, und nur gegen Homeyers theorie über das handgemal
im Sachsenspiegel traten nach mehr als 30 jähren Zallinger, Wittich
und Heck mit neuen hypothesen auf. inzwischen hatte GWaitz
(Deutsche verf.-gesch. bd iv [1861] s. 282, 1) die stelle Juvavia
194 (partem unam pro libertate tuenda), die Chabert bereits an-
geführt, llomeyer aber übergangen hatte, von neuem ans licht
gezogen, und JStrnadt (Reuerbach [1868] s. 43) noch aus einem
urbar von 1608 ein handtgemähl nachgewiesen (angeführt bei
Sigmund Adler Zur rechtsgesch. des adeligen grundbes. in Öster-
reich [Leipzig 1902] s. 12 fufsn. 2). 1870 meinte Waitz in den
Urkunden zur deulschen Verfassungsgeschichte (s. 39 — 45, später
in der Verf.-gesch. v, 2 auf). [1893] s. 509—515) das handgemal
in einer reihe von deutschen urkundlichen quellen widerzufinden,
wo aber meist nur von freiem stammgut die rede ist; mit Sicher-
heit wenigstens kann keine der dort angeführten stellen auf das
handgemal bezogen werden, zu dem anthmallus der Lex Salica
brachte eine neue erklärung 1871 RudSohm Altdeutsche reichs-
und gerichts- Verfassung i 316 ff. auch Zöpfl in der recen-
sion von Homeyers Haus- und hofmarkeu (Rerlin 1870), in den
Heidelberger Jahrbüchern 64, 161 ff (janre- 1871), lieferte zum
anthmallus (s. 179 ff) wie zum Sachsenspiegel (s. 175 ff) mehr-
fache anregungen; nach Waitz (Verf.-gesch. iv) machte er s. 174
von neuem auf das handgemal des Luidolf (Juvavia s. 194) auf-
merksam (auch Quilzmann Oberbayer, archiv 32 bd 1873, s. 118
und Stobbe Zs. f. deutsche rgesch. 15, 329). 1880 folgte die
authentische ausgäbe des codex Falkenstein, durch Hans Petz
(Drei bayr. traditionsbücher aus dem 12 jh., München, i), die end-
lich die la. hantgemalehe feststellte; die Mon. Boica hatten hant-
gemalchen gelesen, was schon Schmeller (aao.) in hantgemahele
hatte bessern wollen, ein neues handgemal wollte 1885 AHeusler
1 Ad linguae Germanicae historiam symbolae.
21*
324 SCHÖNHOFF
Institutionen des deutschen privat rechts i 232 u. 17 in dem
gemeinsamen besitz des Scheyrischen geschlechtes erblicken,
der bürg Scheyern, die 1119 dem Benedictinerorden als kloster
eingeräumt wurde. HGGengler Beiträge zur rechtsgeschichte
Bayerns, 1 heft (Erl. u. Lpz. 1889) s. 135 ff nahm diese Ver-
mutung auf und suchte die hypothese weiter auszubauen, neuere
lorscher sind dann auf dies interessante capitel anscheinend nicht
zurückgekommen, dagegen wies ALuschin vEbengreuth Öster-
reichische reichsgeschichte (Bamberg 1896) s. 79, 30, zum letzten
male auf das handgemal des Luidolf hin, und 1899 machte Ernst
Mayer Deutsche und franz. verfassuugsgesch. vom 9 bis zum
14 jh., bd 1 s. 47, 139 aus einem oberbairischen urbar um
1280 (Mon. boica xxxvi 1, s. 135 0) ein hantgemahil in Argolt-
zingen namhaft.
Besonders durch OvZallingerDie schöffenbarfreien des Sachsen-
spiegels (Innsbruck 1887) und PhHeck Der Sachsenspiegel und
die stände der freien (Halle 1905; über das handgemal s. 500 — 515)
wurde die frage nach dem stände der schöffenbarfreien und der
bedeutung des handgemals im Sachsenspiegel wider in fluss ge-
bracht, bis durch die beiden publicationen von WWittich und
PhHeck in Belows Vierteljahrschr. für social- und Wirtschafts-
geschichte ! ein vorläufiger stillstaud eingetreten ist, da beide
entgegengesetzte theorieen vertreten : Wittich setzt an stelle von
Homeyers ständischem geschlechtsgut das ständische einzelgut,
Heck das historische stammgut. durch diese discussion angeregt,
erschien dann ende 1906 in dem Archiv für culturgeschichte bd 4,
s. 393 — 402 die abhaudlung von Aloys Meister Zur deutung
des hantgemal, die, freilich unvollständig, ähnlich wie Homeyer
das inzwischen erweiterte material zusammenstellt und handmahal
und hantgemdl wider vom ahd. mal 'zeichen' trennt.
2 CAPITEL. DAS SPRACHLICHE.
Übersicht über die sprachlichen formen für handgemal2.
A. anthmallus.
i. Zwei extravaganten zur Lex Salica (Karl, rechlsbuch
C) im codex 33 des domcapitels von Ivrea. — 9 jh.
(Amedeo Peyron in Memorie della R. accademia
1 bd 4, s. 1 — 127 : Witticli Allfreiheit und dienstbarkeit des uradels
in Niedersachsen (auch als buch erschienen); ebda s. 356 — 364 : PhHeck
Die neue hantgemallheorie Wittichs. 2 * fehlt bei Homeyer, f bei Meister.
HANDGEMAL UND SCIIVVURBRUDERSCHAFT 325
delle scienze di Torino, 1846, p. 129 IT. JohMerkel
Lex Salica, 1850, s. 99 IT. JFrBehrend, Lex Salica,
2 aufl. von RBehrend, 1897, s. 165 ff).
B. handmahal, — gemdl (mudd.); — gimahili, — gemdhel(e).
a. Niederdeutsch.
n. Heliand v. 346 Mon. Colt. 360 Mon. 4127 Mon. Cott.:
handmahal. — 9 jh.
in. Sachsenspiegel i 51 § 4. m 26 § 2 (und glosse);
29 § 1 (u. gl.) : hantgemal, GL auch hantmal. —
13 jh. darnach:
•fina. Spiegel deutscher leute 1, 243 (ed. Ficker s. 129)
= Ssp. in 29 § 1 : hant gemal. — mitte des 13 jh.s.
tmb. Distinctionen iv 23 dist. 16 (ed. Ortloff s. 231) =
Ssp. i 51 § 4: hantgemal. — 14 jh.
-j-inc. Weichbild art. 33 (ed. Zobel bl. Lxva2) = Ssp. m
29 § 1 (und glosse) : handmal. — 14 jh.
find. Niederl. Sassenspiegel i 89, 159 (und glosse) =
Ssp. m 26 § 2; i 89, 160 = Ssp. m 29 § 1 : hant-
ghemael. — 15 jh.
ß. Hochdeutsch.
iv. Juvavia 155: hantkimahili (1. hantkimahili). — Gagan-
hard, 925.
v. Juvavia 175: hantkimahili. — Odalhard, 935.
weiterhin mit bewahrung des a:
vi. Mon. Boica vn 434; Cod. Falkenstein, fol. 2 a (ed.
Petz s. 3) : hantgemalehe (1. hantgemahele). — 1180
bezw. 1193.
vii. Diemer Deutsche gedichte des 11 und 12 jh.s, s. 15, 3:
hantgemahele. — Vorauer Genesis, hs. um 1163 — 1185.
-j-viu. Windberger psalter (ed. Graff) 24, 17 : hantgemahele.
— 1187.
•fix. Münchener hs. des Parzival (ed. Lachmann 6, 19) :
hantgemahele.
fx. Schwabenspiegel ed. Wackernagel 402, 5 = Ssp. i
51 § 4 : hantgemahel. — um 1273—1282.
mit ä (e) :
fxi. Ahd. glossen iv 342, 1 — 2 : hantgemehele. — Cod.
Emmeram. (München, Clm. 14 628), 12 jh.
326 SCHÖNHOFF
*xn. Mon. Boica xxxvi 1, 235 : hanlgemaehü. — scherge
von Schneitsee 1280 (Oberbair. urbar).
fxiu. Münchener hs. (2) der Kaiserchronik (ed. EdwSchröder
v. 7142): hant gemähel. — aus SNicola bei Passau,
14 jh.
fxiv. eine hs. des Parzival (s. oben ix) : hantgemcehel.
*fxv. JulStrnadt i Peuerbach. ein rechtsbist, versuch (Linz
1868) s. 43 n. 2 : handtgemäkl. — Peuerbacher urbar
von 1598—1608.
C. -gimäli, -gemcele, -gemcelde.
xvi. Mon. Boica xiv 361 ; Juvavia 145 : hantgimali. —
Rihni, 927.
xvn. Kaiserchronik (ed. Schröder v. 7142) : hantgemcele. —
nach derVorauer hs. (vgl.vn); gedichtet bald nach 1147.
xviii. Parzival ed. Lachmann 6, 19 : hantgemcelde (SGaller
hs. : -gemeide). — um 1204.
fxix Wolfenbütteler hs. der Kaiserchronik (oben xm und
xvn) : hant gemeld. — 14 jh.
Wenn wir von dem ersten componenten des wortes hand-
gemal (auch anth- in nr i ist nur die romanische Schreibweise
für hanlh-) abseben , so tritt uns der zweite bestandteil schon
in alter zeit in drei verschiedenen lautformen entgegen : -mallus
(nr i), -mahal, -mahili (n — xv) und -mdli (xvi — xix). das
fränk.-Iatein. mallus ist schon früh als lautverwaut mit dem
got. mapl, ahd. mahal erkannt worden, und seit JGrimm galt
-die entwicklungsreibe mapl ^> mal (wie altnord. mal und möl,
und lat. mallus) > mahal. — das 11 in mallus erklärte zuerst
richtig ESievers ldg. furschungen 4, 335 — 340 als aus dl ent-
standen; er setzte als grundform ein german. *madläm neben
dem herschenden *mäplam an. auch das Verhältnis des ahd.
mahal (anord. mal, aengl. mcedel) zum got. mapl stellte Sievers
Beitr. 5, 531 — 535 fest, german. pl wird darnach im inlaut zu
yl (hl), das in den nordgermau. sprachen weiter in stimmloses l
übergeht unter deiiuung des voraufgehnden vocales (anord. nöl
'nadel' aus *neplö; mcela 'sprechen' zu got. mapljan); im ahd.
und alts. entwickelt sich wenigstens teilweise ein hl (ahd. alts.
mahal). das altengl. erhält das pl durchgehends (mcedel, nddl usw.).
1 Strnadt bezieht das handtgemäkl auf das asylrecht (pro übertäte
tuenda, Juvavia s. 194).
HANDGEMAL UND SCHWURßRUDERSCHAFT 327
das altniederfränk. {ndlda 'nadel' aus *nahalda) und allfries.
(nelda) kennen anscheinend nur hl, doch tritt im mal. auch ein
madelare = 'zaakwaarnemer' (Mul. wörterb. iv 945) auf, wie
ahd. Madal- in eigennamen (Forstemanu i 920 h°). neben mahal
ist ahd. ndlda (Tatian 106, 4), rnndd. ndlde (Sachsensp. i 24, 3;
Kilian und Dieffenh.) der einzige beleg für den deutschen laul-
wandel pl ^> hl1, sonst erscheint immer -thal und -dal,
ahd. wedil 'schweif (anord. vele), alts. tanstuthlia 'zahnreihe'
(anord. stäl 'parenthet. satz in einer halbsirophe'), bodlös n. pl.
häuser (anord. bot).
Diese lautgesetze stellen die identität des fränk.-latein.
anthmallns und des altsächs. handmahal aufser jeden zweifei.
die ahd. form -gimahili (german. *-gamapliam) weist als svara-
bhaktivocal ein i auf gegenüber dem a in mahal (aus *mahl),
beeinflusst durch das i der endsilbe; vom 12 jh. ab dringt
auch hier der (secundäre) /-umlaut durch, der bislang durch das
unmittelbar voraufgehude h verhindert worden war. secun-
därer t-umlaut wird meist d geschrieben (xii — xv), seltener e
(xi), daneben bleibt auch das alte a unverändert erhalten (vi — x).
— das hantgemdl des Sachsenspiegels (in) und der von ihm ab-
geleiteten darstellungen . ist die lautgesetzliche fortsetzung des
altsächs. handmahal] schon in altsächs. deukmälern schwindet
intervocal. h unter dehnung des voraufgehnden vocals, zb. sld
'schlag' (Eltener glossen), mdl 'iusticia ac census' (Heliand:
mahal; Urkunde Ottos i von 959 in MGDiplI. i 205).
Eine eingehndere besprechung erheischt ahd. hantgimdli
(Juvavia 145), mhd. hantgemcele. da ein ahd. -aha- (mhd.
•ahe-) auf bajuvarischem boden erst im ausgange des mittel-
alters zu d contrahiert wird, legte diese abweichende form die
verwautschaft mit ahd. mdl sehr nahe. in der recension von
Sievers Tatian, 2 aull. (Anz. xix [1893] 235 — 244) wies nun
RKögel, an das tatianische sinu (aus sih-nu) anknüpfend, aao.
s. 244 zuerst nach, dass german. h vor /, r, n, w auch im inlaute,
selbst in der composilionsfuge schwinde. neben ahd. fihala
steht fila 'feile', neben uuihrouch (anal, nach uuih) unirouch,
1 nnl. naald, groning. nal, nalle (aus nälde), drenth. naold (Moleina
Groning. wb. 275), nordemsländ. und bentheim. nule beweisen, dass das
niederländische als der ausgangspunct für diese worlfonn anzusehen ist.
32S SCHÖNHOFF
ueben Hhlauui 'cieatrix' likwi (Ahd. gloss. iv 258, 3 aus dem
12 jh.); selbst h aus ch (germ. k) schwindet öfters, zb. chir-
uuarta 'ecclesiarum provisores' (Ahd. gloss. n 342, 9). auch
an unserer stelle findet sich ein beleg für dies lautgesetz: neben
Rihni (i. e. Rich-ni) wird auch Rhini (Juv. 145) geschrieben,
demnach stellt ein ahd. -gimdli aus -gimahli die natürliche
fortsetzung des german. *-gamapliam dar, während ein -gima-
hili nur durch analogische entwicklung eines svarabhaktivokals
(der in tnahal lautgeselzlich eintrat) sein h intact erhielt, ahd.
-gimdli muste zu mhd. -gemcele werden, wie ein voraus-
zusetzendes -gimdlidi mit angehängtem ■ ipi - suiiix die Vorstufe
des Wolframschen -gemalde bildet.
Was ist nun die ursprüngliche bedeutung von *-gamapliam!
— got. mapl n. (Marc. 7, 4) übersetzt das griech. dyoqcc (lat.
forum, Tatian 84, 4 strdza), 'kaufmarkt'. — ahd. mahal ist in
den glossen contio1 (9 jh. Ahd. glossen ii 260, 12; 11 jh.
Tegernseer codex, aao. i 368, 29); pactum (8 jh. Keron. glossen,
i 256, 19; 9—10 jh. Reichenauer hs., ii 349, 1); pactio
0 225, 16); foedus (nuptiarum, n 147, 30) und forum (niederd.
10 jh., Oxforder Vergilglossen, n 717, 58). auch der SPetrier
codex (Glosse zur lex Ripuaria tit. 36 § 11, Ahd. gl. ii 354, 7)
meint wol den gesamten kaufverlrag, wenn er die worte :
'spatham2 cum scogilo pro 7. solid, tribuat. spatham absque
scogilo pro tribus solidis tribuat' — mit mahal glossiert. —
im Heliand v. 1312 (Moo.), 2891 (Mon.), 3834 und 4710 (Cott.)
kann mahal überall Versammlung (concio, samenunga, Gloss. i
473, 22. iv 272, 14) bedeuten, obgleich Brunner Rechtsgesch.
i 144 in v. 1312 gerichtstätte, Rückert in v. 2891 gericht über-
setzt, diese bedeutung hat das wort sicherlich im Muspilli v. 31.
63 uud im lied vom hl. Georg (Georio fuor ze malo). an letzterer
stelle findet sich wider ein beleg für das Kogelsche geselz :
*mahl >> mahal, *mahlö (instrum.) > mdlu{o). wenn Muspilli
v. 61 ze demo mahale lautet, so ist dies eben eine analog, neu-
schöpfung nach dem nomiuativ. — in den Edden ist mal in der
bedeutung 'gericht' nirgendwo überliefert; spräche, rede, wort,
1 auch mallus wird als Übersetzung von concio gegeben. MGScr
rer. Meroving. iv 165, 1 ff.
2 spata twert. Gloss. m 258, 2. 289, 12. 309, 12. 623, 8 u. ö. 668, 26.
zu scogilum (scheide) vergl. alts. sköh 'schuh'.
HANDGEMAL UIND SCHWURBRUDERSCHAFT 329
beratung, spruch in gebundener rede, Vortrag sind die gewöhn-
lichen Übersetzungen, der plur. möl ist gedieht, Lied.
Denselben bedeutungsinhalt zeigt das zugehörige verbum got.
mapljan (Joh. 14, 30 Xalelv, loqui; Tatian 167, 7 sprehhan);
mapleins (Juli. 8, 43) ist lalia (loquela; Tat. 131, 18 sprdhha);
fauramapieis = ccq%cov u. ä. (Matth. 9, 34; Luc. 8, 41 u. a.).
neben altnord. mwla 'sprechen' steht alts. mahlian, gimahlien
Micere, loqui, confiteri' (Heliand v. 139. 165. 914 u. ö. = Luc. 1,
18. 20. Joh. 1,20; dixit, gimdlda, Coli. v. 3993, Joh. 10, 16).
im Hildebrandsliede : Hillibrant gimahalta; in deu glosseu paclus
gimahlida (n 718, 37; vgl. ir 16, 34; 407, 5. 467, 27); hei
INotker mälön 'arguere' (Ps. 49, 8 im Cod. Sangall.; der Cod.
Vindob. hat an dieser stelle frdgen).
Das übereinstimmende Zeugnis des got., anord., ahd. und alts.
beweist, dass wir in dem german. *maplam eine, etwa rhythmisch
gegliederte und mit starkem accente vorgetragene rede zu sehen
haben, wie sie der thinggenosse bei der volksversammluüg zu
halten pflegte, in den Edden ist aus der poetischen seite dieser
ursprünglichen bedeutung das mal 'vers, Strophe' und die möl
'gedieht, lied' erwachsen, im ahd. und alts. die Volksversammlung,
das volksgericht ] überhaupt, daneben auch (wie im got.) wegen
des innigen Zusammenhanges von Volksversammlung und markt
der kaufmarkt, forum. — Leo Meyer Die got. spräche § 344,
s. 402 verglich zuerst das aind. manlram 'Zauberspruch', man-
trayati 'berät, spricht' (awest. mqOra 'wort, heiliges worl')^
das sich mit dem german. *maplam in der gemeinsamen be-
deutung 'rhythmisch gebaute, pathetische rede' zusammenfindet,
die lautliche form (aind. mantram geht etwa auf *montlom, got.
mapl auf *motlom zurück) macht dagegen Schwierigkeiten, die
man zt. aus dem wege schafft, wenn man aind. mantram von
manas (griech. (xevog) trejint und statt dessen zur wurzel me
'messen' stellt2. —
1 mahal ist über die ahd. zeit hinaus nicht mehr gangbar in der deutschen
Sprache, an seine stelle tritt das ding (got. peihs = %qövos, xaigöq, urver-
want mit latein. lempus; langobard. Ihinx), das, wie mahal die rede auf
der Versammlung, ursprünglich nur den zeitpunet des gerichtes bezeichnete. —
mallum dinc Ahd. gloss. m 124, 41. 209, 50.
2 lat. mo-dius, griech. fie-roor, (ti-di/tvos, got. mi-tan ; latein. me-liri\
griech. //>,'»', got. mena, lat. mensis; got. mels zeigen ebenso mannigfache
suflixe wie aind. ma-nlram, got. ma-pl.
330 SCHÖNHOFF
Um das resultat kurz zusammenzufassen, so ist germ.
*-£amapliam, ahd. gimahili, gimdli der Inhalt einer rede, eines
Vertrages, der etwa auf einer Volksversammlung (mahal) geschlossen
wurde; bei dieser deulung bleibt kein Zweifel, dass der erste
component des handgemals (wie schon der glossator des Sachsen-
spiegels will) hier nur die schwörende hand bezeichnen kann,
die als wichtigstes glied des menschlichen körpers symbolisch
den vertrag bekräftigt und seine erfüllung garantiert, noch der
Windberger psalter (1187; oben nr vih) fasst das handgemal in
diesem sinne (testamentum = bundesvertrag; Notker ps. 82, 6 :
ioh iegelich kezumft ioh einunga heizzet testamentum. Also iacob
unde laban testamentum {des einunga) taten, daz sie ioh Jebinde
uueren solton); und der codex Falkenstein. (1180; oben nr vi)
spricht klar und deutlich von dem cyrographum (in glossen:
hantfesti, hantgiscrip), quod teutonica lingua hantgemahele voca-
tur, also einem schriftlich niedergelegten bundesvertrag über den
gemeinsamen besitz (tiobilis viri mansus). im einzelnen vgl. die
betr. abschnitte im dritten capitel.
3 CAPITEL. DAS SACHLICHE.
Das handgemal — um die mannigfachen gestalten des namens
in dieser durch den Sachsenspiegel berühmt gewordenen form zu-
sammenzufassen — tritt vom 9 bis zum 13 jh. in drei verschiedenen
landschaflen auf : in Oberitalien, Baiern südlich der Donau und
Sachsen, speciell Ostfalen. festere wurzeln hat es nur in Ober-
baiern und Salzburg geschlagen, denn das sächsische handgemal
ist nur dadurch in den Vordergrund des historischen interesses
getreten, dass Eike vRepgow diesem institut einen bevorzugten
platz in seinem Sachsenspiegel gönnte, im allgemeinen sind die
forscher bei der erklärung des handgemals vom Sachsenspiegel
ausgegangen und haben die übrigen stellen, an denen es erwähnt
wird, nur secundär herangezogen; erst Meister (aao.) strebt eine
individuelle und landschaftliche sonderung an, geht aber dabei
noch immer zu wenig radical vor. der Untersuchung der ein-
zelnen stellen seien hier zum besseren vergleiche die definilioneu
des handgemals von Homeyer, Gengier, vAmira, Adler, Heck und
Wittich vorangestellt.
Homeyer (s. 43 f) definiert es als : 'das freie, mit einem etwa
wehrhaften Wohnsitze versehene grundstück eines vollfreien,
welches als haupt- und stammgut des geschlechtes ungeteilt auf
HANDGEMAL UND SCHWURBRUDERSCI1AFT 331
den ältesten der schwertseite sich vererbt.' — Gengier (aao
i 176; aus d. j. 1889): kdas durch anbringuog der geschlechts-
niarke gekennzeichnete Sondergrundstück, woran für eine lamilie
das allen sippegenosseo , auch den weiblichen, jederzeit zu gute
kommende Zeugnis ihres freienslandes haftete, und welches darum
unveräufserlich, unteilbar und nur im manusstamme vererblich
erschien, so dass in dasselbe lediglich eine individual-erbfolge
mit vorzug des ältesten von der schwertseite platz greifen konnte.'
— vAmira (Pauls Grundriss 2 aufl., in s. 172) : 'Unteilbarkeit und
Vererbung des stammgutes auf den ältesten schwertmagen zeich-
neten .... diejenige erscheinungsform des erbgutes aus, die ... .
als haut gern ahele .... vollfreier uud in der regel ritterbiirtiger
leute auftritt.' — Adler (aao. s. 8; a. d. j. 1902) : 'handgemal,
als das von jeder abhängigkeit freie, insbesondere auch steuer-
freie, oft mit dem Wohnsitze des herrn verbundene dominicalland
eines vollfreien, das vielleicht schon in dieser epoche das wesen
eines stammgutes annimmt.' — Heck (Der Sachsenspiegel s. 504):
'heimat im geschichtlichen sinne, ort der herkunft.' — Wittich
(aao. s. 42. 49) : 'ein minimales bauerngutchen im besitz jedes
geschlechtsgenossen .... die rechtswürkung bestand vor allein
in dem nachweis der schöffenbarkeil , der durch ihren recht-
mäfsigen besitz geführt wurde, und ferner darin, dass sie für
ihren inhaber eine heimat im rechlssinn begründete.' — in ähn-
lichem sinne — meist nach Homeyers definition — wird das
handgemal aufgefasst bei FWalter Deutsche rechtsgesch. (Bonn
1853, § 417, s. 477 0, HZöpfl Deutsche rechtsgesch. (3 aufl.,
Slultg. 1858, s. 320 ff), AQuitzmann Die älteste reichsverfassuug
der Baiwaren (München 1866, s. 40), HSchulze Das erb- und
familienrecht der deutscheu dyuastieen des miltelalters (Halle 1871,
s. 24 — 27. 56), HPetz (aao. s. xxvi), AHeusler Institutionen des
deutschen privalrechts (Leipz. 1885, i 16611), HSiegel Deutsche
rechtsgesch. (2 aufl., Leipz. 1894, s. 12. 57. 424 n. 5. 432 n. 38.
625 n. 9), ELagenpusch Das germanische recht im Heliand
(Breslau 1894, s. 29 — 32) uud wider AHeusler Deutsche Ver-
fassungsgeschichte (Lpz. 1905, s. 165).
i Das handgemal bei den Langobarden.
In zwei extravaganten zum texte C (Karlisch, rechtsb.) der
Lex Salica, die Amedeo Peyron im codex 33 des domcapilels zu
332 SCHÖNHOFF
Ivrea, einem alteu langobardischen herzogssitze, entdeckte, wird
das haudgemal unter dem nameu anthmallus erwähnt (Merkel
s. 99 ff; Behrend2, s. 165 ff), der Schreiber der extravaganten,
die aus dem 9 jh. stammen, fühlt sich als Italiener den Franken
gegenüber (exlr. v : ita tenent Franci. nos tarnen in Italia propter
Hludouuici et Lotharii capüulare ....), w'e schon der fundort
für oberitalischen, dh. langobardischen Ursprung spricht, die zweite
extravagante ist klar : wenn jemand einen andern als seinen
sclaven anspricht, so hat der beklagte, falls er ausländer ist, in
suo anthmallo seine freie geburt nachzuweisen. Si quis quemlibet
mallaverit ad servitium . . . qui in alia regione fuit natus aut
longe infra patria, et ille diät quod ipsius servus non sit et suam
libertatem in suo anthmallo proportare possit, tunc comes faciat
illutn dare uuadium ad suam libertatem proportandam. weun nun
der beklagte keinen eideshelfer stellen kann, so hat ihn der graf
unter bewachung des klägers in anthmallo suo zu führen, dass
er dort seine freiheit nachweise, dann folgen genaue angaben
über die wähl der eideshelfer.
Der text der ersten extravagante ist verderbt, es heifst dort:
Si quis aliquem ad servitium mallaverit, et ille uuadium dederit,
et fideiussorem posuerit, ut l anthmallo legitimos in patria de qua
est festes sue libertatis dare debeat, faciat tunc comes, in cujus
[praesentia mallatio facta est, duas epistolas uno] tenore, et unam
habeat ille qui mallat, alteram similem ille qui mallatur. es folgen
bestimmungen über das erscheinen des klägers ad constitutum.
RSohm (Altdeutsche reichs- und ger.-verf. i 316, note 77) list
anthmallo legilimo , dh. also : wenn jemand einen anderen als
seinen sclaven anspricht, und der beklagte stellt einen eideshelfer,
dass er anthmallo legitimo, in seiner heimat, zeugen für seine
freiheit aufweisen könne, dann hat der graf zwei Urkunden an-
fertigen zu lassen, gleichen Wortlautes, eine soll der kläger, eine
gleichlautende der beklagte erhallen.
Homever erklärte den anthmallus als die durch das stamm-
m
gut bestimmte heimat (ebenso Zöpfl Heidelb. jbb. 64, 179 — 180);
1 nach Peyron (von dem auch die in eck. kl. gesetzte ergänzung
stammt). — Merkel las : aut, was Homeyer (s. 56, note 93) wider in
ut verbesserte, und interpretierte : ut legitimos [in] anthmallo [i. e.] in
patria de qua est, testes Zöpfl will lesen (Heidelbgei jahrb. 64, 179f.):
ut in patria, de qua est, aut aJithmallo
IIANDGEMAL UND SCIIWURimUDERSCHAFT 333
HSulini (aao. s. 318 IT) trennte den anthmallus vom bandgemal
und zog es zu mallus, also 'echte dingslälte = legitimus sui sa-
cramenti locus.' GelTcken Lex Salica, erlaut. 285 fasste es eben-
falls als gericht auf (auch Meister aao. s. 398 und note l)1, da
anthmallo in patria, wenn anthmallus auch heimat wäre, die un-
sinnige bedeutung hätte : in der heimat in der heimat. diese
bemerkuDg ist aber nicht ganz unanfechtbar, da patria (wie Sohm
aao. 316 ff nachweist) hier wie an andern stellen, so im capitu-
lare Ludwigs des frommen (in aliena patria), einfach land be-
deutet, also longe infra patria 'fern im lande', in patria de qua
est 'im lande, aus dem er stammt'.
Aus dem vereinzelten auftreleu des anthmallus in dieser spät-
langob. quelle, wo überdies noch der name selbst eine fränkische
form trägt (dem fränk. mallus entspricht ein langob. mahal), kann
für die bedeutung des wortes mit Sicherheit nichts geschlossen wer-
den, die allgemein angenommene erklärung 'gerichlsstätte' basiert
nur auf der secundären bedeutung des fränk. mallus und der Zobel-
Schmellerscheu Übersetzung 'forum competens' (für Sachsenspiegel
und Heliand). der anthmallus isuus a., a. legitimus), wo der be-
klagte seine freie gehurt nachweisen soll, kann jedesfalls nicht
das heimatland sein, da er iu patria de qua est ligt, also ge-
ringeren umfanges ist. die freie geburt eines mannes war aber
an den freien landbesitz des vaters geknüpft, kann also in unserm
falle nur auf dem väterlichen erbgute nachgewiesen werden, wie
bei dem altsächs. handmahal und den bairischen handgemalstellen
gezeigt werden wird, hat dort das handgemal einen weitern
inhalt als das nodal 'erb- oder stammgul'; ob dies auch hier
zutrifft, ist unklar, möglich ist, dass diese ältere bedeutung für
die vorliegende späte zeit der langobardischen rechtsverhältnisse
schon zu der eines eiufachen stammgutes abgeblasst ist. weiter
aber — bis zur gerichtsslätte, die für den beklagten zuständig
ist — darf aus den extravagauten nichts geschlossen werden.
Ein indirectes Zeugnis für die existenz eines langobardischen
handgemals aus dem 7 jh. wird erst bei gelegenheit der bai-
rischen stellen aufgezeigt werden, da sich zwischen ihm und dem
anthmallus des 9 jh.s keine brücke schlagen lässt.
1 Meister schreibt Sohm fälschlich die Übersetzung 'stammgut' zu,
während dieser nur sagt : wenn anthmallus = hani%ema\ wäre, könnte es nur
'stammgut' bedeuten.
334 SCHÖNHOFF
ii Das ha od genial bei den Sachsen (Thüringern).
Hier kommen vor allem die beiden stellen Heliand v. 346
und 360 (Mon.) in betracht, aus denen mit Sicherheit auf eiuen
grundbesitz geschlossen werden kann, wenn auch in der land-
läufigen Interpretation der umfang desselben falsch bestimmt wird1.
Hei. v. 345 IT:
Hiet man that alla thea elilendiun man iro ödil söhtin,
helidos iro handmahal angegen iro he'rron bodon,
qudmi te them ciiösla gihue, thanan he cunneas icas,
giboran fon them burgiun.
Hei. v. 358 ff:
[Joseph] söhta im thiu wdnamon he'm,
thea bürg an Bethleem, thar iro beidero was
thes helides handmahal endi öc thera helagun thiornun,
Marinn thera gödun.
Joseph und Maria gehören nun nach altdeutschem begriffe
nicht nur zu den freien (gemeinfreien), sondern auch zu den
edelen (nobiles), wie aus der mittelalterlichen lilteratur genugsam
bezeugt ist; zb. Otfrid i 11, 19 ff, an der stelle, die unserer nach
dem inhalte entspricht :
Ein bürg ist thar in laute, thar wdrun io genante
hüs inti wenti zi edilingo henti:
want ira anon wdrun thanana gotes drütthegana, ....
vdHagen Gesamlabenteuer n 331 (niederd.) :
und de edelen vrien
de milden möder Marien.
ebda in 428 : Diu edele und diu frie Maria.
Der lateinische text, der dem Helianddichter an dieser stelle
vorlag (Lucas 2, 4) lautet : ... in civitatem . . . Bethlehem, eo quod
esset de domo et familia David, was Tatian (5, 12) übersetzt:
in Dauidesburg . . . bithiu uuanta her uuas fon huse inti fon
hiuuiske Dauides (hiwisc 'familia!, Glossen m 68,57. 177,42).
das haus David (domus David) ist ebenso wie nach dem heutigen
Sprachgebrauch die dynastie, die sippe Davids, familia = hiwisc die
1 meist wird nach Schindler 'forum competens' übersetzt (auch bei
Meister aao. s. 398). Martin im comm. zu Parzival 6, 19 (s. 17) erklärt schon
richtiger 'heimat'.
HANDGEMAL UND SCHWUKBHUDERSCHAFT 335
hausgenossenschaft'(got. AcJica-'liaus'), die schar der nächsten bluts-
verwanten — ähnlich, nur in umgekehrter reihenfolge, Hei. v. 347:
qudmi te them cnösla gihue, thanan he cunneas was.
denn cunni1 ist die sippe, der weitere stamm, kndsal die engere
familie (Lagenpusch Das german. recht im Heliand [Breslau 1894]
s. 22 f). dem entsprechend stehn sich auch die parallelen öilil
(v. 345) und handmahal (346), wie ciiösal und cunni, als engerer
und weiterer erbbesilz einauder gegenüber, ödil, altengl. edel,
afries. e'thel, ahd. uodal, ist das erb- oder stammgut, über dessen
besitz der eigentümer nur beschränkt verfügen konnte, auf das dem
mannesstamme der familie die Vorhand eingeräumt war. wenn
also das handmahal einen weitern verwantschaftskreis angeht, so
kann es nur der stamm- und erbbesitz mehrerer familien (bzw.
einer sippe) sein, die zum stände der edeln zählten. Joseph und
Maria, deren gemeinsames handmahal (iro beidero was . . . hand-
mahal) in Bethlehem gelegen war, gehörten in der tat wol zu
6iner sippe, aber sie waren doch nicht aus einer hausgemeiu-
schaft, familie, entsprossen.
Die dritte Heliandstelle (v. 4127), deren text in den beiden
handschriften verschieden überliefert ist, weist wenigstens in einer
hinsieht einen klaren sinn auf; dort wird das handgemal des
gesamten Judenvolkes in Jerusalem localisiert, was zu der aus
v. 346 und 360 erschlossenen bedeutung eines sippengutes (bezw.
mehreren familien eigeuen besitzes) aufs trefflichste stimmt,
v. 4125 ff: söhtun im liudi ödra
an Hierusalem, thar Judeono was,
heri endi handmahal'2 endi hööidstedi,
gröt gumskepi grimmaro thioda.
Weder die bedeutung noch die quantität noch der casus
des heri stehn unumsloTslich sicher fest. Grein zog es als »enitiv
sing, appositionell zu Judeono (Germ. 11, 214), er list heri hand-
mahal; Piper folgt ihm in der construclion , list aber heri und
nimmt dies als geniliv der mehrzahl. da aber in diesem falle der
artikel nicht fehlen dürfte (Sievers), so muss heri als nominal,
sing, angesehen werden, ob das e in heri lang oder kurz ist,
1 gmiis chunni; Glossen in 68, 48. 177, 39.
2 conj. von Heyne; Mon. hereo endi handmahal, Coü. hevi huand
mahal. Heyne folgen Rückert und Sievers (vgl. auch Zs. 19, 68). Piper
list : heri handmahal, Behaghel : heri handmahal.
336 SCHÖNHOFF
ist ebenfalls nicht sicher, metrisch ist beides zulässig (FKauff-
manu Zur rhythmik des Heliand ßeitr. 12,283 — 355; besonders
s. 349). heri m. würde menge, umstand bedeuten (Lagenpusch
aao. s. 49ff. 53 ff), heri f. maiestas, magnitudo, magistratus *
(Ahd. glossen n 388,41. 439,17. 491,26. 507,28. 541,70.
5SS, 51. 611, 54), und dies ist Heliand v. 1898 Mon. for thea heri
(= Lucas 12, 11 : ad magistratus), 3526 te theru heri (— Marc.
10, 33 : principibns sacerdolum) , 5413 Cott. thiu heri (Matth.
27, 20 : princeps . . sacerdohim), und 5876 thero heri (Matth.
28. 11 : principibus sacerdotum) mit Sicherheit einzusetzen, höbid-
stedi'2 bezeichnet nach Sievers die residenzstadt (in glossen
toparchas houbitsteti), eher wol, wenn man heri als Volksmenge
auffasst, die hauptstätte, dh. die statte, wo die hauptmasse der
Juden safs, denn in Jerusalem konnte doch nicht die residenz-
stadt sein (thar . . . was . . . heri endi handmahal endi hötidstedi).
aus diesen erwägungen heraus ist zu übersetzen : 'in Jerusalem,
wo der Juden Volksmenge, Stammesbesitz und hauptstätte war,
und eine grofse schar böswilligen volkes', eine Übersetzung, die
weder grammatisch noch inhaltlich anstöfsig ist.
Für das Ostfalen des 9 jh.s, wo höchstwahrscheinlich der
Heliand entstand, kann also das handmahal definiert werden als
gemeinsames erbeigen mehrerer edlen familien, die vielleicht im
sippenverband standen und ihre edel-freie herkunft aus diesem
ihrem besitze beweisen konnten — wenn damals wie bei den
Langobarden und vielleicht auch im Sachsenspiegel diese gewohn-
heit juristisch festlag.
Die auffassung des Sachsenspiegels, der nicht weit von der
wahrscheinlichen heimat des Heliand zu hause ist, wird sich von
der eben entwickelten bedeutung schwerlich stark entfernt haben,
charakteristisch ist nur, dass an stelle der edlen, dh. der freien
(ritterbürtigen) herren, die vielleicht im Heliand nur zufällig ein-
geführt waren (beim langob. handgemal kommen ja nur freie
überhaupt in belracht), hier der gemeinfreie, der schepenbar vri
1 zu der letzten bedeutung kann man eine ganz ähnliche stelle Hei.
v. 4214 ff vergleichen:
innan Hierusalem, thar Judeono uuas
hetelic hardburi (= magistratus; Glossen I 207, 12).
2 Wittich list hier hobistedi 'hofesstätte'; ist das absichtlich, also con-
jectur? oder nur ein lesefehler? — das letztere ist wahrscheinlicher.
HANDGEMAL UND SCHWURBRUDERSCHAFT 337
man als hesitzer oder anteilhaber des handgemals erscheint, dann
auch tritt hier die bezieht! Dg des handgemals zum zuständigen
gerichte — ähnlich wie in der langohardischen extravagante —
stark hervor, wie sie im Heliand noch völlig latent ist. oh nun im
einzelnen die auffassung Hecks oder Witlichs die zutreffende ist,
kann dahingestellt bleiben, sicher ist, dass das handgemal des
Sachsenspiegels — weil später als der Heliand — eine weitere
entwickhing desselben darstellt; wie weit diese im 13 jh. bereits
gegangen ist, ob noch geschlechtsgut nach Homeyer (legitimations-
deutun»), oder bereits einzelgut nach Wittich (viudicationsdeutung)
oder einfach heimat nach Heck (hist. deutung), kann nur durch die
eingehnde erforschung der damaligen rechtsverhältnisse und die
fruchtbare discussion der fachjjelehrten entschieden werden, da
jede der drei genannten auffassungen nur verschiedene stufen einer
gradlinigen entwicklung darstellt, und alle aus der von mir für
den Heliand ermittelten bedeutung abgeleitet werden können, so
ist hier eine weitere Untersuchung überflüssig. — dem nieder-
deutschen glossator, der, durch den gleichklang der worte mdl
'zeichen' und mdl 'gerichl' geteuscht, eine dementsprechende etymo-
logie (vom Schöffenabzeichen) gibt, war das handgemal offenbar
nicht mehr etwas lebendiges, sondern schon im absterben begriffen.
Die rechtsbücher, die in den fufsstapfen des spieglers wandeln
und das wort hantgemdl von ihm übernommen haben, scheinen
den begriff meist nicht mehr zu kennen (Rechtsbuch nach distinc-
tionen iv 23 dist. 16, ed. FOrtloff s. 231 ff; Magdeburg, weich-
bild ed. ChrZobel art. 33). charakteristisch ist hier das ver-
schiedene verhalten des Deutschen- und Schwabenspiegels, während
dieser für das niederdeutsche hantgemdl das entsprechende hoch-
deutsche hantgemahel einsetzt, behält jener die nordd. form1
bei, ein zeichen, dass sein bearbeiter, der etwa um die mitte des
13 jh.s in Augsburg (Schwaben) schrieb, den begriff nicht kannte,
dem Verfasser des Schwabenspiegels, der vielleicht aus der diöcese
Bamberg stammte und in Baiern oder Schwaben schrieb (s. unten
in Das handgemal bei den Baiern), war dagegen das rechtsinstitut
wenigstens dem namen nach aus hochdeutschen landeu bekannt.
■e*
1 dass es nicht die fortsetzung des ahd. hanlgimdli sein kann, beweist
das Wolframsche hanlgemwlde , Kaiserchron. hantgemcele , mit ihrem um-
laut, die umlauttose form -gemahel verdankt die erhaltung des a eben
dem folgenden k (s. oben 2 cap.).
Z. F. D. Ä. XLIX. N. F. XXXVII. 22
338 SCHÖNHOFF
Zum schluss ist noch die Überschrift zu rechtfertigen : 'das
handgemal bei den Sachsen (Thüringern).' es ist nicht uner-
heblich für die geschichte des handgenials, dass es beide male,
da es auf sächsischem boden vorkommt, dort erscheint, wo die
Sachsen erst nach der Vernichtung des thüringischen reiches im
jähre 531 sich angesiedelt haben (pagus Nortthuringowe Saxoniais).
selbst die — freilich sehr unsichern — stellen aus Urkunden,
die Heck (aao. s. 509. 510) und Wittich (aao. s. 42. 45) aus dem
Hildesheimschen urk.-b. beigebracht haben, beschränken sich fast
ausschliefslich auf Ostfalen. diese bevorzugung eines neueroberten
landesteiles in der erhaltung alter rechtsverhältnisse gegenüber
den erbsilzen der Sachsen im westen und norden weist darauf
hin, dass die Institution des handgemals nicht sowol den Sachsen,
als den von ihnen unterworfenen Thüringern, den enkeln der
Ermunduren, eigen war. dann erklärt sich — wie bei den viel-
gewanderten Langobarden, deren reich im 9 jh. auch schon längst
vernichtet war — sehr leicht die schwache erhaltung des hand-
gemals entgegen dem viel zahlreicheren vorkommen desselben auf
altbairischem gebiete, aber auch seine schnelle bedeutungsent-
wicklung. bezeichnet doch anthmallus sowol wie handmahal und
hantgemdl ausschliefslich einen grundbesitz, während, wie in in
gezeigt werden soll, das bairische hantgemahele in der mehrzahl
der belege noch die alte bedeutung des Vertrages durchblicken
lässt, ja zt. noch (wie im Windbeiger psalter) mit bundesvertrag
übersetzt wird.
in Das handgemal bei den Baiern.
Wie sehr auch Heliaud und Sachsenspiegel das handgemal
in weiten kreisen bekannt gemacht haben, so ist es doch bei
einem anderen stamme zu hause, nämlich bei den Baiern. hier
wird es vom 10 bis zum 14 (17 ?) Jahrhundert oftmals urkundlich
und litterarisch erwähnt, und zwar in einer bedeutuugsentwicklung,
die man gleich von anfang an deutlich verfolgen kann, testa-
mentum, lex, mundiburdium, cyrografum wird es genannt — gleich-
zeitig aber auch im letzten falle nobilis viri mansus und weiterhin
curtilis locus, particula proprietatis und pars una pro libertate
tuenda. erst später tritt es als feodum, noch später als haus
und gärtel auf, und in einem auf römische Verhältnisse über-
tragenen sinne wird ein amphitheater in Rom (spilhtis) zum
hantgemale gerechnet.
HANDGEMAL UND SC11WURBRUDERSCHAFT 339
A. 'Testamentum, lex, mundiburdium, cyrografum.'
An der spitze dieses abschnittes steht billich die versiou
des wortes testamentum mit hantgemahele, die der Windberger *
psalter von 1187 (psalm 24, 17 ed. GralT) bietet, ps. 24, 14:
Firmamentuni est dominus timentibus eum, et testamentum ipsius
ut manifestelur Ulis = Wiudb. ps. : Ein ueste ist der herro den
furhtenten inen, unde daz hantgemaltele sin selbes, daz iz eroff'e-
net werde in.
Die in betracbt kommende stelle übersetzt INotker : unde er
tuöt daz in geöffenot uuerde sin ea die er in beneimda. Du Hamel
merkt zur erklärung des psalmverses an (i 648 fufsn.) : 'Deus
quasi pactum init cum timentibus se . . .' testamentum ist ein
vertrag, nicht nur wie der erblasser ihn zu gunsteu seiner erben
aufsetzt, sondern auch, wie zwei lebende ihn mit einander
schliefsen, wie Augustinus zu ps. 82, 6 bemerkt : testamentum
sane in scripturis non illud solum dicitur quod non vatet, nisi testa-
toribus mortuis : sed omne pactum et placitum testamentum vocabant.
nam Laban et Jacob testamentum fecerunt, quod utique etiam inter
vivos valeret. diese erklärung übernimmt auch Notker (ed. Piper
ii 343) : testamentum . . . einunge. Testamentum heizzet peidiu ioh
daz. daz dir netoüg. dne töten peneimedarin. ioh iegelich kezumft
ioh einunga (placitum) heizzet testamentum. Also iacob unde laban
des e'inwiga täten, daz sie ioh lebinde uueren solton. und zu
ps. 77, 10 schreibt Notker : Si nehuötun Gotes eo. Testamentum
(pineimeda) ist lex. also ouch därföre testimonium (sin ürchunde)2.
man sieht, dass die Übersetzung von hantgemahele im Windberger
psalter durch ;bund, vertrag, vertragsurkuude' genau mit der oben
etymologisch entwickelten bedeutung 'schwurvertrag, pactum' über-
einstimmt.
Die gleichsetzung Notkers (aao.) : Testamentum ist lex wirft
ein klares licht auf die stelle in der Juvavia s. 145, wo es heifst:
excepta lege sua, quod vulgus hantgimali6 vocat. es ist dies in
1 das prämonstratenserkloster Windberg, gestiftet 1141 vom grafen
Adalbert i vBogen und seiner gattin Hedwig, ligt am Bogenbach, nördl.
des Schlosses Bogen, noch im bairischen Donaugau. — Mon. Boica xiv 1 — 110;
Mon. Windbergensia, i teil : Verh. des bist. Vereins für Niederbaiern bd 23
(1884), s. 137—179.
a testamentum und ürchunde setzt Notker auch zu ps. 24, 10 gleich.
3 Mon. Boica xiv 361 lesen hier : hantigimali.
22*
340 SCHÖNHOFF
einer tauschurkunde zwischen erzbischof Uodalbert n von Salz-
burg (923-935) und der edlen frau Rihni, datiert Rohrdorf (im
Chiemgau) vom jähre 924, und Salzburg vom 1 april 927. Rihni
übergab in diesem tauschvertrage dem erzbischof durch ihren
bevollmächtigten Deotrich ihre besitzungeninSeeon, ferner Zeidlarn,
Kirnbach, Pietelbacb, Schönberg, Hörlsheim und Holzhausen1 —
aufser ihrer 'lex', die auf deutsch hantgimali hiefs. reichlich
siud die bislang versuchten erklärungen — Homeyer (aao. s. 18):
'die unter dem namen hantgemal bekannte parlicula und das
daran hängende recht'; AQuitzmann (Oberbayr. archiv 32, 1 1 8 f ) :
'das vom geselze sauctionierte zeichen der vollen Standesfreiheit';
Gengier Ein blick auf das rechtsleben Rayerus unter herzog Otto i
vWittelsbach (Erlangen 1880, s. 8) : 'sein stammrecht'; EMayer
(Verf.-gesch. i 417) : 'berechtigung = markgenossenschaftsrecht';
SAdler (aao. s. 6, note 6) : 'standesrecht i. e. dingliche gruudlage
für dasselbe'. —
Zum rechten Verständnis dieser clausel, die offenbar den
vorbehält eines (vertragsmäfsigen oder urkundlich festgelegten)
rechts 2 darstellt, muss vorerst auf stand und geschlecht der Rihni
eingegangen werden, worauf bislang keine Untersuchung rücksicht
genommen hat3. Homeyer uud seine nachfolger erklärten es
trotz des prädicats 'nobilissima femina\ das ihr in der Urkunde
beigelegt wird, für fraglich, ob sie zu einer edlen familie gehörte
(s. 32, note 36); zu der auffallenden erscheinung, dass eine frau
besitzerin des handgemals war, vermutete Homeyer (s. 43 note 66),
es sei entweder nach schwertmagen an sie gefalleu, oder was
wahrscheinlicher, dass sie aus ihrem früheren besitzt um ein stück
aushob, das ihren stand und ihr heimatsrecht in dem bezirke für
sie und ihre nachkommen festhalten sollte. — die sache ligt völlig
anders. Rihni (auch Rihina genannt) war die gattin des grafen
im Chiemgau Uodalbert (residenz : Rohrdorf?), der von seiner
grafschaft aus 923 auf den erzbischöflicheu stuhl von Salzburg
berufen wurde und nach 12 jähriger regierung, in der er sich
1 wol Grofs-Holzhausen im bezirksamt Rosenheim.
2 der anthmallus legitimus geht sicherlich aus demselben grund-
gedanken hervor.
3 über Rihnis bezw. Uodalberts familie handeln Seb. Dachauer Ober-
bayr. archiv für vaterl. gesch. bd 2 (München 1840), s. 367—369; AQuitz-
mann, ebda bd 32 (1872—1873), s. 104.
HANDGEMAL UND SCHWURBRUDERSCHAFT 341
besonders eifrig um die mehrung des kirchlichen grundhesitzes
und seine arrondierung bemühte, am 14 novemher 935 starb,
er hatte mit seiner gattin zwei söhne : Diotmar (930 'D. filius
Odalberti', Juv. 153. 161; 4D. et filius eius Paldrih', ebda 170;
927 4D. o filio Rihni', ebda 147) und Beruhard (931 'consauguineus
archiepiscopi', ebda 164 f; 931 'Diotmar et Peru hart frater eius',
ebda 165 uö.) — der letztere war schirmvogt der salzburgischen
stiftsgüter im Chiemgau — und drei töchter : Heilrat (verm. mit
dem früh verstorbenen grafen Dietrich zu Tüssling), Alte (verm. mit
dem gaugralen Olachar zu Hohenaschau; nobilis vir 0., verm. mit
Alte, Juv. 162; tochter Rihni, ebda 164) und Susanne (verm. mit
dem grafen Rafolt). aus welchem geschlechte Rihni selbst stammte,
ist nicht bekannt, jedesfalls hatte sie aber eine gleichnamige
Schwester : Rihni monialis (Juv. 160 f, von 938). vor 938 ist
sie gestorben. *
Hieraus folgt, dass Rihni nur dadurch in den besitz der
familiengüter sowie des handgemals gekommen war, dass ihr gatte
durch den nachträglich gewühlten geistlichen stand, durch den er
zu lebzeiten von seiner familie getrennt war, seinen stammbesilz
nicht verwalten konnte, diese aufsergewöhnliche rechtslage legt
freilich einen anderen sinn des wortes lex nahe, nämlich = 'gesetz-
licher anteil', wie er aus den Leges Grimoaldi reg. Langobard.
cap. 5 (MGLeges iv 401 a) erhellt : simililer et si filiae legi-
timae et si filii naturales .... fuerint, habeant legem
suam usw. indessen ist doch die oben gegebene deutung 'lex =»
testamentum' wahrscheinlicher, da sie der Übersetzung hantgimali
eher entspricht, dazu vergleiche man noch die erklärung Augustins
zu ps. 77, 5 (et suscitauit testimonium in lacob et legem posuit in
Israhel) : ila lex et testimonium duo sunt nomina rei unius, was
Notker übernimmt : selbiu diu ea (lex) uuas daz ürchünde (testi-
monium). —
Eine schwierige glosse in einem codex des ehemal. bene-
dictinerklosters SEmmeram zu Regensburg aus dem 12 jh.
(München, cod. latin. 14 628) bringt zu einer stelle im Correclor
des Burchard vWorms (cap. 46 = Burchards Decrete xix 39)
1 MGNecrol. n 14 (nr 35, z. 11), 40 (nr 100, z. 5. 8) und 41 (nr 101,
z. 2) werden im ältesten verbrüderungsbuch von SPeter, 9—10 jh., vier
frauen des namens Rihni verzeichnet.
342 SCHÖNHOFF
ebenfalls unser wort, der betreffende Canon Poeniteut. 1 lautet:
'Rapuisti uxorem tuam et vi sine vohmtate mulieris vel parentum,
in quorum mundiburdio tenebatur, illam adduxisti?' mundiburdio
ist glossiert mit hantgemehele (Ahd. Glossen iv 342, 1 — 2); am
rande steht dann noch : hantgemehele (-hele übergeschrieben) mun-
dicia libertatis. vel liber a Servitute, da rmmdiburdmm, eigent-
lich = tuitio, schütz, vogtei überhaupt, an unserer stelle in der
präcisen bedeutung 'Vormundschaft der eitern' gebraucht ist, kann
der glossator das wort nicht im Zusammenhang des satzes als
hantgemehele aufgefasst haben ; dagegen spricht auch die weit-
läufige anmerkung am rande, die die undeutliche glosse offenbar
erklären soll, mundicia libertatis ist die ungetrübte, unanfecht-
bare freiheit (eig. 'reinheit der freiheit'), wie in der Lex Salica,
2 Variante (ed. Behrend2 s. 166) mundus vom freien in gleicher
bedeutung angewant wird2, der glossator muss aiso mundi-
burdium, das er aufser dem Satzzusammenhang nahm, als schütz
bezw. Schutzurkunde 3 i. e. der freiheit genommen haben, in
diesem sinne freilich scheint mundiburdium in der mittellateinischen
litteratur nicht vorzukommen; wol aber kennt die mittelalterliche
geschichte das mundiburdium als vogtei, gerichtsbarkeit, wie zb. den
Stiftern Salzburg und Passau das mundiburdium, dh. die weltliche
gerichtsbarkeit über ihre Untertanen in Österreich und Steiermark
von Karl dem Dicken und Aruulf (9 jh.) verliehen worden war.
wäre hantgemehele gleich diesem mundiburdium, wofür aber kein
beweis gegeben werden kann, umsoweniger, als die anderen stellen
nicht zu dieser bedeutung stimmen, so könnte hierher vielleicht das
hantgemahele der edlen in der Vorauer Genesis gehören, die
natürlich — im gegensatz zu den gemeinfreien, die nur freien
landbesilz haben — die gerichtsbarkeit ausüben. dass diese
gerichtsbarkeit hier — wie beim anthmallus und mndd. hantgemdl —
hereinspielt, ist wol möglich.
1 FWHWasserschleben Die bufsordnuDgen der abendländ. kirche nebst
einer rechtsgeschichtl. einleitung (Halle 1851) s. 64t.
2 .... si ex paterna genealogia mallatur, adhibeat ex materna
progenie [septem] testes . ... et ex paterna quattuor (und umgekehrt)
[ita ex q]ua parte mundior est, ex ipsa parte plus dabit testes.
3 auch Homeyer (s. 8) stellt mundiburdium mit 'handfeste' gleich,
freilich ohne den Zusammenhang der stelle zu kennen, als beleg führt er
aus iMabillon einen autor des 11 — 12 jh.s an : praecepla vel mundiburdia
magnatum et saecularium potestalum.
HANDGEMAL UND SCHWURBRUDERSCHAFT 343
Während die bislang besprochenen stellen auf bairischem
boden ausschliefslich den vertrag bezw. die vertragsurkunde beim
handgemal betonen, weist der Falkensteiner codex von 1193 bereits
den Übergang zum inhalte des Vertrages, dem gemeinsamen stamm-
besitze, auf. die darslellung dieses wertvollen traditionsbuches
lässt uns einen tieferen blick in das wesen und die bedeutung
des handgemals tun, als es bei den erwähuungen in glossen,
Urkunden und litterarischen Schriftwerken möglich ist; hier setzt
eben der Schreiber beim publicum eine genauere kenntnis voraus,
während graf Siboto vFalkeustein und INeuburg lür die folgezeit
schrieb, also dies rechtsinstitut genauer bezeichnen musste. der
Wortlaut ist folgender (fol. 2a1; Mon. Boica vn 434 ; Drei bair.
traditionsbücher aus dem 12 jh. , festschr. , edd. Hans Petz,
dr Hermann Grauert uud JohMayerhofer, München 1880, s. 3):
De predio libertatis sue notutn sit omnibus, qualiter actum
sit, quomodo illud testimonio optimal coram Ottone palatino situm
apud Giselbach possidendum iure perenni, eo quod senior in
generatione illa videatur. Hnius rei testes sunt : Ruodpreht Wolf
de Pochsberch, Chuono de Megelingin, Pabo de Eringen, Alber de
Brucgeberc1, Sigiboto de Antwrte, Gebehardus comes Hallensis,
Dielricus de Slibingen, Otto de Mösen, Ortolf de Kekingen et alii
nobiles viri shefen scilicet et dinclüte. Acta sunt hec Möringin3.
De cyrografo.
Ne igitur posteros lateat suos cyrographum, quod teutonica
lingua hantgemalehe vocatur, suum videlicet et nepotum suorum
filiorum scilicet sui fratris, ubi situm sit, ut hoc omnibus palam
sit, hie fecit subscribere : cyrographum illud est nobilis viri mansus,
sittus est apud Giselbach in cometia Morsfuorte; et hoc idem
cyrographum obtinent cum eis Hunespergere et Prucchepergere.
Für die Interpretation unseres documentes kommen vor
allem vier stellen in betracht: 1) De cyrografo. Ne igitur pos-
teros lateat suos cyrographum ... — 2) De predio libertatis sue
1 am rande des blatles ist eine offene, flache hand (mit ärmel)
gezeichnet, die nach dem texte hinweist.
2 im codex : Brungeber. — die Verbesserung stammt von FChrHöger
Kleine beitrage zur bestimmung und erklärung der im cod. Falkenst. etc.
vorkommenden personen- und Ortsnamen (progr. Freising, 1882) s. 1
(Brucceberc),
3 etwa um 1180.
344 SCHÖNHOFF
. . . nobilis viri mansus. — 3) sittus est apud Giselbach in cometia
Morsfuorte. — 4) et hoc idem cyrographum oblinent cum eis
[der familie der Falkeosteiner] Hunespergere et Prucchepergere.
die gemeine deutuüg vou 1 und 4, die von Homeyer herstammt
und nach ihm trotz vereinzelten hedenken einiger forscher immer
festgehalten ist, wird sich im verlaufe der Untersuchung als ver-
fehlt herausstellen.
Was ist cyrografum? seiner theorie zu liehe, die das hand-
gemal von der hausmarke ableitete, erklärte es Homeyer für das
handzeichen des grafen vFalkenstein, das an dem nobilis viri
mansus angebracht war und sein eigentumsrecht an diesem kenn-
zeichnete, auch Gengier (Ein hlick auf das rechtsleben Bayerns
usw. s. 8) schreibt : 'marke, am gute angebracht, ist cyrografum',
— obgleich er anderswo (ebda s. 27, note 47) richtig bemerkt :
'der ausdruck cyrographum begegnet übrigens in anderen stellen
des salbuchs in der gewöhnlichen bedeutung von Urkunde', um-
gekehrt stellt AQuitzmann (Oberbayr. arch. 32, 119) diese anderen
erwähnungen des cyrografum der an unserer stelle in der be-
deutung 'hantgemahele' gleich, während Meister (aao. s. 399)
cyrografum (= hantmal)1 für eine falsche Übersetzung von
hatitgemahele hält, die durch die ähnlichkeit der beiden deutschen
worte hervorgerufen sei.
Chirographum (ciro-, cyrografum) wird in allhochdeutschen
glossen widergegeben mit hantkiscrip — edho hantmal2 — (Glossen i
170, 17 — 18; ii 302, 29 : hantgiscrip) und hantfesti (ebda i 773,
7. in 163, 34. 414, 79. iv 307, 1); auch die Murbacher Hymnen
(9 jb.) bringen die gleiche Übersetzung : a chirographo, fona
luzzilemu kascribe (x 3, 4 ed. Sievers 41) 3. eine glosse um 1300
setzt die bedeutung des chirographum weitläufiger auseinander:
cirographum cautio manu debitoris scripta uel cirographum est
scriptum quo confirmatio pacti certa manet. uulgariter hantfesti.
exemplar huius scripti dicitur antigraphum (A Holder Zs. f. d.
wortf. v 6). im hochstift Würzburg wurden die hochstiftischen
zinsbauern (SKiliausleute) in besondere Verzeichnisse, cyrographa,
1 über kantmal vergl. den excurs am ende des capitels.
2 edho hantmal nur im Sangaller codex 9 LI (8 Jh.). der Pariser und
Reichenauer codex haben nur hantcascrip (hentikdcrip).
3 Dieffenbach 123 a; Nov. gloss. 92 b. 93 a aufserdem noch Schuldbrief. —
vergi. Du Cange n 308 b ff.
HANDGEMAL ILND SCiHYURDRUDERSCHAFT 315
eingetragen (Geogler Die verfassungszustäude im bayeriscfaeo
Franken bis zum beginn des 13 jh.s [Erlangen und Lpz. 1894]
s. 78). eine Urkunde biscboi' Embricbos von 1141 bringt folgende
stelle : servicio beati Kyliani marliris mancipati sunt in vetu-
stissimo cyrographo suo . . . (Mon. Roica xxxvn 59. 60). der Falken-
steiner codex endlich kennt das wort in gleicher bedeutuog
'urkunde, handfeste' auf fol. 21 a (Mon. Roica vn 469. Traditions-
bücher s. 24) : Sciant ttniversi scire cupientes, ubi reposita sint
noslra cyrographa de advocatiis nostris conscripta : quod unum
videlicet est apud senatum Pelrum Maderane de advocalia Chimis-
sensis monaslerii conscriptum ; illud autem cyrographum, quod est
de aduocatia monasterii saneli Petri Maderane conscriptum, in
monasterio Chimissensis ad clerkos querendnm est. am reebten
rande findet sich hier, mit der feder gezeichnet, die abbildung
eines länglichen zetteis, mit eingeschriebenem cyrographa und
aufgelegter band. Aventinus gibt als deutsche fassung : Hantuesti
ubir des grauin Siboti vogitaigi : der ist ainu uf santi Petersbergi
von der vogitaigi zi Kiemisse; diu hantveste von der vogitaigi
santi Petirsbergi diu ist zi Kiemisse.
Wenn also auf fol. 21a cyrografum wie überall im mittel-
alterlichen lateiu 'urkunde' bedeutet, so muss es auch an unserer
stelle fol. 2a in diesem sinne gefasst werden und steht nun der
bedeutung nach dem testamentum, lex und mundiburdium gleich,
es ist eine Vertragsurkunde über den besitz des freien gutes und
den rang eines freien bezw. edlen herrn. wenn es dann weiter
lautet : cyrographum illud est nobilis viri mansus, so kann dies
nichts anderes heifsen, als dass der in der Vertragsurkunde
(hantgemahele) charakterisierte besitz eben der edelhof in Geisel-
bach ist — hier zeigt sieh deutlich der bedeutungsübergang vom
schwurvertrag {testamentum) und der darüber aufgesetzten Urkunde
{lex, mundiburdium, cyrographum) zum freien gruudbesitz, stamm-
bezw. sippengut (nobilis viri mansus), den die Urkunde verzeichnet,
und der seinerseits wider die freiheit des besitzers sicherstellt
(predium Über tat is swe).
Graf Sibotos handgemal — um auch den grundbesitz so
zu nennen — befand sich zu Geiselbach in der grafschaft Mors-
fuorte (-fuorte bair. form für -fürte), diese fast unbekannte
grafschaft — Otto v vWittelsbach safs in der grafschaft Morsfuorte
zu gericht (Heigel und Riezler Das herzogtum Rayern zur zei1
346 SCHÖNHOFF
Heinrichs lies Löwen und Ottos i vWittelsbach [München 1867]
s. 296 f) — verlegt man meist in das gebiet der beiden orte
Moosen a. Vils uud Furten a. Isen, östl. von Erding (im Wester-
gau), und identificiert Giselbach mit einem der beiden dörfer
Ober- und Unter-Geiselbach (zwischen Erding und Dorfen a. Isen) K
Die wertvollste aussage des Falkensteiner salbuches, die den
angelpunct dieser Untersuchung darstellt, bedeuten die schluss-
worte des capitels 'De cyrografd : hoc idem cyrographum obtinent
cum eis Hunespergere et Prucchepergere. die forscher giengen von
der Voraussetzung aus, dass das handgemal im besitz 6iner
familie sei, uud schlössen aus dieser — völlig unbewiesenen —
prämisse, dass die beiden genannten familien nebenlinien der
Falkensteiner sein müsten : so Homeyer (s. 19) und Wittich (aao.
s. 38). auch Zöpfl (Heidelberger jahrb. 64, 173) gibt, wenn auch
zweifelnd, zu : 'gemeinsames stammgut mehrerer adeliger familien,
die sonach alle demselben stamme entsprossen zu sein scheinen'.
— die beiden in betracht kommenden familien sind die edlen
herren vllaunsperg2 (bei Laufen, Salzburg) und vBruckberg3 (a. d.
Isar, grafsch. Moosburg), der erste urkundlich erwähnte Hauns-
perger ist Fridericus dellounsperch, 1093 unter den nobiles
zeuge einer tradition des erzbischofs Thiemo vSalzburg an das
kloster Admont (Juvavia 113); zur zeit des codex Falkenstein.
1 Freudensprung Die im i tomus der Meichelbeck. hist. Frisiog. auf-
geführten .... örtlichkeiten, (Freising 1856) s. 20; Gengier Ein blick auf
das rechtsleben Bayerns s. 24 note 11; Höger aao. s. 1.
2 litteratur : Bucelinus Germania topo-chrono-stemmatographica sacra
et profana n (1662) pars 3, p. 153; Zedlers Univ.-lexikon xii 815; Gauhe Adels-
lexikon i 793. 794; Kneschkes Adelslexikon iv 246; vStramberg in Ersch und
Grubers Encyklop., n sect., 3 teil, s. 151; wappen im neuen Siebmacher
vi 1, s. 15 (tafel 12, 13). — alt. quellen : Juvavia s. 113; Tradit.-bücher 3.
18. 28 (Minist.), 39 (dass.), 49 (im cod. tradd. Garz.); Necroll. Germ, n 103.
130. 150. 183; Deutsche Chroniken in 720, 12. — über die herschaft Hauns-
perg : Juvavia s. 427 anm. i.
3 litteratur. a) Bruckberg : Mon. Boica i 365. 399 ; Trad.-bücher 3;
Necroll. Germ, m 203. 209. 212 (Weihenstephan). 303 (SEmmeram). 362 f.
363. 365. 367 (Säldental); Quellen und erörterungen zur bair. geschichte
i 216 f. 217 f. (Trad. d. Stiftes Obermünster in Begensburg). 270 (Berchtesgad.
tradd.); Oberbayr. archiv, bd n tradd. Moosb. 20. 23. 24. 25. 28. 34. 53. 56.
99. 135. 138. 148. 214 (Minist.); vLang Baierns alte Grafschaften s. 39. 149.—
b) Wolf von Bocksberg : Trad.-bücher 3. 34. 35. 37 f. 38 (sämtl. Falkenst.
cod.); Quellen und erörter. i 90 (SEmmeram. tradd.). 270. 340 (Berchtesgad.
tradd.) ; Oberbayr. archiv aao. 14. 20. 24. 25. 34. 56. 148.
HANDGEMAL UND SCI1WURBRUDERSCHAFT 347
blühte Gotescalch de Hunsperch, der unter den nobiles als zeuge
einer tradition des graten Siboto vor 1174 auftritt (fol. 17 a,
Trad.-büclier s. 18). der letzte des freiherrlichen geschlechtes
ist Gotascalcus . . . liber homo, 1211 in einer Urkunde erzbischof
Eberhards n vSalzburg (Juvavia s. 427 anm. i). der 1266 er-
scheinende Heinrich vllaunsperg, mit dem die ununterbrochene
stammreihe beginnt, gehört dem ministerialengeschlechte an, das
mit Witigo de Hunsperch um 1182 zuerst urkundlich bezeugt
ist (codex Falkenstein, fol. 23 r, 33 a = Trad.-bücher 28. 39) l.
1654 wurde die familie in den grafenstand erhoben, erlosch aber
bereits am 9 jan. 1724 in weiblicher linie mit Maria Katharina
gräfin vKönigsfeld, geb. gräfin vllaunsperg, auf deren grabstein
das familienwappen gestürzt eiugemeifselt ist. — die Bruck-
berger sollen mit den Wolf vBocksberg eines Stammes sein 2.
Friedrich vBruckberg (1140 — 1150) und sein bruder Albero (um
1180; verm. mit Ephemia), wie Adelbero Wolf vBocksberg (1133 —
1140; verm. mit Mechlildis) und sein bruder Ruprecht scheinen
die ältesten beider familien zu sein, deren namen uns in Urkunden
überliefert sind, bis in das 14 und 15 jh. hinein treten uns
mitglieder der familie vBruckberg in nekrologen bairischer klöster
entgegen. — aus diesen kurzen bemerkungen geht klar und
deutlich hervor, dass die grafen vFalkenstein und Neuburg3, die
zuerst im 11 jh. mit namen genannt werden, unmöglich eines
Stammes mit den freiherru vllaunsperg und vBruckberg sein
können : ihre Stammsitze in drei verschiedenen gauen, verschiedene
wappen und verschiedene personennamen sprechen gegen eine
solche annähme. — wenn nun aber die drei geschlechter, die
an dem handgemal zu Geiselbach teil hatten, in keinerlei verwaut-
schaft zu einander stehn, so muss daraus die notwendige folgerung
gezogen werden, dass das handgemal, wie schon oben aus der
anwendung des wortes im Heliand geschlossen wurde, nicht im
besitz einer familie ist, sondern das gemeinsame, urkundlich be-
1 vStramberg aao. machte zuerst auf diese tatsache aufmerksam.
2 vgl. Quellen und erörterungen i 216 , note 2 (1856) und Höger aao.
s. 1 (1882).
3 Genealogia Comitum de Neuburg et Falkenstein (Tegernsee 18U2).
widerholt bei Petz. — manche gelehrte setzen unser grafengeschlecht mit
den grafen vAndechs und Diessen in verwantschaft, was nicht wahrschein-
lich ist.
348 SCHÖNHOFF
siegelte Vorrecht mehrerer edler lamilien darstellt, die verschiedenen
sippeu angehören, sich aber in einem schwurvertrage zu be-
stimmten zwecken — wobei der gemeinsame besitz eine wichtige
rolle spielte — vereinigt haben, die definition entspricht ebenso
wie die Übersetzung 'teslamentum — lex' vollkommen der etymo-
logischen bedeulung des wortes hantgemahele.
Die aus dem codex Falkenstein, ermittelte ursprüngliche form
des handgemals führt uns durch den langobardischen anthmallus
des 9jh.s und eine stelle im Langobardischen gesetzbuch des 7 jh.s
auf eine ausschliefslich germanische sitte, die neben dem natür-
lichen sippenverbande noch einen eidlichen treuverband von
männern verschiedener sippen kannte, die bundes- oder schwur-
bruderschaft. auf nordischem boden reich entwickelt (föstbrüpralag)
und bei den Angelsachsen wenigstens bekannt, war sie bislang
bei den übrigen germanischen stammen nur für die Langobarden
dem namen nach bezeugt, also für das volk, das nach dem
zeugnis der extravaganten von Ivrea noch im 9 jh. die letzten
reste des handgemals kannte, die leges Rothari regis cap. 362
(MGLeges iv 389 b) haben uns die benennung der durch
Schwurbruderschaft verbundenen männer erhalten : Si aliquis
de . . . sacramentalibus mortnus fuerit, potestatem habeat ille qni
pulsat, in loco mortui similem twminare de proximis legitimus,
aut de naturalibus, aut de gamalis i. e. confabulatis. fabula ist
pactum, cotwentio; confabulati sind zb. die, qui ex fabula seu
foedere nuptiali orti sunt (Du Cange n 493c und m 387 a). der
name gamahalos l für 'schwurbrüder' entspricht dem namen für
den zwischen ihnen eidlich geschlossenen treu- und schutzvertrag,
hantgimahili, der den gemeinsamen besitz der vertragsgenossen
sicherte, über die Schwurbruderschaft im einzelnen vgl. cap. 4.
Durch diese Verknüpfung der germanischen schwurbruder-
schaft mit den laugobardischen gamahalos und den bislang be-
sprochenen bairischen stellen ist die definition des Falkensteinschen
1 zu gamahalos vgl. Brückner Sprache d. Langobarden § 10, QF. 75,4t
und Wörterb. s. v. ga?nahal. die hs.lichen formen gamaalos und gamalos
mögen zt. aus der Vulgärlatein. Orthographie stammen, die ein h regellos
setzte, zt. auch spätere langobard. Sprachentwicklung sein. Brückner aao.
§ 82, s. 160 ff; Diez Roman, gr. i 275 f.
IIANDGEMAL UND SCHWURBRUDERSCHAFT 349
handgemals gegeben als : 'das zwei oder mehr durch schwur-
bruderscbaft vereinigten edlen gescblechlern gemeinsame eigen
von der mindestgröfse einer hufe1, dessen Verwaltung dem jeweilig
ältesten jedes geschlechtes, bezw. eines bevorzugten geschlechles
unter den vertragsgenossen, auf lebenszeit obligt, und dessen
urkundlich fixiertes eigentumsrecht den beteiligten familien die
volle herrenmäfsige Freiheit sichert'. —
Das gleiche schwanken zwischen Urkunde und urkundlich
garantiertem besitz bezw. freiheit wie der codex Falkenstein,
zeigt auch die stelle in der Vorauer Genesis2 (JDiemer Deutsche
gedichte des 11 und 12 jh.s [Wien 1849] s. 15,3), wo von den
söhnen Noes als den ahnherrn der drei stände (edle, freie und
ministerialen) gesprochen wird :
daz sin deu dreu geslahte,
den gestellt mit durnahte:
einez daz ist edele,
di hont daz hantgemahele;
di andere frige lüte
di tragent sich mit gute;
di driten daz sint dinestman,
also ich uirnomen han,
darunder tourden chnehte.
Die Verwendung des bestimmten arlikels (di haut daz hant-
gemahele) beweist, dass der Verfasser nicht an das einzelne gut
dachte, sondern an das gesamte institut, an das — für einen
teil Baierns wenigstens — der stand der edlen gebunden war.
die Genesis mag in Kärnten entstanden sein (JGrimm Kl. sehr, v
280; Scherer QF i 60); woher aber der dichter stammte, ist
fraglich, der erste prälat von Vorau, Luitpold (f 1185), war früher
domherr in Salzburg gewesen, und vor seiner berufung in das
neugegrilndete stift dechant in Seckau. sicherlich stammt die
kenntnis des handgemals in unserer Genesis aus bairischen oder
salzburgischen landen.
1 viansus huoba; Ahd. glossen in 117, 43. 212, 46.
2 erhalten in einer Vorauer hs., die unter dem ersten prälaten Luitpold
(1164—1185) geschrieben wurde. — über Vorau vgl. Augustin Rathofer Das
chorherrenstift Vorau in Steiermark, in SebBrunners Chorherrenbuch (Würz-
burg und Wien 1883) s. 638—680.
350 SCHÖNHOFF
B. 'Nobilis viri mansus, curtilis locus, particula
proprietatis'.
Falkensteiner und Vorauer handgemal schillern noch zwischen
der bedeutung des Schwurvertrages und des durch ihn gewähr-
leisteten gemeinbesitzes. dagegen scheinen drei salzburgische
Urkunden aus dem 10 jh. (Juvavia 155. 175. 194), tauschverträge
aus der zeit erzbischof Uodalberts n (923 — 935) und eb. Friedrichs
(963 — 976), nur das sippen- bezw. stammgut zu meinen, wenn
auch wegen der knappen Schilderung kein sicheres urteil gegeben
werden kann, am 27 märz 925 tradiert der edle Gaganhard dem
erzbischöflichen stuhle seinen besitz im Isengau bei Beriesheim,
ldger. Mühldorf : proprietatem suam quam in hnagouue ad Pal-
drichesheim totam quam habere Visus est; nur einen teil seines
gutes nimmt er aus, der auf deutsch 'handgemal' heifst : verum
etiam quod pre?nisit sibi particulam proprietatis quod hanikimahili i
vulgo dicitur. zum ersatz überträgt der erzbischof ihm eine ver-
lassene hufe in aquiloni plaga montis Hegilonis (zwischen dem
Staufen und Salzburg). — zur selben zeit ungefähr überträgt der
edle Uodalhard dem erzbischof in einer undatierten Urkunde
sieben hufen in Ergoldsbach : ad Ergeltespach hobas vn, in recompen-
sationem, et omne videlicet territorium quod ibidem visus est habere,
aufser einer hofstalt im westen, die auf deutsch 'handgemal*
heifst, exceptis in unaquaque parte quam celga vocamus jugeribus
tribus et uno curtili2 loco ad occidentalem partem quod vulgo
hanikimahili vocamus. als ersatz tradiert der erzbischof seine
besilzungen in Weidenbach a. Isen. — endlich erscheint das
handgemal — wenn auch nicht ausdrücklich mit namen genannt
— in einer tauschurkunde aus der zeit erzbischof Friedrichs
vSalzburg (963 — 976), wo der edle Luidolf dem erzbischöflichen
stuhle sein gut in Hüttich (am Wallersee, Salzburg)3 überträgt,
sich aber einen teil zum schütze seiner freiheit vorbehält (tale
praedium quäle habuit in loco, qui dicitur Uticha . . . et dempsit
partem unam pro libertate tuenda). die auffassung des hand-
gemals als schütz der freiheit und die wähl des wortes tueri
decken sich mit der glosse mundiburdium-hantgemehele (mundib.
1 hs. hantkirnahili.
2 curtile houestat; Ahd. glossen in 124, 67. 209, 60. 229, 61. — vgl.
Kleimayrn Juvavia s. 294; Homeyer s. 34 f; Zöpfl Heidelberger jbb. 64, 174,
3 Luschin vEbengreuth aao. s. 79, note 30.
HANDGEMAL UND SCHWURBRUDERSCHAFT 351
= tuitio), sodass die bei der besprechung der glosse versuchte
erkläriiDg noch durch unsere Urkunde bekräftigt wird.
Es ist wol wahrscheinlich, dass auch andere bairische edel-
geschlechter, zb. der weitverzweigte stamm der Scheyern, siel»
eines handgemals rühmen konnten; die bürg Scheyern aber
(mons et castrum Scltyren non ab uno vel duobus prineipibus, seil
a pluribus communis habilabatur MGScriptores xvn 620, 29 IT),
die Heusler (aao.) als handgemal des geschlechtes in anspruch
nehmen will, scheint nicht diesen Charakter gehabt zu haben,
zur zeit der Stiftung von kloster Scheyern (11 19) 1 war das
handgemal in Baiern noch lebendig, und die edelherren jener
tage behalten sich vorsichtig die garantie ihres herrenstandes vor,
wenn sie auch aus ökonomischen gründen andere guter um das
handgemal herum veräufsern. Stammburg ist eben nicht =
'handgemal', sondern bei der freude des mittelalters an Symbolen
genügte das mindestmafs von landbesitz, das ein freier sein eigen
nennen muste, nämlich eine hofstatt und eine hufe landes —
wie die lex Baiwar. xvn 2 2 bestimmt, und auf niederdeutschem
gebiet Ssp. i 34, § 1 3.
Diesem Sprachgebrauch der salzburgischen Urkunden mag
nahekommen die erwähnung des handgemals in Wolfram vEschen-
bachs Parzival 6, 19 (ed. Lachmann):
sie gerten, als ir triwe riet,
rieh und arme, gar diu diet,
einer kranken ernstlicher bete,
daz der künec an Gahmurete
15. bruoderliche triwe vierte
und sich selben erte,
daz er in niht gar verstieze,
unde im sines landes lieze
hantgemcelde, daz man möhte sehen
20. da von der herre müese jehen
sins namen und siner vriheit.
1 F. H. graf Hundt Kloster Scheyern, seine ältesten aufzeichnungeu
und seine besitzungen (München 1862); Gengier Beiträge z. rechtsgeschichte
Bayerns i 135—139.
2 Der eideshelfer debet habere 6 solidorum peeunia et similem agrum
(MGLeges m 426, 40 f).
3 [Der freie mann] behalde ene halve hove unde ene word, dar man enen
■wagen uppe wenden möge; dar af sal he deine richtere sines rechten pleg